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01. Mai 2021

Soft Power und harte 
Fakten

Der chinesische Parteistaat nutzt konsequent und berechnend die Offenheit und die Toleranz in liberalen Gesellschaften aus. Doch letztlich ist die Volks-republik darin nur so erfolgreich, wie wir es ihr erlauben.

Im Juni 2020 veröffentlicht der Hamburger Carlsen Verlag ein Kinderbuch über die Corona-Pandemie. „Das Virus kommt aus China und hat sich von dort aus auf der ganzen Welt ausgebreitet“, sagt darin der Grundschüler Moritz. Nach Protesten aus China und Deutschland entschuldigt sich der Verlag, stoppt die Auslieferung, vernichtet alle Exemplare und kündigt an, den Inhalt zu korrigieren.

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Was war geschehen? Die Antwort darauf entfaltet sich auf drei Ebenen. Sie liefert das beste aktuelle Beispiel dafür, wie China eine Gesellschaft der liberalen Demokratien herausfordert.



Ebene 1: Druck von chinesischen Institutionen – in diesem Fall dem Generalkonsulat. In einer Stellungnahme von Anfang März 2021 bezeichnet die chinesische Vertretung die „unangebrachte Darstellung“ im Kinderbuch als „Sicherheitsrisiko“ und beschwert sich beim Verlag. Bemerkenswerterweise findet sich der Text nur auf Chinesisch auf der Webseite des Konsulats, aber nicht auf Deutsch.



Womit wir bei Ebene 2 sind: Protest von Seiten der „chinesischen Bevölkerung“ – chinesische Stimmen ohne Namen, zitiert von der parteistaatlichen Zeitung Global Times. Auf Amazon finden sich dann plötzlich über drei Dutzend Ein-Stern-Bewertungen, die das Buch als „rassistisch“ bezeichnen und oftmals – bewusst? – chinesische Autorennamen tragen.

Aber Empörung kommt auch von deutscher Seite, die Ebene 3: Solidarität zunächst via Twitter. Natürlich ist es wichtig, dass Beobachterinnen und Beobachter wie Marius Meinhof, Soziologe aus Bielefeld, und Liya Yu, Politikwissenschaftlerin in Berlin, Rassismus anprangern, ob gegen Asiaten allgemein oder gegenüber Chinesen im Speziellen. Den gibt es ohne Frage und der muss verurteilt werden. Doch solche Bezüge auf einen einzelnen (inhaltlich ja unstrittigen) Satz aus einem Kinderbuch kann der chinesische Parteistaat dann wiederum für seine eigene Darstellung missbrauchen.  

 

Mangel an Rückgrat

Die größte Herausforderung, vor die uns der chinesische Staat stellt, sind wir selbst. Ein immer totalitärer werdendes Regime, mit dessen berechenbarer Kaltblütigkeit sich liberale Demokratien ebenso schwertun wie mit teils berechtigter Kritik in der Sache und smarter Zielstrebigkeit.



Es fällt uns schwer, dem offiziellen China etwas entgegenzusetzen, ohne in die oft selbst gestellte Doppelfalle zu tappen: hier der angebliche Verrat unserer Prinzipien der Offenheit, da eine suggerierte mangelnde Toleranz und moralische Hybris. Aggressive Drohgebärden von chinesischen Diplomaten? Da es uns oft an Gelassenheit und Standfestigkeit mangelt, geben wir lieber nach. Vorwürfe von Seiten chinesischer Bürger? Da wir diese oftmals nicht gut genug kennen und nicht genauer hinschauen wollen, nehmen wir an, dass sie die einzigen Vertreter der chinesischen Bevölkerung sind und werden still. Entrüstung aus den eigenen Reihen? Da wir Selbstkritik als hohes Gut hochhalten und den Vorwurf des Rassismus fürchten, vergessen wir das sachliche Nachfragen.



Damit kein Missverständnis aufkommt: Chinas wachsender Einfluss ist nicht nur ein Produkt unserer Psyche. Aber wir reden die Volksrepublik oft stärker als sie ist. Beispiel Wirtschaft: Als zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt hat China in seinen wirtschaftlichen Beziehungen mit Europa und Deutschland ein erhebliches Gewicht. 2020 war das Land sogar der wichtigste Handelspartner der EU, und Covid-19 hat die strategische Abhängigkeit u.a. bei pharmazeutischen Wirkstoffen und medizinischen Massenprodukten deutlich zutage treten lassen.



Allerdings ist die Volksrepublik in Bezug auf spezialisierte Maschinen und Maschinenteile ihrerseits strategisch auf Europa angewiesen – eine Abhängigkeit, die sich technisch sehr viel schwieriger abbauen lässt. Auch bleiben für viele europäische Firmen Europa selbst und die USA die wichtigsten Märkte.



Die mit Chinas gestiegenem Einfluss einhergehenden Herausforderungen für Europa und Deutschland beruhen zu einem wesentlichen Teil auf unseren eigenen Schwächen. Die Bekämpfung von Covid-19 illustriert das deutlich. Chinas digitale Lösungen bei der Nachverfolgung und der Prävention von neuen Fällen sind teilweise beeindruckend und sicherlich auch studierenswert. Aber dann sollten wir auch die Stimmen in der Volksrepublik, die über Fehleranfälligkeit der QR-Codes und mangelnden Datenschutz klagen, ernst nehmen und ihnen zuhören.



Die fast ehrfurchtsvoll zitierte „Impf-Diplomatie“ Chinas verkennt, dass der chinesische Impfstoff in Ländern Lateinamerikas und Afrikas gravierende Nebenwirkungen bis hin zu Todesfällen verursacht hat. Chinesische Testkits haben sich in europäischen Ländern immer wieder als defekt herausgestellt. Und dass Peking der WHO erst über ein Jahr nach Ausbruch des Virus streng kontrollierten Zugang zu chinesischen Ärzten, Wissenschaftlern und Daten eingeräumt hat, ist nicht unbedingt Zeichen einer selbstbewussten Nation.

 

Chinas Minderwertigkeitskomplex

Hierin liegt ein Schlüssel in der Analyse des chinesischen Gebarens – das immer selbstbewusstere, gar aggressive Auftreten des chinesischen Parteistaats ist nicht nur aus einem Gefühl der Stärke entstanden.



Empfindliche militärische Niederlagen gegen Europäer und Japaner seit Mitte des 19. Jahrhunderts haben der chinesischen Regierung immer wieder die eigene Schwäche vor Augen geführt. Der „Sieg“ gegen die japanische Invasionsmacht 1945 war das Ergebnis eines Eingriffs von außen – dem Atombombenabwurf der USA auf Japan. Danach verhinderten politische Fehlentscheidungen unter der Mao-Herrschaft einen Wirtschaftsaufschwung.



Die beachtliche ökonomische Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte kollidiert bis heute mit einem soziokulturellen Minderwertigkeitskomplex. Vertrauen ins eigene System muss von Chinas Führung mit Hilfe von Top-down-Initiativen geschaffen werden, etwa der großen „Selbstbewusstseinskampagne“ 2017. Bei der Suche nach Gründen für die eigene Schwäche schiebt Peking gerne ausländischen Mächten einen Großteil der Verantwortung zu.



Kurz nach der Machtübernahme des amtierenden Partei- und Staatschefs Xi Jinping herrschte innerhalb der Führungsriege die Sorge vor einer „Infiltration durch ausländische Kräfte“ oder einer „friedlichen Farbenrevolution“ wie in Ägypten oder der Ukraine. Deshalb wandte sich Peking in seinem Feldzug gegen „westliche Werte“ zunächst nach innen: Die Parteiführung tabuisierte 2013 Debatten um Meinungsfreiheit und Demokratie. Dann traten größere Krisen liberaler Demokratien zutage, darunter die Finanzkrise in der EU, die Flüchtlingskrise und sich verstärkende populistische Strömungen in nicht wenigen europäischen Ländern.



Die Volksrepublik witterte ihre Chance und umwarb insbesondere östliche EU-Länder mit Investitionen – ohne die hohen Anforderungen von europäischen Krediten – und mit politischer und moralischer Unterstützung. Peking sprach nahezu zeitgleich von einem systemischen Wettbewerb (und der Überlegenheit des eigenen Systems), als sich auch innerhalb der innereuropäischen Debatte und in EU-Strategiepapieren die Formulierung „systemischer Rivale“ immer öfter wiederfand.

Mit dieser neuen Zieldefinition fasst Peking die eigene Bevölkerung im Ausland neu ins Visier. Die chinesische Einheitsfrontabteilung definierte „Studierende und Wissenschaftler im Ausland“ als neue wichtige strategische Gruppe, die es auf Parteilinie zu bringen gelte.



Auch die allerorten gegründeten Konfuzius-Institute dienen als Wegbereiter der chinesischen Einheitsfrontarbeit, wie es in einer Verlautbarung von 2018 heißt. Zwar bieten sie mehrheitlich „harmlose“ kulturelle Veranstaltungen und Sprachkurse an, aber vielfach geschieht dies im Kontext von politischen Kampagnen der Partei, seien es die Seidenstraßen-Initiative, der staatlich geträumte „China-Traum“ oder die „Schicksalsgemeinschaft der Menschheit“.



Gelegentlich finden wissenschaftliche Veranstaltungen statt, auch zu Themen, die aus Sicht des offiziellen China „kritisch“ sind, wie Hongkong oder Medienzensur; insgesamt agieren die Institute aber eindeutig im Teil des Diskursspektrums, der offiziellen Narrativen aus China eher wohlgesonnen ist. Hinzu kommen laut offiziellen chinesischen Dokumenten Berichtspflicht und Weisungsgebundenheit chinesischer Ko-Direktoren und Sprachlehrkräfte gegenüber den Auslandsvertretungen der Volksrepublik China.



Seit 2020 ist die neue Trägerschaft der Institute die – angeblich regierungsunabhängige – „Chinese International Education Foundation“. Das soll suggerieren, dass die Institute getrennt von politischen Strukturen arbeiten. Doch davon kann keine Rede sein, besteht die Leitung der neuen Stiftung doch fast ausschließlich aus hohen Parteifunktionären. Hiesigen Standards von meinungspluralistischer Forschung und Lehre entsprechen die Konfuzius-Institute nicht. Ein nicht beherrschbares Reputationsrisiko und eine unlösbare Aufsichtsaufgabe für betroffene Universitäten. Eine klare Trennung von wissenschaftlichen Einrichtungen und Konfuzius-Instituten wäre anzuraten.

 

Im Visier der chinesischen Propaganda

Rufschädigung und Abhängigkeit sind nur zwei der Gefahren, die Deutschland und Europa drohen, sollten sie nicht bereit sein, die Ambitionen des offiziellen China klarer zu erkennen und ihnen, wenn nötig, entgegenzutreten. Eine weitere ist die Gefährdung der persönlichen Sicherheit. Mit Adrian Zenz ist kürzlich ein deutscher Forscher ins Visier der chinesischen Propaganda und Drohgebärden geraten. Zenz hatte chinesische Dokumente von lokalen Behörden ausgewertet und damit die systematische Kampagne Pekings zur Unterdrückung der muslimischen Minderheit der Uiguren aufgedeckt.



Und Deutschland wird sich möglicherweise auf weitere Attacken gegen Personen einstellen müssen: Erstmals entsendet die Bundesrepublik eine Fregatte durch das Südchinesische Meer, wo China mit seinen Nachbarn um manches Territorium ringt. Berlin beteiligt sich auf Einladung von Japan an dieser „Freedom of Navigation“ genannten Übung, wie es auch Frankreich und die USA zuvor taten. Das wird auch für Berlin die Spannungen mit Peking noch erhöhen.



Das ist unvermeidbar. Denn Spannungen mit einer rücksichtslos agierenden chinesischen Regierung um fast jeden Preis zu vermeiden oder abzubauen, sollte und kann nicht die oberste Priorität liberaler Demokratien sein. Das klingt banal, ist es aber nicht. Es würde einen grundlegenden Wandel unserer Haltung gegenüber dem immer totalitärer agierenden Regime unter Xi Jinping bedeuten. Man könnte fast den Eindruck haben, es widerspräche dem, wofür wir stehen wollen – Kooperationsbereitschaft und Völkerverständigung.



Es würde heißen, das Mantra „Wir müssen doch mit China kooperieren“ aufzugeben und gemeinsame Projekte mit chinesischen Institutionen hart mit unseren Interessen und Werten abzugleichen – und das der chinesischen Seite auch klar zu machen. Nur wenn wir bereit sind, mit dem offiziellen China auch einmal zu brechen, können wir chinesische Kräfte und Dynamiken unterstützen, die wirklich zu einer transparenten Kooperation und aufgeklärten Verständigung zwischen Bürgerinnen und Bürgern bereit sind.



Denn auch in der Volksrepublik sind längst nicht alle mit den Entwicklungen unter Xi Jinping einverstanden. Ein aktuelles Beispiel ist Jia Qingguo, ein Politikwissenschaftler, der Mitte März im Rahmen der politischen Konsultativkonferenz die wachsende Gängelung chinesischer Wissenschaftler im Umgang mit dem Ausland rügte und für Lockerungen warb. Jia Qingguo ist einer von nicht wenigen: Chinesische Kollegen und Freunde schauen oft sehr viel kritischer auf ihre Regierung, als die chinesische Führung uns glauben machen will. Diesen kritischen Blick sollten wir wahrnehmen und aufnehmen. Nicht nur für uns, sondern für alle Chinesinnen und Chinesen, die nicht aufhören, an ein anderes China jenseits von Xi Jinping zu glauben und sich dafür einzusetzen.

 

Prof. Dr. Kristin Shi-Kupfer lehrt Sinologie an der Universität Trier und ist Senior Associate Fellow beim Mercator Institute for China Studies (MERICS).

Prof. Dr. Christian Soffel lehrt ältere chinesische Kulturgeschichte an der Universität Trier.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik Spezial, Mai, 03/2021, S. 13-17

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