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01. Nov. 2015

So nah, so fern

Die Franzosen bezweifeln, noch mehr Einwanderer integrieren zu können

Präsident Hollande wird heftig dafür kritisiert, dass er sein Land nicht vor der unbesonnenen deutschen Flüchtlingspolitik schütze. Warum weigert sich Frankreich, mehr Asylsuchende aufzunehmen? Liegt es am -starken Einfluss des Front National? An der schlechten wirtschaft-lichen Lage? Oder an den Problemen mit der muslimischen Vorstadtjugend?

Schon die Wortwahl legt Unterschiede zwischen Frankreich und Deutschland nahe. In Frankreich werden die Flüchtlinge „refugiés“, also „Schutzsuchende“, genannt. Während in der deutschen Sprache Flucht und Vertreibung im Vordergrund stehen, betont der französische Begriff die Suche der Ankommenden nach einer sicheren Bleibe. Die Semantik scheint auch das gesamtgesellschaftliche Verständnis der aktuellen Flüchtlingskrise in Frankreich zu bestimmen. Der Schwerpunkt der Debatte liegt nicht bei Überlegungen zum Leid und Schicksal der Fliehenden, sondern bei der Frage, wie und ob ihnen Schutz geboten werden kann.

Präsident François Hollande hat eindringlich daran erinnert, dass das Asylrecht eine urfranzösische Angelegenheit sei. Bei seiner halbjährlichen Pressekonferenz am 7. September im Elysée-Palast sagte er: „Das Asylrecht ist Teil unserer Seele.“ Frankreich könne auf eine lange Tradition der Aufnahme vertriebener und verfolgter Menschen zurückblicken. Der sozialistische Präsident erwähnte die Armenier, die nach dem Völkermord in ihrer Heimat Zuflucht in Frankreich fanden, im Spanischen Bürgerkrieg die Vorkämpfer der Republik, die mit offenen Armen aufgenommen wurden, wenig später die verfemten Intellektuellen und Künstler, die Hitler-Deutschland verlassen mussten, schließlich die verfolgten Juden, die in Frankreich (oftmals nur vorübergehend) Zuflucht fanden. 

Die Erinnerung an diese gerade von der Linken gepflegte Tradition hindert die regierenden Sozialisten jedoch nicht daran, eine res-triktive Auslegung des Asylrechts zu bevorzugen. Mehr denn je berufen sich die Sozialisten auf ihren früheren Premierminister Michel Rocard, der am 6. Juni 1989 in der Nationalversammlung vor einer Banalisierung des Asylrechts gewarnt hatte. „Es gibt in der Welt zu viele Dramen, Armut und Hungersnöte, als dass Europa und Frankreich all jene aufnehmen könnten, die aufgrund ihres Elends zu uns strömen“, so Rocard damals. Der ihm zugeschriebene Spruch, „wir können nicht alles Elend der Welt aufnehmen“, ist inzwischen zum politischen Allgemeinplatz geworden. Rocard mahnte in der erwähnten Rede an, „diesem ständigen Druck der Flüchtlinge standzuhalten“. 

Interessant ist, dass Rocard diese Rede unter dem Eindruck des Wahlsiegs des Front National in der Stadt Dreux nordwestlich von Paris hielt. Die damals noch von Jean-Marie Le Pen geführte Partei, die Ängste vor Überfremdung und unkontrollierter Einwanderung schürt, hatte die Sozialisten zu einer Abkehr von ihrer Politik der großzügigen Anerkennung von Asylbewerbern motiviert. 1979 hatten noch Jean-Paul Sartre und Raymond Aron gemeinsam an die Franzosen appelliert, den „boat people“ zu helfen. Frankreich nahm damals in einem Akt der Solidarität 120 000 Vietnamesen auf.
 

Der Einfluss des Front National

Die heutige Asyl- und Flüchtlingspolitik steht jedoch unter dem Einfluss des Front National. Die Ideen der rechtsextremen Partei sind inzwischen stark verwurzelt und bestimmen auch das Denken weiter Teile der Wähler der gemäßigten, bürgerlichen Rechten. Fremde, ob Kriegsflüchtlinge oder Wirtschaftsmigranten, werden unterschiedslos als Last und Bürde empfunden. Die andauernde Wirtschaftskrise mit hoher Arbeits-losigkeit trägt ebenso zu dieser abwehrenden Haltung bei wie die jüngsten Terroranschläge. Letztere haben Vorbehalte gegen Menschen aus dem islamischen Kulturraum verstärkt. Nur so wird verständlich, dass auch „gemäßigte“ konservative Bürgermeister die Aufnahme von Flüchtlingen auf Christen beschränken wollen. Ein Bürgermeister äußerte explizit, dass man bei den Christen nicht befürchten müsse, dass diese ihren Arbeitgeber enthaupten (wie in Saint-Quentin-Fallavier bei Lyon) oder Journalisten und Karikaturisten (wie in der Redaktion von Charlie Hebdo) erschießen würden.

Der Front National hat maßgeblich dazu beigetragen, dass die Unterscheidung zwischen Flüchtlingen, die aufgrund ihrer Herkunft aus Kriegsgebieten etwa in Syrien oder im Irak einen Asylrechtsanspruch genießen, und anderen Migranten in der öffentlichen Debatte in Frankreich so gut wie aufgehoben wurde. 

Auch die Regierung hat große Schwierigkeiten, eine sachliche Diskussion über das Asylrecht anzu-stoßen. Das wurde zuletzt im Juli deutlich, als die Nationalversammlung über die Asylrechtsreform debattierte. Noch vor der Zuspitzung der Flüchtlingskrise war ein sachlicher Austausch im Parlament zum Thema Flüchtlinge nicht möglich. Frankreich hatte das Asylrecht zuletzt am 10. Dezember 2003 reformiert. Als Innenminister beklagte Manuel Valls, ein Ziehsohn Rocards, die französische Asylpolitik stoße an ihre Grenzen. 

Die Zahl der Asylbewerber hat sich in Frankreich zwischen 2006 und 2012 verdoppelt. 2013 wurden laut Innenministerium 65 894 Anträge gestellt. Aufgrund des Andrangs verlängerten sich die Bearbeitungs-zeiten der Anträge auf im Schnitt 20 Monate. Nur ein kleiner Teil der Bewerber erhielt den Status des anerkannten Asylbewerbers. Auch bei der Unterbringung kommt es seit Langem zu erheblichen Engpässen; nur etwa 30 Prozent der Asylsuchenden konnten in für sie vorgesehenen Heimen untergebracht werden. Ein Symbol für die Asylmisere in Frankreich sind die Lager in Calais („Dschungel“ und „neuer Dschungel“), in denen Flüchtlinge unter menschenunwürdigen Bedingungen in Schlamm und Dreck in Zelten und selbstgebauten Hütten hausen.

Mit der Gesetzesnovelle, die am 15. Juli 2015 vom Parlament beschlossen wurde, wird die Bearbeitung der Asylanträge beschleunigt. Künftig darf die Bearbeitung nicht länger als neun Monate dauern. Damit will Frankreich sich auch der europäischen Asylrecht-Richtlinie anpassen. Die Asylbewerber haben künftig Anspruch auf einen Rechtsbeistand. Auch werden die Unterbringungsmöglichkeiten ausgeweitet. Zugleich darf der Asylbewerber nicht mehr frei entscheiden, wo er sich niederlassen will; wer eine ihm zugeteilte Unterkunft ablehnt, verliert das Recht auf finanzielle Beihilfen. 

Trotzdem hielten die konservative Opposition und der Front National der sozialistischen Regierung vor, zu lax mit dem Asylrecht umzugehen. Innenminister Bernard Cazeneuve verteidigte sich deshalb im Parlament: „Die Zahl der Asylanträge hat sich zwischen 2006 und 2012 unter der Vorgängerregierung verdoppelt. Und seit 2014 ist sie um 5 Prozent zurückgegangen. Ich höre dagegen, dass durch ideologische Nachgiebigkeit unserer sozialistischen Mehrheit die Regierung alle Tore geöffnet habe für Asyl und Immigration. Das steht jedoch im Gegensatz zu den Zahlen, die ich Ihnen genannt habe. Ich frage mich, ob es vernünftig ist, die Diskussion in so eine Richtung zu drängen in einem Land, wo es eine Partei gibt, deren einziges Ziel es ist, das Thema Immigration als Geisel zu nehmen, um Angst zu schüren und – um es klar zu sagen: Hass.“
 

Frankreich ist nicht Deutschland

Präsident Hollande hat Anfang September angekündigt, dass sein Land in den nächsten zwei Jahren 24 000 Flüchtlinge aufnehmen will. Eine Mehrheit der Franzosen möchte aber nicht, dass Frankreich wie Deutschland handelt. Laut Umfragen finden 70 Prozent der Franzosen, dass 24 000 Flüchtlinge mehr als genug seien. „Frankreich ist nicht in derselben Lage wie Deutschland“, sagte Hollande bei seiner Pressekonferenz. Die Zahl der in Frankreich anerkannten Asylbewerber werde 2015 bei etwa 60 000 liegen.

Nicolas Sarkozy nimmt den Präsidenten für diese Aussagen unter Beschuss. Hollande lüge, sagte der Chef der Partei „Les Républicains“. Es würden viel mehr Menschen ihr Glück in Frankreich suchen als die vereinbarten 24 000. Der ehemalige Präsident fordert, dass die EU Sicherheitsverwahrlager an der Peripherie der EU einrichtet, in Ländern wie der Türkei, Tunesien oder Serbien, um die Flüchtlinge aufzuhalten und ihre Hilfsansprüche zu überprüfen. Sarkozys Vorschläge stoßen auf breite Zustimmung. An die EU richtet sich vor allem die Erwartung, dass sie das Land vor einem unkontrollierten Migrantenzustrom schützen möge. Auch deshalb werden in Frankreich die Freizügigkeitsregeln des Schengen-Abkommens stark kritisiert.

Von dem Vorgehen der Bundesregierung in der Flüchtlingskrise ist Frankreich überrascht worden. Zunächst überwog Erstaunen. In der Linkspresse, die oftmals mit germanophobem Unterton die Politik der Bundesregierung kritisiert hatte, fanden sich plötzlich Lobeshymnen auf die Kanzlerin. „Angela Merkel rettet die Ehre der Europäischen Union“, schrieb Le Nouvel Obs. Und Le Monde titelte: „Lasst uns Merkel helfen“.

Doch die Stimmung kippte, als die Bundesregierung überraschend Kontrollen an der Grenze zu Österreich einführte, den Bahnverkehr stoppte und selbst an den Übergängen nach Frankreich Polizisten aufstellte. Nun stöhnte die Presse über die mangelnde Weitsicht der Kanzlerin, die ihre Arme weit geöffnet und damit enorme Flüchtlingsströme in Bewegung gesetzt habe. „Alle Welt applaudiert Merkel“, sagte der Vorsitzende der Sozialistischen Partei, Jean-Christophe Cambadélis, „aber sie ist es, die sich in diese Lage gebracht hat und jetzt die Grenzen schließt.“ Der Abgeordnete Henri Guaino (Republikaner), früher ein einflussreicher Berater Sarkozys, beschwerte sich: „Angela Merkel trifft unilaterale Entscheidungen, macht unilaterale Ankündigungen und beschwert sich dann über mangelnde Kooperation. Das ist ein starkes Stück.“

Der Vorstoß von Bundesinnenminister Thomas de Maizière, mit finanziellen Sanktionen dem mangelnden Solidaritätswillen einiger EU-Partner nachzuhelfen, wurde in Paris mit unverhohlenem Unwillen aufgenommen. Seither wird die Medienberichterstattung wieder vom Lehrmeisterverdacht gegenüber Deutschland beherrscht. Berlin steht im Verdacht, künftig die EU nicht nur wirtschaftlich, sondern auch moralisch dominieren zu wollen. Bislang hielt sich Frankreich immer noch zugute, als Wiege der allgemeinen Menschenrechtserklärung Deutschland moralisch überlegen zu sein, das schwer an seinen historischen Lasten trägt.

Die Bundeskanzlerin wolle ganz Europa ihre Flüchtlingspolitik aufzwingen, argwöhnte die Presse. Hollande erntete viel Kritik, weil er „im Schlepptau Deutschlands“ agiere und die Franzosen nicht vor der unbesonnenen deutschen Politik schütze. Die These, Deutschland verfolge mit der Aufnahmepolitik eigene, egoistische Interessen, ist in Frankreich weit verbreitet. Weil die Deutschen nicht genügend Kinder bekämen, suche sich die Bundesregierung im Auftrag der Industrie halt Arbeitskräfte von anderswo. Auf die Spitze trieb die Front--National-Chefin Marine Le Pen dieses Argument mit der Behauptung, „billige Arbeitssklaven werden für das deutsche Großkapital nach Europa gelockt“. Le Pen unterstellt der Bundesregierung dabei, über die neuen Arbeitskräfte auch die Löhne in anderen EU-Ländern zu drücken. Dieser Vorbehalt findet auch im linken Parteienspektrum große Beachtung.

Die Skepsis in Frankreich ist aber auch auf die eigenen Schwierigkeiten mit den Einwanderern zurückzuführen. Das industriegesellschaftliche Integrationsmodell, das seit Ende des 19. Jahrhunderts das Selbstverständnis des Einwanderungslands Frankreich prägte, funktioniert nicht mehr. Zu den Besonderheiten dieses Modells gehörte, dass den Einwanderern die Eingliederung in den Arbeitsmarkt und politische Emanzipation garantiert wurden. Im Gegenzug wurden kulturelle und religiöse Unterschiede in der Öffentlichkeit nicht toleriert. Doch mit dem Niedergang der französischen Industrie fällt dieser wichtige Stabilitätsfaktor – die Integration in den Arbeitsmarkt – weg. 

Parallel dazu ist unter den Einwanderern eine fortschreitende Gemeinschaftsbildung nach ethnischen oder religiösen Kriterien zu beobachten, die dem republikanischen Selbstverständnis von der Nation zuwiderläuft. Die französische Enttäuschung konzentriert sich dabei auf Einwanderer und deren meist eingebürgerte Nachfahren muslimischen Glaubens. Es herrscht die Vorstellung, dass der Islam ein unüberwindliches Hindernis für eine gelungene Assimilation sei. Obwohl es eine gut integrierte Mittelschicht aus Franzosen nordafrikanischer Herkunft gibt, wird das Bild viel stärker von der Vorstadtjugend in der „Banlieue“ geprägt, die der französischen Kultur ablehnend gegenübersteht. Intellektuelle, Lehrer und Sozialarbeiter berichten seit Langem von dieser „verlorenen Jugend“. Frankreich zweifelt deshalb an seinen Möglichkeiten, Einwanderer zu assimilieren und erfolgreich in die Gesellschaft zu integrieren. Aufgrund der eigenen Erfahrungen hält eine Mehrheit der Franzosen die deutsche „Willkommenskultur“ für einen historischen Irrtum.

Michaela Wiegel ist Frankreich-Korrespondentinder Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2015, S. 44-48

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