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01. Apr. 2002

Skepsis der Alten Welt

Ein europäischer Blick auf die amerikanische Außenpolitik

Europa und Amerika haben unterschiedliche Einschätzungen der Risiken und Ursachen des Terrorismus. Während die USA vor allem die Symptome und Erscheinungsformen bekämpfen, wollen die Europäer bei den Ursachen ansetzen. Politisch und militärisch kann Europa nicht mit den USA mithalten, aber es kann danach streben, eine Stimme der Zurückhaltung und der Vernunft zu sein, um die schlimmsten Auswüchse des amerikanischen Unilateralismus zu verhindern.

Als die amerikanische Regierung unter Präsident George W. Bush vor mehr als einem Jahr ihr Amt antrat, herrschte auf der anderen Seite des Atlantiks ein gerüttelt Maß an Beklommenheit. Zum Teil war dies eine verständliche Nervosität in Europa angesichts einer neuen Mannschaft an der Macht in Washington, zu der bekannte, aber auch unbekannte Figuren gehören. Mindestens ein Jahr dauere es, bis die Politik nach einer Wahl in Amerika wieder in geregelten Bahnen laufe, sagten die Erfahrenen. Dieses Mal jedoch saß die Besorgnis tiefer. Die meisten Länder der Europäischen Union hatten Mitte-Links-Regierungen; diese betrachteten den überzeugten Konservatismus Vieler in der neuen republikanischen Regierung mit Besorgnis, wenn nicht sogar mit offener Ablehnung. Politisch hatten sie mit der neuen Regierung nur wenig gemein.

Vielleicht die größte Besorgnis erregte das Engagement Bushs und seiner wichtigsten Berater, die nationale Raketenabwehr voranzutreiben – das Konzept zur Errichtung eines Verteidigungsschilds rund um die USA, um das Land vor der vermuteten Bedrohung durch ballistische Raketen aus „Schurkenstaaten“ zu schützen. Dies würde die Aufkündigung des Vertrags von 1972 über die Begrenzung von Antiballistischen Systemen (ABM) bedeuten, des Grundsteins der nuklearen Abschreckung in den zurückliegenden 20 Jahren des Kalten Krieges, und das nukleare Patt beenden

Zusätzlich zum Raketenabwehrprogramm gab es andere Spannungen innerhalb der NATO. Viele führende Republikaner hatten das Engagement der USA auf dem Balkan offen kritisiert: sie wollten die Arbeit der Friedenswahrung dort den Europäern überlassen. Dies war das augenfälligste Anzeichen für eine tiefere Unruhe in Washington: Bush und sein Team hatten in ihrem Wahlkampf jegliche Vorstellung eines Aufbaus von Staaten in der Außenpolitik abgelehnt –sie hatten es Präsident Bill Clinton als Schwäche ausgelegt, dass er sich immer stärker in den Wiederaufbau gescheiterter Staaten hat einbinden lassen. Sie waren entschlossen, die nationalen Interessen der Vereinigten Staaten in der Außenpolitik an die erste Stelle zu setzen und jeden Gedanken an eine „ethische“ Dimension zu ignorieren. In den Ohren der Europäer klang dies bedrohlich nach den Anfängen eines neuen Isolationismus oder zumindest eines unbeirrbaren Unilateralismus.

Die zweite Unbekannte in der politischen Gleichung war die Handelspolitik. Ideologisch traten Bush und seine Mannschaft für den Freihandel ein. Auf der andern Seite verdankten sie ihre Wahl Interessengruppen und Lobbyisten, die den politischen Prozess in Washington begleiten. Diese Gruppen würden eine politische Belohnung erwarten und, falls erforderlich, auch eine Protektion des Handels in ihren spezifischen Bereichen oder Regionen. Mehr noch, das politische Machtgleichgewicht im amerikanischen Kongress war inzwischen derart austariert, dass einzelne Lobbygruppen sehr wohl in der Lage sein könnten, in wichtigen politischen Entscheidungen den Ton anzugeben. Sehr viel würde vom politischen Mut und der Entschlossenheit Bushs selbst abhängen.

So machten sich die Europäer auf eine unruhige Zeit gefasst. Mit der Zeit wurde der von ihnen befürchtete Unilateralismus immer ausgeprägter: Es würde die Raketenabwehr geben und der ABM-Vertrag würde aufgekündigt werden, ob Europa dies nun wollte oder nicht. Die Erweiterung des Nordatlantischen Bündnisses würde stattfinden, weil Bush der Meinung war, sie solle stattfinden. Und Russland würde irgendwie eingebunden werden – ohne jemals genauer zu beschreiben wie –, um den russischen Präsidenten, Wladimir Putin, dazu zu bewegen, die Aufkündigung des ABM-Vertrags hinzunehmen. All dies wurde betrieben vor dem Hintergrund einer sehr entschiedenen Wahrnehmung nationaler amerikanischer Interessen in Washington.

Der 11. September

Und dann kam der 11. September. Dieser traumatische Tag erschütterte die gesamte Welt. Jede Nation in Europa beeilte sich, ihre Sympathie für und Solidarität mit Amerika zu bekunden. Frankreich, nach außen deutlichster Kritiker, stand in dieser Kondolenzschlange an erster Stelle: „Wir sind alle Amerikaner“, erklärte die Zeitung Le Monde auf ihrer Titelseite.

Es war nicht nur dieser Moment instinktiver Solidarität seitens der restlichen Welt, der die ersten Wochen nach den Terroranschlägen prägte. Auch Washington reagierte unerwartet: Anstatt im Einklang mit dem gewohnten Unilateralismus auf eigene Faust zu reagieren, folgten Bush und seine Mannschaft dem Rat des vorsichtigeren Außenministers, Colin Powell, und legten das Fundament für die internationale Koalition gegen den weltweiten Terrorismus. Die USA riefen die Vereinten Nationen an (normalerweise eine beliebte Zielscheibe der Kritik guter, konservativer Republikaner), die Kampagne ebenfalls zu unterstützen, und sie erhielten, was sie wünschten. Plötzlich schien es, als sollte Multilateralismus ganz oben auf der Tagesordnung stehen.

Dies hielt jedoch nicht lange an. Wochen und Monate vergingen nach den Anschlägen auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington, und mit ihnen ging auch die amerikanische Bereitschaft zurück, im Krieg gegen den Terrorismus nach multilateralen Lösungen zu suchen.

Nach dem 11. September beeilte sich eine ganze Reihe namhafter politischer Beobachter und Kommentatoren zu erklären, dass „die Welt nie wieder dieselbe“ sein werde. In Wirklichkeit aber ist sie nicht so radikal verändert worden wie von ihnen erwartet. Viele jener unterschwelligen Entwicklungen, die sich vor diesen Terrorakten abzeichneten, sind einfach wieder an die Oberfläche geschwemmt oder gar verstärkt worden. Wenn überhaupt, dann hat der 11. September den Lauf der Dinge beschleunigt – allerdings in die Richtung, die sich ohnehin bereits abgezeichnet hatte.

Da wäre zunächst der Zustand der Weltwirtschaft. Der Abschwung in den USA hatte bereits Anfang des Jahres eingesetzt, obwohl er erst im Herbst offenkundig wurde. Der 11. September verschärfte lediglich die Rezession, er setzte sie nicht in Gang und er kehrte sie nicht um.

Die amerikanisch-russischen Beziehungen hatten sich seit dem ersten Gipfeltreffen der Präsidenten Bush und Putin in der slowenischen Hauptstadt Laibach kontinuierlich verbessert. Als Putin sich dann mit seinem diplomatischen Gewicht hinter den amerikanischen Feldzug gegen den Terrorismus stellte, war dies keine dramatische Richtungsänderung: es war eine Beschleunigung dessen, worauf er sich ohnehin bereits eingelassen hatte. Die Tatsache, dass er so weit ging, die Stationierung amerikanischer Streitkräfte in den ehemaligen Sowjetrepubliken in Zentralasien zu gestatten, ließ dies jedoch als Aufbruch zu neuen Ufern erscheinen.

Bedeutungslosigkeit der NATO

Ein anderer Schlüsselbereich der Entwicklung lag im NATO-Bündnis. Diese Organisation befand sich im Fluss, war seit dem Ende des Kalten Krieges auf der Suche nach einer neuen Identität. Im Kosovo-Krieg schien sie eine Rolle als Friedensstifter gefunden zu haben, als jemand, der außerhalb seines traditionellen Operationsgebiets etwas durchsetzte. Die Allianz, die gegründet worden war, um Westeuropa gegen die Sowjetunion zu verteidigen, bewies, dass sie auch außerhalb ihres Bündnisgebiets diplomatisch die Muskeln spielen lassen konnte.

Kosovo bestätigte Washington vor allen Dingen aber auch, dass die NATO als militärische Waffe unbrauchbar war. Auf dem Schlachtfeld zu Entscheidungen zu gelangen, erwies sich angesichts 16 beteiligter Staaten als hoffnungslos schwerfällig (und dies galt noch mehr für 19 Staaten, als Polen, Ungarn und die Tschechische Republik der NATO beigetreten waren). Die NATO funktionierte, bewies dabei aber gleichzeitig, wie langsam sie sich bewegte. Anstatt den Wert der NATO unter Beweis zu stellen, zeigte Kosovo in Wirklichkeit deren Bedeutungslosigkeit.

Nach dem 11. September brachten die NATO-Verbündeten ostentativ ihren erhabensten Artikel der gegenseitigen Unterstützung und Solidarität zur Anwendung: Artikel 5. Sie erklärten, dass ein Angriff gegen einen von ihnen – in diesem Fall die USA – einen Angriff gegen alle darstelle. Schon allein durch den Akt der Erklärung des Bündnisfalls zeigten die Verbündeten jedoch, wie sehr es diesem Artikel an Substanz mangelt. Anstatt im Krieg in Afghanistan auf Streitkräfte und Planungen der NATO zurückzugreifen, haben die USA dies bewusst vermieden. Paul Wolfowitz, der amerikanische Vizeverteidigungsminister, reiste nach Brüssel und erklärte wörtlich, dass seine Regierung nur daran interessiert sei, eine „Koalition der Willigen“ zu schmieden. Als Geste sei die Solidarität der NATO zu begrüßen, deutete er an, doch werde die wirkliche Arbeit von den USA und einer Hand voll Helfer geleistet. Seine Botschaft war: „Danke, aber nein danke“.

Die Bedeutungslosigkeit der NATO, die in Kosovo erkennbar war, wurde also von den Ereignissen nach dem 11. September bestätigt. Im Ergebnis ist die NATO nicht stärker, sondern schwächer. In den vergangenen sechs Monaten wurde offenkundig, dass Amerika eine Politik verfolgt, die dem sehr ähnlich ist, was Richard Haass, der Chef des Planungsstabs im amerikanischen Außenministerium, in seinem 1998 veröffentlichten Buch „The Reluctant Sheriff. The United States After the Cold War“ zum ersten Mal offen geäußert hat. Darin kritisierte er den Unilateralismus, den er bei der Regierung Clinton ausgemacht hatte und argumentierte stattdessen für einen Ansatz, den er „Außenpolitik nach Sheriff-Art“ nannte. Dieser gipfelte darin, „Koalitionen der Willigen“ zu schmieden, um außenpolitische Probleme zu lösen, außerhalb des formellen institutionellen Rahmens von Organisationen wie den Vereinten Nationen.

Dies entspricht genau dem, was derzeit geschieht. Letztlich ist es Washington, das die Mitglieder eines jeden Aufgebots für jede Phase des andauernden Krieges gegen den weltweiten Terrorismus bestimmen und auswählen kann. Diese Politik ist einfach eine etwas ausgeklügeltere Form des Unilateralismus, doch besteht kein Zweifel, dass die Vereinigten Staaten die Politik diktieren und dann entscheiden, wer sich an einer Maßnahme beteiligen soll.

Eigene Verwundbarkeit

Der wirkliche Wandel nach dem 11. September vollzog sich jedoch nicht in der Welt als Ganzes, sondern in den USA im Besonderen, denn jene Terrorakte veränderten Amerikas Wahrnehmung der eigenen Verwundbarkeit. Vor diesem Tag hatten die USA den Anschein vermittelt, sie seien auf ihrem eigenen Territorium unverwundbar, wenn nicht sogar auch im Ausland. Seit dem japanischen Anschlag auf Pearl Harbor 1941 hatte es keine wirklichen Angriffe auf ihren Heimatboden gegeben. Es war genau dieses Gefühl der Unverwundbarkeit, das hinter dem gesamten Konzept der Raketenabwehr stand: die Vorstellung, dass jemand einen Raketenschirm errichten und eine feindliche Außenwelt davon abhalten könne, jemals das Kernland der USA anzugreifen.

Der 11. September erschütterte dieses Gefühl der Unverwundbarkeit in seinen Grundfesten. Anstatt jedoch die Realität zu akzeptieren und zu lernen, damit zu leben, war die Reaktion eine verstärkte Entschlossenheit, dieses Gefühl wiederzuerlangen. Der Krieg wurde in weit entfernte, fremde Gebiete getragen – zunächst nach Afghanistan und später in andere entfernte Länder, wie die Philippinen, Georgien, Jemen und möglicherweise schließlich auch Irak. Es scheint die Vorstellung vorzuherrschen, die Terroristen der Al Khaïda könnten durch ihre Ausrottung fernab von den USA davon abgehalten werden, jemals wieder in amerikanisches Kernland vorzudringen.

Parallel dazu ist die Entschlossenheit, ein Raketenabwehrsystem zu errichten, verstärkt worden. Der ABM-Vertrag wurde aufgekündigt, und im Zustand des Schocks und der Solidarität der Welt nach dem 11. September scheinen sich Russland und der Rest Europas in das wohl Unvermeidliche gefügt zu haben.

Trennlinie zu Europa

In diesem amerikanischen Gefühl der Unverwundbarkeit liegt der große psychologische Unterschied zu Europa. Im Gegensatz zu Amerika sind sich die europäischen Staaten stets ihrer eigenen Verwundbarkeit bewusst und müssen mit ihr leben. Raketenabwehrsysteme besitzen für sie nicht die gleiche Anziehungskraft. Länder mit ausgedehnten Landgrenzen sind schon per definitionem verwundbar – durch Einwandererströme, grenzüberschreitende Kriminalität und Terrorismus, ganz zu schweigen von einem traditionellen militärischen Angriff. Das einzige europäische Land, das diesen Aspekt der geographischen Psychologie der Amerikaner teilt, ist Großbritannien – eine Tatsache, die – zusammen mit der gemeinsamen Sprache – die Neigung dieses Landes, Aktionen der USA instinktiv und sehr viel weniger zögerlich als die Kontinentaleuropäer zu unterstützen, sehr wohl erklären vermag.

Die unterschiedliche Psychologie hat eine unterschiedliche Einschätzung der Risiken sowie ihrer Ursachen zur Folge. Das Augenmerk der USA ist darauf gerichtet, die Symptome des Terrorismus und dessen Erscheinungsformen zu bekämpfen. Europäischen Ländern ist sehr viel mehr daran gelegen, seine Ursachen aufzudecken und sich ihrer anzunehmen. Daran liegt es, dass sich die amerikanische Aufmerksamkeit vor allem auf so genannte „harte“ Sicherheitsgefahren richtet, militärische und semimilitärische Bedrohungen seiner Position, während Europa eher dazu neigt, die zugrunde liegenden „weichen“ Sicherheitsgefahren anzugehen, die Terrorismus hervorrufen können: Armut, soziale Ungleichheit, fehlende Bildung, ethnische Rivalitäten, Zusammenbruch von Institutionen und ähnliches.

Dies ist nicht nur eine theoretische Unterscheidung, sondern vielmehr eine mit praktischen Konsequenzen für die Analyse der dem Terrorismus des 11. September zugrunde liegenden „Ursachen“. In der Tat – allein schon der Versuch, „Ursachen“ bestimmen zu wollen, wird von Vielen in den USA als gleichbedeutend mit einer Beschwichtigung der Terroristen erachtet. Mit den Worten eines ehemaligen hohen Beraters einer früheren republikanischen Regierung ausgedrückt: nach Ursachen zu fragen bedeute, „Fragen nach der amerikanischen Politik im Nahen Osten zu stellen, die einfach zu schwierig sind, um sie beantworten zu können. Sie betreffen unsere traditionellen Verbündeten, wie etwa Saudi-Arabien und Israel. Deshalb werden wir sie nicht stellen.“

In den ersten Wochen nach jenem September strebten Bush und seine Mannschaft danach, eine Unterscheidung zwischen den „weltweiten Terroristen“, die das World Trade Center angegriffen hatten, und anderen zu treffen, die als „nationale Befreiungsbewegungen“ eingestuft werden könnten, einschließlich einiger jener Organisationen im Nahen Osten, die die israelische Besetzung palästinensischen Territoriums bekämpfen, wie beispielsweise die Hamas und die Hisbollah. Sie erachteten diese Unterscheidung als notwendig, um die Unterstützung der arabischen Staaten für den Krieg gegen die Al Khaïda zu erhalten.

Dies war eine Unterscheidung, die die Europäer nachvollziehen konnten. Sie wissen aus eigener Erfahrung, dass man nicht alle Terroristen als eindeutig verwerflich einstufen kann. Einige von ihnen mögen Friedensstifter der Zukunft sein. Diejenigen, die dem Terrorismus abschwören, müssen irgendwann möglicherweise wieder in den „Schoß der politischen Gemeinde“ aufgenommen werden. Aber auch dieser Versuch zur Differenzierung hielt in Washington nicht lange an.

Die Stunde der Wahrheit

Die Stunde der Wahrheit schlug mit Präsident Bushs Rede zur Lage der Nation und seiner inzwischen berühmten Formulierung von der „Achse des Bösen“, die Iran, Irak und Nordkorea mit weltweiten Terroristen in Verbindung brachte.1 Diese Rede bewirkte zwei Dinge, die eher die Kontinuität der amerikanischen Außenpolitik bestätigten als einen Aufbruch zu neuen Ufern – und die Europäer alarmierte. Zunächst brachte sie den Krieg gegen den Terrorismus mit der vorangegangenen amerikanischen Kampagne gegen „Schurkenstaaten“, die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und der daraus resultierenden Notwendigkeit einer Raketenabwehr in Einklang. Die „Achse des Bösen“ stellte all dies auf eine Stufe.

Der zweite wichtige Indikator in der Rede war die Aufnahme Irans in die „Achse des Bösen“, trotz der Unterstützung dieses Landes für den amerikanischen Feldzug in Afghanistan sowie die Aufnahme von Hamas, Hisbollah und des islamischen Dschihad als drei der vier genannten terroristischen Bewegungen, die ins Visier zu nehmen seien. Indem er dies tat, vollzog Bush in der amerikanischen Außenpolitik einen Schwenk hin zur Position der Regierung von Ariel Scharon in Israel und weg von einem Ausgleich mit den arabischen Staaten.

Die Europäer sind hinsichtlich beider Punkte beunruhigt. Sie waren nur zu einverstanden damit, sich dem Krieg gegen den Terrorismus anzuschließen, wenn dieser bedeutet, das Al-Khaïda-Netzwerk zu zerstören, wo auch immer es sich ausgebreitet haben mag. Für sie ist die Kampagne gegen die Proliferation von Massenvernichtungswaffen damit jedoch nicht gleichzusetzen. Sie sind der Überzeugung, dass in jedem Einzelfall unterschiedliche Taktiken erforderlich sind. Sie sind zutiefst misstrauisch, in eine Unterstützung der Raketenabwehr gedrängt zu werden – unter zweifelhafter Berufung auf den Feldzug gegen den Terrorismus.

Was die Aufnahme der drei genannten Staaten in die „Achse des Bösen“ angeht, wurde in Europa die größte Besorgnis bezüglich Irans geäußert.2 Die meisten europäischen Länder – einschließlich Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Italien – waren bestrebt, die Reformer in Teheran eher durch Einbindung als durch Ausgrenzung zu unterstützen. Sie befürchten, dass durch eine erneute Ächtung des Landes lediglich die Reformer ent- und die Kleriker ermutigt werden, die eine harte Linie vertreten, die Regierung bekämpfen und noch immer die Sicherheitsdienste kontrollieren.

Hinsichtlich der Aufnahme militanter Palästinenser auf die Liste der „weltweiten Terroristen“ befürchten die Europäer, dass dies der Al Khaïda und ihren Unterstützern in die Hände spielt, indem der Eindruck vermittelt wird, ihr Kampf gegen die israelische Aggression sei das Gleiche wie der weltweite Terrorismus. Auch hier sähen die Europäer gern, dass bei unterschiedlichen, wenn auch verwandten Problemen differenzierte Taktiken zur Anwendung kämen.

Zwei führende europäische Politiker laufen derzeit Gefahr, mitten in einen immer weiter auseinander klaffenden transatlantischen Graben zu stürzen: Großbritanniens Premierminister, Tony Blair, und Russlands Präsident, Wladimir Putin. Beide haben sich auf die Seite Präsident Bushs gestellt – in der Hoffnung, so leichter Einfluss auf die amerikanische Politik nehmen zu können. Letztlich wird ihnen mit warmen Worten für ihre Unterstützung gedankt werden – danach aber laufen sie Gefahr, ignoriert zu werden.

Testfall Irak

Zum eigentlichen Testfall wird Irak werden. Wenn sich die Falken in Washington durchsetzen, wird in den kommenden Monaten ein militärischer Feldzug gegen Saddam Hussein anlaufen, um das zu bewirken, was beschönigend als „Regimewechsel“ bezeichnet wird. Großbritannien und Russland fühlen sich beide zutiefst unwohl angesichts einer solchen Maßnahme – nicht etwa, weil sie Sympathie für Hussein hegen, sondern weil sie befürchten, dass diese Operation für den Nahen Osten im höchsten Maße destabilisierend wirken könnte. Doch scheint keines der beiden Länder hier größeren Einfluss ausüben zu können.

Alles in allem ergibt sich ein Bild, in dem die USA über ihre Prioritäten, ihre Strategie und Taktik beschließen werden, ohne groß auf die Bedenken ihrer wichtigsten Verbündeten einzugehen. Die Kombination der Symbolkraft des 11.September als einem Anschlag auf Amerika und weniger auf seine Verbündeten sowie des Triumphs der amerikanischen Waffen in Afghanistan hat die Hinwendung Washingtons zum Unilateralismus verstärkt.

Die Europäer müssen sich entscheiden, ob ihre Rolle in der Welt die eines gelegentlichen Unterstützers der amerikanischen Hegemonie sein soll, ohne großen Einfluss auf das Endergebnis ausüben zu können, oder mehr die eines Rivalen der einzig verbliebenen Supermacht. Was wirtschaftlichen Einfluss und Handel angeht, ist Europa auf der Weltbühne eine wirkliche Alternative zu den USA. China ist von dieser Position noch weit, weit entfernt. In politischer und militärischer Hinsicht aber kann Europa nicht mithalten. Es kann nur danach streben, eine Stimme der Zurückhaltung und der Vernunft zu sein und die schlimmsten Auswüchse des amerikanischen Unilateralismus zu verhindern.

Anmerkungen

1  Abgedruckt in Auszügen in: Internationale Politik, 3/2002, S. 119 ff.

2  Vgl. zur Iran-Problematik: George Henderson, Erstickte Demokratisierung in Iran. Die Lage nach dem 11. September, in: ebd., S. 32–38, sowie Ruprecht Polenz, Für eine aufgeklärte Iran-Politik des Westens, in: ebd., S. 39–40.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, April 2002, S.11 - 18.

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