Tun wir zu wenig – oder zu viel?
In den US-Medien nimmt der Ukraine-Krieg erstaunlich viel Raum ein. Die Debatte kreist um die Frage, wie viel Macht Amerika in einer Welt, die sich neu sortiert, noch ausüben kann – und will.
Über den russischen Überfall auf die Ukraine ist im gesamten Westen in ähnlichen Mustern berichtet worden. Doch nirgendwo durchzogen die Narrative von Held und Bösewicht, von David und Goliath die Berichterstattung so deutlich wie in den USA. Kein Wunder, schließlich hat man in Amerika die Geschichte des Underdogs schon immer ein bisschen faszinierender gefunden als anderswo.
In diesem Sinne konnten auch Formate wie die TV-Abendnachrichten der großen Sender ABC, CBS und NBC, die sonst wenig ins Ausland blicken, den Ukraine-Krieg in ihren Erzählstrukturen abbilden und dafür ausführlich Sendezeit zur Verfügung stellen.
Auch die Kommentierung in den klassischen Print-Leitmedien durchzog in der ersten Kriegsphase eine oft emotionale Teilnahme am Kriegsgeschehen. Sinnbild ist das Urteil der konservativen und stets nüchternen Kolumnistin Peggy Noonan im Wall Street Journal drei Wochen nach Kriegsausbruch: „Niemand wusste, dass das Volk der Ukraine so tapfer und effektiv kämpfen würde. Vielleicht wussten sie es selbst nicht. Vergangene Woche habe ich begriffen, dass sie niemals aufhören werden.“
Hier und da erkannten Kommentatoren Verweise zur eigenen, ja gemeinhin als ebenfalls heldenhaft empfundenen amerikanischen Geschichte. Die Ukraine müsse den Krieg gar nicht gewinnen, schreibt Außenpolitik-Kolumnist David Ignatius in der Washington Post, „wie General George Washington im revolutionären Krieg muss sie nur überleben“.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky – einst Comedian und dann unerschrockener Anführer, der den Bomben auf seine Hauptstadt trotzt – bot, noch stärker als in Deutschland, eine viel diskutierte Identifikationsfigur. In nahezu allen Leitmedien wurde er anfangs mit dem gleichen historischen Vergleich bedacht. „In der folgenschwersten Stunde in Europa seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat ein Komiker die Rolle Winston Churchills eingenommen“, hält der Chefredakteur des linksliberalen New Yorker, David Remnick, fest.
„Churchill unserer Tage“
Ganz ähnlich klang das bei den konservativen Meinungsmachern. Wenn Selensky der Churchill unserer Tage sei, fordert der neokonservative Kolumnist Bret Stephens in der New York Times, müsse Präsident Joe Biden nun eine unterstützende Rolle wie sein Vorgänger im Amt Franklin D. Roosevelt ausfüllen: „Das beginnt damit, der amerikanischen Öffentlichkeit zu erklären, dass ein Verlust der Ukraine ein globales und kein lokales Unglück wäre.“
Worin liegt die Bedeutung der Ukraine für die USA? Wie sehr betrifft Amerika dieser Krieg und wie viel darf man tun, um ihn zu prägen? Diese Fragen dominierten die Debatte in den ersten Wochen der Kämpfe.
Dass ein Sieg des russischen Präsidenten Wladimir Putin weitreichende Folgen für die Weltordnung und Amerikas Ort darin habe, war in den ersten Kriegswochen ein häufiges Thema. Bei Bret Stephens klingt das Szenario wie folgt: Eine Welt nach einem russischen Sieg wäre für Amerika „ein nie endendes Kräftemessen zu einem Zeitpunkt, in dem wir nicht sonderlich stark sind: China würde uns herausfordern – viel früher als wir denken – bei Taiwan“. Auch der Iran würde sich ermächtigt fühlen, und Russland selbst nähme wohl immer neue Ziele ins Visier.
China im Fokus
Der Blick auf China durchzieht ohnehin viele Betrachtungen des Krieges in der Ukraine und der US-Politik. Immerhin wollte die Biden-Administration ihre Politik ganz auf die strategische Konkurrenz zur Volksrepublik ausrichten. Doch dann platzten erst Putins monatelangen Drohgebärden und schließlich der Krieg dazwischen.
Insbesondere unmittelbar vor Kriegsausbruch gab es viele Warnungen, sich durch die Ukraine-Krise nicht von der Herausforderung China ablenken zu lassen. In einer Kritik an Bidens Entscheidung von Anfang Februar, die Zahl der Truppen in Europa zu erhöhen, hieß es im Meinungsteil des Wall Street Journal unter der Überschrift: „Ukraine ist eine Ablenkung von Taiwan.“ Die USA sollten sich weiterhin der NATO-Verteidigung verpflichten, „aber mit den kritischen Ressourcen haushalten für den Hauptkampf in Asien und insbesondere Taiwan“.
Solche Rufe wurden mit der Eskalation in der Ukraine in den Leitmedien zwischenzeitlich leiser, doch der Spagat zwischen der akuten Herausforderung durch Russland und der strategischen durch China bleibt das Metathema in Washington – sowohl für die Handelnden in der Regierung als auch für die professionellen Beobachter. Viel war in der amerikanischen Hauptstadt in den vergangenen Jahren von einem heraufziehenden neuen kalten Krieg die Rede, doch als Gegner hatte man Peking ausgemacht, nicht Moskau.
Eine „chaotische Außenpolitik“ der amerikanischen Regierung sieht der Kolumnist und Historiker Walter Russell Mead im Wall Street Journal: „Nach einem Jahr vergeblicher Mühen, Russland zu parken oder es von China loszueisen, versucht die Administration die gleiche Strategie in umgekehrter Art mit der Hoffnung, China von Russland loszulösen.“ Die Sorge, einem durch westliche Sanktionen isolierten Russland bleibe nichts anderes übrig, als sich einer Allianz mit China anzudienen, durchzieht viele Kommentare.
Hingegen war die in Deutschland zentrale Debatte um die Zukunft der Energiepolitik in den USA zunächst eine Nischendiskussion. In seiner Rede zur Lage der Nation habe Präsident Biden das Thema Klimawandel „unter seinen Bemerkungen zum Krieg vergraben, anstatt es mit ihnen zu verbinden“, klagt Farhad Manjoo in der New York Times. Er sei „verblüfft“, dass Biden und die Demokraten im Kontext des Krieges nun nicht aggressiv für ihre bislang festgefahrenen Klimareformen trommeln würden.
Doch generell erntete Joe Biden in den Leitmedien anfangs mehr Lob als Kritik für seinen Kurs – insbesondere für das ungewöhnliche Veröffentlichen von Geheimdienstinformationen im Vorfeld des Krieges und das Orchestrieren einer geschlossenen Front des Westens. Das alles geschah, ohne die NATO zur aktiven Kriegspartei zu machen.
Gespaltenes Amerika
Der früher übliche Rally-around-the-flag-Effekt, der einem Präsidenten in Kriegszeiten einen Schub an Zustimmung bescherte, fiel zunächst jedoch aus. Zu indirekt war schließlich die amerikanische Beteiligung an diesem Krieg. Zu verbreitet sind parallel die Sorgen wegen der Inflation, die noch etwas stärker als in Deutschland ausfällt. Und zu tief gespalten ist die amerikanische Gesellschaft, längst auch in ihrem Blick auf den amtierenden Präsidenten. Im Teil der rechten Öffentlichkeit, den man als Pro-Trump-Blase bezeichnen kann, dominiert eine gänzlich andere Sicht als in den konservativen Leitmedien, in denen für Biden gelegentliches Lob abfiel.
Nachdem der aus sozialen Medien wie Twitter verbannte Ex-Präsident Donald Trump noch am Vorabend des Krieges Putin wieder einmal als „Genie“ bezeichnet hatte, hielt er sich in den ersten Kriegswochen merklich zurück. Doch ins Zentrum dieser Teilöffentlichkeit ist ohnehin längst der „Fox News“-Moderator Tucker Carlson gerückt. In seiner allabendlichen Sendung wettert Carlson von Anfang an gegen die Ukraine, die keine Demokratie, sondern ein „reiner Satellitenstaat des US-Außenministeriums“ sei. Nach dieser Äußerung vom Februar verbreitet er im März etwa die Verschwörungstheorie, dass Amerika ein Forschungslabor zu Biowaffen in dem Land betreibe.
In dieser Gedankenwelt steht nicht Russland, sondern die „Kriegsmaschinerie“ in Washington hinter der Eskalation in der Ukraine. Zu dieser „war machine“ wird nicht nur Biden gezählt, sondern auch das Establishment der Republikaner. Kein Wunder, dass auch das russische Staatsfernsehen mehrfach Ausschnitte von Carlsons Sendungen zeigte.
Wladimir Putin wird von Tucker Carlson auf der eigenen Seite im immerwährenden Kulturkampf gegen den Mainstream verortet, der sich an Fragen von Identität, gesellschaftlichem Wandel, aber eben auch an Amerikas Rolle in der Welt entzündet. Die Anti-Establishment-Haltung versagt somit auch in Zeiten des Krieges nicht.
GOP-Influencer Tucker Carlson
Carlson, der die erfolgreichste der täglichen Politik-Talkshows moderiert, übt großen Einfluss auf die Kandidaten vom Pro-Trump-Flügel der Partei aus, die zahlreiche Abgeordnete und Senatoren in Vorwahlen zu den „midterm elections“ im November herausfordern. So zeigt sich auch bei der Positionierung zum Ukraine-Krieg, dass die Grand Old Party (GOP) im Grunde längst in zwei Parteien zerfallen ist.
Denn das konservative Establishment seinerseits kritisiert Biden für eine aus seiner Sicht viel zu zögerliche Unterstützung der Ukraine mit dem US-Militär. „Während dieses Konflikts war die Biden-Administration langsam und zögerlich dabei, der Ukraine jene Waffen und Geheimdienstinformationen zu geben, die sie benötigt“, heißt es im Leitartikel des Wall Street Journal nach dem Rückzug der russischen Truppen aus der Umgebung Kiews. „Jetzt ist die Zeit, der Ukraine zu helfen, in die Offensive zu gehen.“ Dazu müssten auch Panzer und Flugzeuge geliefert werden.
Kori Schake, Verteidigungsexpertin vom konservativen American Enterprise Institute, bemängelt, Biden habe die Rolle des Militärs auf die eines Waffenlieferanten geschrumpft. Die Regierung sei „derart abgeneigt, militärische Gewalt einzusetzen, dass sowohl Verbündete als auch Gegner sich fragen werden, ob es irgendetwas gibt, wofür die USA tatsächlich kämpfen werden“ (The Atlantic).
Hier die klassische Außenpolitik der republikanischen Falken, dort ein Anti-Establishment-Isolationismus der Trump-Bewegung. Welche Haltung wird sich bei den Republikanern wohl durchsetzen?
„Aufrichtiges Falkentum“
Der New York Times-Kolumnist Ross Douthat meint, einen Wandel auszumachen: „Die Republikanische Partei, das Hauptvehikel für Populismus, scheint zu ihren Vor-Trump-Instinkten zurückzukehren.“ Er beruft sich auf Umfragen unter Anhängern der Republikaner aus den ersten Kriegswochen und Aussagen der gewählten Vertreter und sieht „größtenteils eine Umkehr zu aufrichtigem Falkentum, zu der Sicht, dass Bidens Weißes Haus wahrscheinlich nicht konfrontativ genug ist – was heißt, hin zu einem Ort, an dem die Partei stand, bevor die Trump-Rebellion stattfand“.
Dass der russische Angriffskrieg jenen Populisten schadet, die zuvor immer wieder ihrer Nähe zu Putin Ausdruck verliehen hatten, ist in den ersten Wochen des Konflikts kaum zu übersehen. Doch ob das wirklich eine antipopulistische Zeitenwende werden kann, darf man bezweifeln. Zumindest sollte der Einfluss einer gut vernetzten rechten Teilöffentlichkeit auf die politische Debatte nicht unterschätzt werden. Denn man hat die Wirkmacht der Carlson-Trump-Blase viele Jahre zur Genüge bestaunen können.
Kriegsmüde USA
Zum anderen bleiben die Vereinigten Staaten erschöpft von den Kriegen, die sie in den vergangenen 20 Jahren geführt haben. Diese Erkenntnis dient auch Präsident Biden als Grundpfeiler für eine zurückhaltende Außenpolitik. Und eine noch stärker isolationistische Haltung, wie sie an den Rändern vorherrscht, dürfte für viele Amerikaner attraktiv bleiben.
So geht es auch in der Debatte um den Ukraine-Krieg wieder einmal vor allem um Amerikas Rolle in der Welt. Unter dem Eindruck der frühen Kriegstage beschreibt die frühere Ukraine- und Russland-Korrespondentin der AP, Mara Bellaby, das Dilemma in emotionalen Sätzen: „Während ich verstehe, warum wir Amerikaner keinen Appetit mehr auf eine weitere auswärtige Verstrickung nach Irak und Afghanistan haben, kann ich nicht anders als zu fühlen, wir ließen die Ukrainer im Stich.“ Weiter schreibt sie in USA Today, es breche ihr das Herz zu sehen, dass „die USA, immer noch die mächtigste Nation in der Welt, die Ukraine auf diesem demokratischen Pfad gefördert haben und nicht eingreifen konnten, um dieses Blutvergießen zu stoppen“. Bellabys Fazit: „Es erschüttert mein eigenes Verständnis von amerikanischer Macht.“
Einen Monat – und damit viele Waffenlieferungen und viele Erfolge der ukrainischen Streitkräfte – später erspürt die Washington Post zumindest im US-Sicherheitsapparat ein neues Selbstbewusstsein. „Führende Pentagon-Vertreter strotzen vor neugewonnenem Vertrauen in Amerikas Macht.“ Auch wenn die Rolle des Militärs begrenzt sei, sehe man den Krieg als „Beleg für Amerikas wirtschaftliche, diplomatische und militärische Stärke“.
Diese beiden Schlaglichter zeigen, dass das amerikanische Bild von der eigenen Macht und von der Rolle in der Welt fluide, ja fragil bleibt. Es wird weiterhin sowohl von den Entwicklungen in der Ukraine beeinflusst werden als auch vom Kräftemessen der heimischen Meinungsmacher.
Fabian Reinbold ist politischer Korrespondent des Nachrichtenportals t-online und schreibt den preisgekrönten transatlantischen Newsletter „Post aus Washington“.
Internationale Politik 3, Mai/Juni 2022, S. 116-119
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