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30. Okt. 2013

Tor zum Osten oder Krisenherd?

Wie das EU-Ukraine-Abkommen den postsowjetischen Raum verändern würde

Ende November soll es endlich so weit sein: Die EU und die Ukraine unterzeichnen in Vilnius ein Assoziierungsabkommen. Doch wie geht es danach weiter? Ohne eine klare Beitrittsperspektive für die Ukraine ist das größte europäische Demokratisierungsprojekt wenig mehr als ein Experiment. Und wie wird die EU auf Moskauer Widerstand reagieren?

Die Ukraine und die EU haben im Sommer 2012 das umfangreichste Assoziierungsabkommen paraphiert, das Brüssel je ausgehandelt hat. Obwohl dieses Vertragswerk keine ausdrückliche Perspektive für eine EU-Mitgliedschaft enthält, hätte seine vollständige Implementierung eine weitgehende Integration der Ukraine in den europäischen Wirtschafts- und Werteraum zur Folge. In der ersten Jahreshälfte 2013 wurden alle technischen Vorbereitungen für die Unterzeichnung sowie die Übersetzung des Abkommens in die EU-Sprachen abgeschlossen; auch wurde der Vertragstext in Kiew veröffentlicht. Das für beide Seiten bedeutsame Abkommen ist nunmehr zur Unterzeichnung bereit.

Seit Jahrhunderten suchen die Ukrainer nach ihrer nationalen Identität sowie internationalen Verortung. Nun stehen sie vor der Entscheidung: Gehört ihr Land zum westlich geprägten Europa oder ist es Teil einer russisch geprägten „eurasischen“ Zivilisation? Mit dieser Schicksalsfrage waren die Ukrainer zwar schon häufig konfrontiert. Neu ist jedoch, dass Kiew heute zwei unterschriftsreife Vertragstexte zur Auswahl vorliegen: eine Assoziierung mit der EU oder der Beitritt zur Zollunion Russlands, Belarus’ und Kasachstans. Eine erfolgreiche Implementierung des EU-Ukraine-Abkommens könnte zu einer späteren ukrainischen Kandidatur für eine Mitgliedschaft in der Union führen. Wird der größte rein europäische Flächenstaat mit seinen rund 45 Millionen Einwohnern demnächst Teil des europäischen Integrationsprozesses oder bleibt das Schicksal der Ukraine als Nation und Staat weiter in der Schwebe?

Für Brüssel wäre die erfolgreiche Ratifizierung und Umsetzung des Mammutvertrags der wichtigste Einzelerfolg in der Geschichte ihrer externen Demokratieförderung. Mit der Annäherung der Ukraine an die EU würde sich nicht nur die Reichweite europäischer Werte und Institutionen um hunderte Kilometer gen Osten ausdehnen. Die Ukraine hat bekanntlich enge Beziehungen zu Russland und Belarus sowie auch eine gemeinsame Geschichte mit den südkaukasischen und zentralasiatischen Ländern des ehemaligen Zaren- und Sowjetreichs. Daher würde eine schrittweise Europäisierung – d.h. allmähliche Durchsetzung von EU-Standards – in der Ukraine weit über die Ostgrenze ausstrahlen. Russland müsste sich mit der Heranführung der Ukraine an die EU endgültig von seinen neoimperialen Träumen verabschieden.

Ein Vorbild für Eurasien?

Zwischen der Ukraine und den anderen UdSSR-Nachfolgestaaten bestehen vielfältige politische, kulturelle und wirtschaftliche Kontakte. Fortschritte der Ukraine in den Bereichen Demokratisierung, Rechtsstaatlichkeit, Liberalisierung, gesellschaftlicher Modernisierung usw. würden vor allem in Russland und Belarus, aber auch im Kaukasus und in Zentralasien wahrgenommen werden – und könnten eine Modellfunktion haben. Die Ukraine hat deshalb nicht nur als solche für die EU eine große Bedeutung. Sie könnte für den Westen insgesamt zum Tor für eine schrittweise Demokratisierung des riesigen, vormals sowjetischen Territoriums im nördlichen Eurasien werden. Sollte aber die ukrainische Annäherung an die EU scheitern, hätte das den Verlust demokratischer Ausstrahlungs­effekte im postsowjetischen Raum zur Folge.

Beunruhigender noch: Die Ukraine ist bislang konsolidierter Nationalstaat; im Gegenteil: in den vergangenen Monaten haben sich zentrifugale Tendenzen verstärkt. Das ohnehin kulturell und geografisch gespaltene Land wird durch – teils hausgemachte, teils von Russland geschürte – Debatten zwischen ukraino- und russophonen Ukrainern über die Rolle der russischen Sprache, die Bewertung der Stalin-Ära oder die Aktivitäten der Organisation Ukrainischer Nationalisten im Zweiten Weltkrieg erschüttert. Die Vision einer künftigen EU-Mitgliedschaft der Ukraine andererseits ist eine der wenigen politischen Ideen, die weitgehenden Konsens im Großteil der ukrainischen Elite erzeugt.

Selbst in den traditionell prorussischen süd- und ostukrainischen Bevölkerungsgruppen wird die Möglichkeit eines EU-Beitritts – im Gegensatz zu einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraine – von vielen mit freundlicher Neutralität aufgenommen. Aus all diesen Gründen hat das Abkommen nicht nur eine europa-, sondern auch geo- und sicherheitspolitische Dimension. Das Scheitern beziehungsweise der Erfolg der europäischen Integration der Ukraine wäre von wesentlicher Bedeutung sowohl für den Westen als auch für Russland.

Die wachsende Nervosität des Kremls zeigt, dass die Moskauer Elite den historischen Charakter der ukrainischen Entscheidung versteht. In den meisten westeuropäischen Hauptstädten hingegen sind die Beziehungen zwischen der EU und der Ukraine weiterhin ein zweit-, wenn nicht drittrangiges Thema. Dementsprechend hinkt die Planung hinter den Herausforderungen des Assoziierungsprozesses her. Zwar steht der kurzfristige Fahrplan: Ende November sollen beim Gipfeltreffen der Östlichen Partnerschaft1 nicht nur das ukrainische Assoziierungsabkommen unterzeichnet, sondern auch ähnliche Verträge mit Georgien, Moldau und womöglich Armenien paraphiert werden. Wie sich Brüssel nach dem Gipfel in Vilnius verhalten soll, um diese Großprojekte zu einem nachhaltigen Erfolg zu machen, bleibt aber bislang unklar.

Immerhin wurde Ende 2012, Anfang 2013 Klarheit über die Bedingungen für die Unterzeichnung des Assoziierungsvertrags mit der Ukraine ­geschaffen und eine Reihe von Voraussetzungen (Nachwahlen, Wahlrechtsänderungen, Justizreformen usw.) formuliert. Das ist ein Fortschritt gegenüber jenen Zeiten, als die EU weitgehend kommentar- und tatenlos der Machtkonzentration von Präsident Viktor Janukowitsch zusah – ja eine dubiose Abordnung des Europäischen Parlaments im Frühjahr 2010 die parlamentarischen Manipulationen des neugewählten Präsidenten gar guthieß. Heute haben sich auch dank des Engagements des tschechischen EU-Kommissars für Erweiterungs- und Nachbarschaftspolitik, Štefan Füle, die Beziehungen zwischen Brüssel und Kiew intensiviert.

Die wichtigste Bedingung, die für die Unterzeichnung des Assoziierungsvertrags erfüllt werden muss, ist die Freilassung der zu Unrecht inhaftierten Oppositionsführerin Julia Tymoschenko. Es gibt Anzeichen, dass dies nun auch von Janukowitsch verstanden wird und die ehemalige Ministerpräsidentin in den kommenden Wochen zur medizinischen Behandlung nach Deutschland ausreisen kann. Wenn dies geschieht und auch einige wichtige Gesetze zur Justiz- und Wahlrechtsreform angenommen werden, dürften die formalen Bedingungen („greifbare Fortschritte“ in den genannten Bereichen) zur Unterzeichnung des Abkommens erfüllt sein.

Nicht ohne Beitrittsoption

Unbestimmt ist jedoch, wie es nach der Unterzeichnung weitergeht. Die EU war bislang weder auf die zu erwartende harsche Reaktion aus Moskau vorbereitet noch hat sie hinreichende Konsequenzen aus dem enormen Umfang der Reformaufgaben in der ukrainischen Staatsmaschinerie und Wirtschaft gezogen. Zwar hat die EU rechtzeitig das Ausmaß der provisorischen Anwendung großer Teile des Abkommens noch vor seiner Ratifizierung durch die EU-Mitgliedsländer geklärt und angekündigt, dass circa 90 Prozent der Freihandelsbestimmungen und etwa 50 Prozent des politischen Teils bereits ab 2014 implementiert werden. Allerdings scheuen sich die Staats- und Regierungschefs der EU, den entscheidenden Schritt zur Sicherung einer zügigen und tiefen Europäisierung der Ukraine zu tun – nämlich ihr eine langfristige und an Bedingungen geknüpfte, aber doch klare Perspektive für eine EU-Mitgliedschaft zu geben.

Ohne eine Beitrittsoption aber bleibt der gesamte Assoziierungsprozess ein unausgereiftes Projekt, wenn nicht riskantes Experiment. Die politikwissenschaftliche Europa-Forschung der vergangenen Jahre hat wiederholt die wichtige, wenn nicht entscheidende Rolle eines an eindeutige Bedingungen geknüpften Aufnahmeversprechens nachgewiesen, um ein postkommunistisches Land effektiv an Europa heranzuführen. Ohne das Druckmittel eines Aufschubs bzw. Entzugs der Beitrittsoption droht der Assoziierungsprozess zu einem Misserfolg der Brüsseler Nachbarschaftspolitik zu werden – mit traurigen Folgen nicht nur für die Ukraine, sondern auch für eine diskreditierte EU.

Es ist nicht nachvollziehbar, warum sich die EU mit einer Aussicht auf Mitgliedschaft so schwer tut: Ein Kandidatenstatus für die Ukraine würde frühestens in zehn Jahren auf die Tagesordnung kommen, und eine Kandidatur führt nicht notwendigerweise zu einer schnellen Aufnahme. Dies zeigt das Beispiel der Türkei, die seit nunmehr 50 Jahren eine Mitgliedschaftsperspektive hat, jedoch womöglich nie beitreten wird. Selbst wenn ein Land, wie im Falle der Türkei oder Serbiens, den Status eines Beitrittskandidaten bekommen hat, behält die EU alle Handlungsoptionen. Sie kann einen Aufschub oder Entzug der Aufnahme mit Hinweis auf die mangelnde Vorbereitung des Landes oder auf die fehlende eigene Bereitschaft zu weiteren Beitritten begründen.

Bis vor kurzem schien die EU ignoriert zu haben, dass sich Moskau gegen eine Integration der Ukraine wehren könnte. Solche Blauäugigkeit gegenüber den außenpolitischen Interessen des Kremls hat Tradition. Die deutsche Sozialdemokratie etwa scheint bis heute nicht verstanden zu haben, dass Russland die kostspieligen Nord- und South-Stream-Pipelines für Erdgas vor allem dazu benötigt, weniger abhängig von der Ukraine zu werden und damit mehr Druckpotenzial gegenüber dem „Brudervolk“ zu haben. Auch in Brüssel erkannte man lange Zeit nicht die Intensität der russischen Begehrlichkeiten gegenüber der Ukraine. Obwohl es zuvor schon eine Reihe ähnlicher Aktionen Moskaus gegeben hatte, war die Europäische Union im August 2013 sichtlich überrascht, als der russische Präsident Wladimir Putin mit einem fünftägigen De-facto-Handelsembargo für alle ukrainischen Importe nach Russland versuchte, Kiew von seinem Europäisierungskurs abzubringen.

Klare Ansage an den Kreml

Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, dass die EU und ihre Mitgliedstaaten – nicht zuletzt Deutschland – Moskau glaubwürdig signalisieren, dass gesamteuropäische Sanktionen folgen würden, wenn es wieder zu russischen Handelsbeschränkungen gegenüber der Ukraine kommen sollte. Zwar könnten europäische Gegenmaßnahmen - gerade für die eng mit Russland verbandelte deutsche Wirtschaft - zu erheblichen Gewinneinbußen führen. Aber die Kosten eines Auseinanderfallens des größten Flächenstaats Europas aufgrund einer russischen Strangulierung der ukrainischen Wirtschaft wären für den deutschen Steuerzahler letztlich höher als eventuelle Verluste aus Berliner Handelsbeschränkungen für Russland.

Wie das Verhalten der russischen Führung gegenüber Georgien im August 2008 zeigte, darf die Konfliktbereitschaft des Kremls zur Durchsetzung seiner Interessen im postsowjetischen Raum nicht unterschätzt werden. Für die Moskauer Machthaber muss deutlich werden, dass ein Embargo gegen die Ukraine zu einem europäischen Handelskrieg gegen Russland führen würde. Die daraus resultierenden Einkommensverluste russischer Unternehmen und Haushalte würden über kurz oder lang zu sozialen Verwerfungen führen, die wiederum mit innenpolitischen Risiken für den Kreml verbunden wären. Nur die Gefahr eines Machtverlusts wird Putin veranlassen, sich anders zu verhalten, als er dies seit Jahren gegenüber Georgien, Moldau und anderen postsowjetischen Republiken tut. Erste Signale aus Brüssel lassen erkennen, dass diese Zusammenhänge zumindest in den EU-Organen erkannt werden. Doch auch in Berlin, Paris, London und Rom müssen derartige Szenarien diskutiert, und auch von dort klare Signale nach Moskau gesandt werden.

Die Europäische Union und ihre Mitgliedsländer werden nicht umhinkommen, sich intensiver mit der Ukraine und ihren innen- wie außenpolitischen Problemen zu beschäftigen. Dafür sind die Risiken und Chancen, welche die künftige Entwicklung des größten europäischen Flächenstaats birgt, zu groß. Deutschland sollte es – schon aus historischen Gründen – nicht an Beherztheit, Prinzipienfestigkeit und Weitsicht in seiner künftigen Ukraine-Politik fehlen lassen.

Andreas Umland, Dr. phil., Ph.D. (Cambridge), ist DAAD-Fachlektor für Europastudien an der Kiewer Mohyla-Akademie und Herausgeber der Reihe „Soviet and Post-Soviet Politics and Society“.

  • 1Neben den EU-Staaten gehören dazu Armenien, Aserbaidschan, Belarus, Georgien, die Republik Moldau und die Ukraine.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2013, S. 108-112

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