Gegen den Strich

01. Juli 2010

Staatsbankrotte

Keine Angst vor Pleiten

Die Regierungen der Eurozone versuchen mit aller Macht und mit milliardenschweren Rettungspaketen, den griechischen Staatsbankrott zu verhindern. Warum eigentlich? Staatsbankrotte sind ein sinnvoller Weg, Volkswirtschaften aus der Überschuldung zu holen. Doch die gegenwärtige Debatte ist von Hysterie und Missverständnissen geprägt.

 

» Staatsbankrotte sind die große Ausnahme «

Stimmt nicht. Die Wirtschaftsgeschichte kennt zahlreiche Beispiele für Staatsbankrotte. Einige Länder haben sich schon häufig für zahlungsunfähig erklärt, andere noch nie. Frankreich etwa erklärte zwischen 1550 und 1800 achtmal den Staatsbankrott, und französische Könige lösten ihr Überschuldungsproblem gerne durch die Enthauptung der wichtigsten Gläubiger. In den letzten zwei Jahrhunderten waren Staatsbankrotte sehr häufig zu beobachten: Zwischen 1820 und 2004 waren 250 Staatsbankrotte von insgesamt 106 Staaten zu verzeichnen.

Nach dem Zahlungsausfall Mexikos im Jahr 1982 folgten 70 weitere Staatsbankrotte, davon 34 in afrikanischen Staaten und 29 in Lateinamerika. In den siebziger Jahren, vor den großen lateinamerikanischen Schuldenkrisen, glaubte man, dass die Zahlungsunfähigkeit von Staaten der Vergangenheit angehöre. Walter Wriston, langjähriger Vorstandsvorsitzender der Citygroup und seinerzeit einer der mächtigsten Bankiers der Welt, stellte damals knapp fest: „Countries don’t go bankrupt.“ Und formal betrachtet hatte er sogar Recht. Staaten bleiben zumindest dann zahlungsfähig, wenn sie nicht in Fremdwährung verschuldet sind, denn in eigener Währung kann die Notenbank frisches Geld bereitstellen. Trotzdem kann ein Staat entscheiden, die Zahlung von Zins und Tilgung einzustellen. Regierungen wägen ab, was politisch und ökonomisch mehr kostet: das Abzahlen der Schulden oder die Erklärung der Zahlungsunfähigkeit. Im Krisenfall sind Staaten also meist nicht zahlungsunfähig, sondern zahlungsunwillig. Regierungen, zumal demokratisch gewählte, muten ihren Bürgern ungern weitere Belastungen zu.

Der russische Staatsbankrott sorgte 1998 für heftige Turbulenzen, obwohl Moskau lediglich auf Rubel lautende Anleihen im Volumen von 40 Milliarden Dollar vorübergehend nicht bediente, während die Fremdwährungsanleihen nahezu vollständig bedient wurden. Auf den russischen Zahlungsausfall folgte eine Reihe weiterer Staatspleiten: Die Regierungen der Ukraine, Pakistans, Ecuadors, Uruguays und natürlich Argentiniens beschlossen, ihre Staatsschulden nicht mehr zu bedienen und erklärten den Staatsbankrott. Griechenland gehört zu den Staaten, die bereits mehrfach ihre Zahlungsunfähigkeit erklärten. In ihrem Standardwerk „This Time is Different“ zeigen Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff, dass Griechenland sich über ein Jahrhundert lang in einem Zustand anhaltenden Zahlungsverzugs befand. Seit der Unabhängigkeit im Jahr 1829 musste Athen bereits viermal einen Staatsbankrott erklären und infolgedessen auch einen teilweisen Souveränitätsverzicht akzeptieren, da der Gläubigerstaat Großbritannien den Griechen die Fiskalpolitik diktierte. Auch Österreich und Spanien haben ihre Schulden häufig nicht im vereinbarten Umfang bedient.

» Finanzmärkte wären ohne Staatsbankrotte stabiler «

Nein, nicht unbedingt. Natürlich gäbe es auf den Finanzmärkten weniger Turbulenzen, wenn sich Staaten nur in geringem Umfang oder gar nicht verschuldeten. Wenn sich Regierungen aber in größerem Umfang verschulden, dann muss es die Möglichkeit des Staatsbankrotts geben. Ein Staatsbankrott und die damit verbundenen Kosten sind der Grund, warum Gläubiger Regierungen überhaupt Kapital zur Verfügung stellen. Anders als bei Unternehmenskrediten gibt es bei souveränen Schuldnern nämlich kein geordnetes Insolvenzverfahren. Regierungen können vor allem von ausländischen Kreditgebern nicht gezwungen werden, ihre Schulden zu bedienen. Regierungen bezahlen ihre Schulden also vor allem deshalb, weil die Kosten des Nichtbezahlens höher sind. Es gibt allerdings immer wieder Situationen, in denen Regierungen den Staatsbankrott der weiteren Bedienung ihrer Schulden vorziehen.

Für Staaten, die in Zahlungsverzug geraten, entstehen zwei Arten von Kosten: erstens die Schwächung ihres Ansehens als Schuldner und die damit verbundenen höheren Kosten bei der Neuverschuldung (Reputational Costs). Und zweitens der Anstieg der Kosten des internationalen Handels bis hin zum Ausschluss vom Weltmarkt, weil die zur Teilnahme am internationalen Warenhandel unerlässlichen Handelskredite von Gläubigern beschlagnahmt werden können. Die Sorge, künftig von den internationalen Finanzmärkten ausgeschlossen zu bleiben, ist das wesentliche Motiv für Staaten, ihre Schulden nach Möglichkeit zu bedienen. Allerdings zeigen empirische Untersuchungen überraschenderweise, dass dieses Risiko gar nicht besonders hoch ist. In den meisten Fällen lassen sich ein bis zwei Jahre nach dem Staatsbankrott kaum noch negative Effekte nachweisen. Gläubiger sind vergesslich.

» Moderne Finanzmärkte schützen vor Staatsbankrotten «

Falsch. In den Finanzmärkten der Vergangenheit war die Anzahl der möglichen Kreditgeber viel geringer als heute. Noch in der Schuldenkrise Lateinamerikas zu Beginn der achtziger Jahre waren die wichtigsten Gläubiger Argentiniens, Brasiliens und Mexikos einige wenige amerikanische Großbanken. Nicht zuletzt die Staatsbankrotte dieser Staaten führten zu einem Wandel der Kreditvergabe: Heute verschulden sich Staaten nicht mehr mit Großkrediten von Banken, sondern nehmen Anleihen auf und haben damit viele Tausend Gläubiger. Man nahm an, dieser Wandel werde dazu führen, dass Staaten ihre Schulden künftig reibungslos bedienen, da die Kosten der Umstrukturierung mit dem Wechsel von Krediten zu Anleihen deutlich stiegen. Ein Irrglaube. Vielmehr stehen Schuldnern alternative Finanzierungsmodelle offen: Staaten können Anleihen auf heimischen Märkten aufnehmen und auf ausländisches Kapital verzichten, sie können Hilfen benachbarter Staaten in Anspruch nehmen (Dubai 2009) oder, wie im Falle Griechenlands, von anderen Staaten neue Kredite bekommen. 

» Das Risiko eines Staatsbankrotts kann durch externe Akteure ausgeschlossen werden «

Nein. Wohl gibt es Staaten, die als sichere Schuldner gelten und noch nie in Zahlungsverzug geraten sind. Das ist allerdings keine Folge von externen Garantien, sondern das Ergebnis einer nachhaltigen, risikominimierenden Fiskalpolitik. Externe Akteure können einen Staatsbankrott nur dann ausschließen, wenn sie für die Folgen der Fiskalpolitik des gefährdeten Landes haften und im Zweifelsfall die Staatschulden übernehmen. Da das weder in Europa noch in den übrigen Weltregionen politisch und ökonomisch sinnvoll erscheint, versuchen die Garantiegeber Auflagen zu verordnen, um die Rückzahlung der Schulden zu sichern. Das ist aber ein denkbar riskanter Vorgang: Externe Akteure schaffen es selten, politische Entscheidungen für einen Krisenstaat zu treffen und gleichzeitig die Verantwortung für den Erfolg von Reformprogrammen den nationalen Akteuren zu überlassen. Anders formuliert: Mit der Verordnung von Auflagen erfolgt die systematische Entmündigung der zu reformierenden Gesellschaft. Das hat, wie die Erfahrungen aus vier Jahrzehnten Entwicklungspolitik zeigen, nur selten zu anhaltendem Erfolg geführt.

» Wenn sich Volkswirtschaften zahlungsunfähig erklären, stürzen sie in eine tiefe ökonomische Krise «

Das ist möglich, aber nicht zwingend. Ob Staaten nach der Bankrotterklärung in eine ökonomische Krise stürzen, hängt davon ab, ob sie die Zahlungsunfähigkeit dazu nutzen, ihren Schuldenstand auf ein vernünftiges Maß zu reduzieren und neue Investitionen zu ermöglichen. Es gibt in der jüngeren Vergangenheit zwei Beispiele für anhaltende wirtschaftliche Aufschwungphasen nach Staatsbankrotten. Russlands Zahlungsunfähigkeit im Jahr 1998 markiert das Endes des wirtschaftlichen Niedergangs und den Beginn einer bis zur Subprime-Finanzkrise andauernden Aufschwungphase. Während die Wirtschaftsleistung Russlands unmittelbar nach dem Staatsbankrott gerade noch derjenigen Belgiens entsprach, ist sie danach rasch angestiegen. 1999 betrug die russische Wirtschaftsleistung laut Weltbank gerade noch 196 Milliarden Dollar, 2008 hingegen 1680 Milliarden Dollar. Seit dem Staatsbankrott hat sich die russische Wirtschaftsleistung also mehr als verachtfacht.

Ebenfalls positiv verlief die Entwicklung Argentiniens, das nach der Erklärung der Zahlungsunfähigkeit in eine Phase hohen Wirtschaftswachstums eintrat. Während die argentinische Wirtschaft in den Jahren von 1998 bis 2002 schrumpfte, stieg die Wirtschaftsleistung nach der Einstellung der Zahlungen an Argentiniens Gläubiger deutlich an. Von 2003 an wuchs die argentinische Wirtschaft mit Jahresraten von neun Prozent, die Wirtschaftsleistung stieg von 102 Milliarden in 2002 auf 328 Milliarden Dollar im Jahr 2008. Allerdings wirkten im Falle Argentiniens zwei wichtige Faktoren. Erstens führte die dramatische Abwertung der argentinischen Währung zu einer deutlich höheren Wettbewerbsfähigkeit argentinischer Unternehmen, und zwar sowohl auf dem Welt- als auch auf dem Binnenmarkt. Zweitens hatten argentinische Kapitalbesitzer in den Jahren des festen Wechselkurses erhebliche Summen aus Argentinien auf Dollarkonten transferiert, die nun nach der Abwertung wieder nach Argentinien zurückflossen. Sowohl in Argentinien als auch in Russland wirkten also zwei vorteilhafte Faktoren: Die Abwertungen sorgten für Wettbewerbsfähigkeit, und die Gläubiger verzichteten teilweise (unfreiwillig) auf ihre Forderungen.

» Staatsbankrotte schwächen den Euro «

Immer wieder ist in der Debatte um die Griechenland-Hilfen das Argument zu hören, ein Staatsbankrott in der Eurozone schwäche den Euro. Warum eigentlich? Diese Annahme basiert vermutlich auf historischen Erfahrungen: Als beispielsweise Argentinien den Zahlungsverzug erklärte, sank daraufhin der Wert des Peso, nicht zuletzt, weil Kapital aus Argentinien abfloss und damit Druck auf den Wechselkurs entstand. In einer Währungsunion ist das völlig anders. Ein einzelner Staatsbankrott, insbesondere einer kleinen Volkswirtschaft, hat keine anhaltenden Auswirkungen auf den Wert der Gemeinschaftswährung. Gefahr für die langfristige Stabilität droht nur dann, wenn die Notenbank beginnt, für die Staatsschulden von Mitgliedstaaten zu haften, wie es im Mai 2010 die europäischen Staats- und Regierungschefs beschlossen.

Staatsbankrotte setzen ein deutliches Signal. Investoren müssen sich an den Kosten der Umschuldung beteiligen. Ein griechischer Staatsbankrott hätte ebensowenig Auswirkungen auf die innere Stabilität des Euro wie der Konkurs eines großen privaten Schuldners. Vermutlich wären auch die Auswirkungen auf den Außenwert des Euro nur von kurzer Dauer. Am stabilsten ist eine Währungsunion dann, wenn es keine fiskalische Union und damit die gegenseitige Haftung für Defizite gibt. Denn diese schwächt das Vertrauen in die gemeinsame Währung  und setzt zudem falsche Anreize für Schuldnerstaaten.

»Bei einem Staatsbankrott verlieren die Gläubiger ihr 


gesamtes Kapital«

Nur teilweise. In der Regel folgt auf einen Zahlungsverzug eine Restrukturierung bzw. Umschuldung der Schulden eines Staates. Im Rahmen der Umschuldung verzichtet üblicherweise der Gläubiger teilweise auf seine Forderungen. In welcher Höhe die Gläubiger verzichten, wird in jedem Einzelfall unterschiedlich ausgehandelt. 1998 mussten in Russland die inländischen Besitzer auf Rubel lautender Staatsanleihen auf 45 Prozent ihrer Forderungen verzichten, ausländische Gläubiger auf 61 Prozent. In der Ukraine erhielten Inländer fast ihre gesamten Forderungen (93 Prozent der ursprünglichen Forderung), während Ausländer nur 44 Prozent ihres Kapitals zurückbekamen. Am dramatischsten wirkte sich in jüngster Zeit der Staatsbankrott Argentiniens aus: Sofern sie 2005 das Umschuldungsangebot der argentinischen Regierung annahmen, mussten ausländische Anleihebesitzer auf 73 Prozent ihrer Forderungen verzichten.

Verglichen mit Investitionen in andere Wertpapiere, etwa Bundesanleihen, sind Anleihen von Staaten mit hohem Risiko möglicherweise dennoch lohnend. Russland musste beispielsweise während der gesamten neunziger Jahre sehr hohe Risikoaufschläge zahlen. Daher war das Russland-Geschäft für ausländische Gläubiger trotz des Forderungsverzichts lohnend, vorausgesetzt, die Investitionen liefen einen ausreichend langen Zeitraum.

»Ein Staatsbankrott ist durch neue Kredite zu verhindern«

Im Gegenteil. Erst die Aussicht auf Zahlungsausfall mit den damit verbundenen negativen Konsequenzen für eine Volkswirtschaft mobilisiert Reformkräfte. Neue Kredite aus dem Ausland, insbesondere staatliche, verzögern immer wieder die Beseitigung bekannter Missstände. Russland ist ein solches Beispiel: Anfang 1999 sagte der frühere russische Finanzminister Boris Fjodorow in der Financial Times, dass ausländisches Kapital lediglich dazu beigetragen habe, inkompetenten Menschen mehr Zeit zum Nichtstun zu geben. Indem man die Regierung mit Kapital ausstatte, löse man kein einziges Problem der russischen Wirtschaft.

Und heute? Im Prinzip passt Fjodorows Einschätzung auch auf die europäischen Krisenstaaten, insbesondere Griechenland. Die Strukturprobleme Griechenlands werden durch neue Kredite nicht beseitigt, und auch die Auflagen des IWF und der EU lösen nicht das Problem mangelnder Wettbewerbsfähigkeit griechischer Unternehmen. Im Gegenteil: Neue Kredite zementieren unter Umständen nichtnachhaltige Strukturen, wie es in den neunziger Jahren in Russland unter Jelzin geschah. Christian Schmidt-Häuer brachte es damals in der ZEIT auf den Punkt: „Warum helfen wir der Mafia? Jelzins Bande ist korrupt. Der Westen wusste es – und schenkte ihr Milliarden.“ Auch in Argentinien verzögerten staatliche Kredite aus dem Ausland lediglich die unvermeidliche Aufgabe des alten Währungsregimes. Argentinien war bei einem Wechselkurs von einem Peso pro Dollar nicht konkurrenzfähig, und erst nachdem das Land die feste Dollarbindung aufgab, begann der wirtschaftliche Aufschwung.

» Griechenland bleibt die letzte Beinahe-Pleite «

Leider nein. Bis zum Ende dieses Jahrzehnts wird die Verschuldung gerade von Industriestaaten dramatisch zunehmen, während Entwicklungs- und Schwellenländer nicht zuletzt aufgrund ihrer guten Wachstumsprognosen und vorteilhaften demografischen Entwicklungen geringere Schwierigkeiten mit ihren Staatshaushalten haben werden. Die Deutsche Bank rechnet in einer im März 2010 veröffentlichten Prognose mit einem Anstieg der Staatsverschuldung von Industrieländern von 76 Prozent der Wirtschaftsleistung im Jahr 2007 auf 133 Prozent im Jahr 2020, während Entwicklungsländer die durchschnittliche Staatsverschuldung von 42 Prozent (2007) auf 35 Prozent (2020) reduzieren werden. Nicht nur die Rettungsaktionen für die Finanzindustrie, sondern auch die zunehmenden demografischen Lasten machen den Industrieländern zu schaffen. Eines ist vor diesem Hintergrund klar: Griechenland war nicht die Ausnahme, sondern der Auftakt eines Trends. Die künftigen Krisenkandidaten liegen nicht in Lateinamerika, sondern in Amerika und Europa.

Während man bislang vor allem über die mögliche Zahlungsunfähigkeit Griechenlands spricht, werden im Laufe dieses Jahrzehnts große Volkswirtschaften wie das Vereinigte Königreich, die USA und Japan an den Rand der Zahlungsunfähigkeit geraten. Schon zu Beginn der jetzigen Krise bezeichneten Spötter London nur noch als Reykjavik-on-Thames. Das einstige Wirtschaftswunderland Japan wird schon in wenigen Jahren mit Verschuldungsniveaus zu kämpfen haben, die für Industriestaaten in Friedenszeiten absolut ungewöhnlich sind. Kurz: Zahlungsunfähige Industriestaaten werden uns künftig häufiger begegnen.

Dr. HERIBERT DIETER arbeitet in der Forschungsgruppe Globale Fragen der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2010, S. 62 - 67

Teilen

Mehr von den Autoren