Halbherziger Hegemon
Die deutsche Diplomatie wirkt oft schwerfällig, hat aber auch ihre guten Seiten
25 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung ringt die Europäische Union mit den Folgen jener tiefgreifenden politischen Verschiebung – und Deutschland ebenso: ein unangenehmer Prozess für beide Seiten. Berlins Diplomatie würde von mehr Koordinierung und weniger Moralisieren profitieren – und einem klareren strategischen Verständnis.
Die qualvollen Brüsseler Verhandlungen über ein weiteres milliardenschweres Hilfspaket, um Griechenland in der Euro-Zone zu halten, haben Berlin in ganz Europa und darüber hinaus den Vorwuf eingebracht, selbstherrlich und rücksichtslos agiert zu haben. Man warf Angela Merkel und Wolfgang Schäuble vor, Athen völlig überzogene Bedingungen gestellt zu haben – im Gegenzug für weitere Kredite, die die Griechen nie werden zurückzahlen können. Begriffe wie „Erpressung“ und „Schikane“ machten im Internet die Runde, um Berlins Taktiken zu beschreiben. Für die Blogsphäre jedenfalls war klar: Der „hässliche Deutsche“ ist wieder da.
Auch in Deutschland beklagten gewichtige Stimmen wie Jürgen Habermas und Joschka Fischer, dass Deutschland den Sinn für seine europäische Aufgabe verloren habe. „Ich fürchte, die Bundesregierung hat in einer Nacht das ganze politische Kapital verspielt, das ein besseres Deutschland ein halbes Jahrhundert lang gesammelt hat“, erklärte Habermas in einem Interview mit dem Guardian.1
Komplizierter und weniger düster
Doch die Realität ist komplizierter und weniger düster, als die Kritiker glauben. Zunächst darf man nicht vergessen, wie erfolgreich Deutschlands Auftreten in der Welt und seine „public diplomacy“ in den vergangenen Jahren gewesen sind. Es gelang Berlin bemerkenswert gut, Sympathien zu gewinnen, nachdem es sich erstaunlich schnell in eine Führungsrolle gebracht sah.
Laut jüngster Ausgabe des internationalen Gallup-Reports ist Deutschland in Sachen „globale Führungsrolle“ in Europa das angesehenste Land und genießt höchste Zustimmungsraten in so unterschiedlichen Staaten wie dem Kosovo, den Niederlanden, dem Senegal oder Finnland. In China ist die Bundeskanzlerin die am meisten geachtete europäische Führungspersönlichkeit (nach Königin Elizabeth II.). Und im vielleicht wichtigsten Testfall – den Beziehungen zum Nachbar Polen – ist das Verhältnis nach Jahrzehnten des Misstrauens so gut wie nie zuvor.
Alles verspielt in einer Nacht?
Hat Angela Merkel all das wirklich in den jüngsten Griechenland-Verhandlungen verspielt? Kaum. Tatsächlich sprachen sich am 13. Juli lediglich drei Euro-Mitgliedsländer, nämlich Frankreich, Italien und Zypern, für ein großzügigeres Abkommen mit Athen aus. Viele der anderen Euro-Staaten, darunter Spanien, Finnland, Lettland und die Slowakei, verfolgten eine ebenso harte Linie wie Deutschland, wenn nicht eine härtere. Merkels Erfolg bestand darin, eine klare Mehrheit für die Griechenland-Rettung zu organisieren, die einen Grexit knapp vermied. (Ihr Scheitern mag darin liegen, eine Einigung erzwungen zu haben, die schlicht nicht praktikabel ist.)
In den vergangenen fünf Jahren sah sich Deutschland gezwungen, in den beiden größten Herausforderungen Europas eine Führungsrolle einzunehmen: in der Krise der Euro-Zone, die droht, Europas Wirtschafts- und Währungsunion zu untergraben; und in der Konfrontation mit Russland über die Zukunft der Ukraine.
Auf diese Rolle war Berlin ebenso wenig vorbereitet wie die deutsche Öffentlichkeit. Es war traditionell Deutschlands gewissermaßen „natürliche“ Haltung, sich bei EU-Entscheidungen zurückzuhalten. Im Brüssel der siebziger und achtziger Jahre boxte Deutschland nie in seiner Gewichtsklasse – mit Absicht. Im Zweifelsfall wurde die notwendige Überzeugungsarbeit in Richtung Übereinkunft eben mit dem Ausstellen eines Schecks erledigt.
Die Euro-Krise hat all das geändert. Dass Frankreich und Großbritannien zögern, eine engagiertere Außenpolitik zu betreiben, hat sein Übriges getan. Die beiden Länder haben sich die Finger verbrannt, als sie sich für Luftangriffe gegen Libyens Muammar al-Gaddafi entschieden, ohne eine Strategie für die Zeit nach dessen Sturz zu haben. Dass Deutschland sich damals enthielt, scheint im Rückblick der weisere Entschluss gewesen zu sein. Da Paris und London sich zurückzogen, blieb Berlin nichts anderes übrig, als in der europäischen Diplomatie eine Führungsrolle zu übernehmen.
Dreh- und Angelpunkt
Heute ist Berlin die Anlaufstelle für Europas Politiker, die ihre jeweiligen nationalen Interessen voranbringen wollen. Großbritanniens Premier David Cameron glaubt, dass Angela Merkel die Schlüsselfigur ist, die man auf der eigenen Seite braucht, wenn es gilt, bessere Bedingungen für sein Land in der EU auszuhandeln. Auf der Überzeugungskraft der Bundeskanzlerin basiert letztlich auch die gemeinsame europäische Front gegenüber Moskau.
In wirtschaftlicher, aber auch immer stärker in politischer Hinsicht ist Deutschland der „Hegemon“. Aber es ist ein halbherziger Hegemon, dem eine klare strategische Vision fehlt und der weiter entschlossen ist, mit seinen Partnern einen Konsens zu finden statt ihre Zustimmung zu erzwingen. Diese bewundernswerte Zurückhaltung ist einer der Gründe für die große Popularität Deutschlands – und zugleich Ursache für Missverständnisse und Frustrationen unter seinen Partnern.
Diplomatie und Doktrin
Dabei muss man zwischen deutscher „Diplomatie“ im weitesten Sinne in der Euro-Krise und der traditionelleren Diplomatie gegenüber Russland in Sachen Ukraine unterscheiden. Erstere löste viel mehr Kritik aus als letztere, denn sie verharrte doktrinär in einer sehr verengten Wirtschaftspolitik. Zudem fehlte diesem Ansatz die Einsicht, dass eine Wirtschafts- und Währungsunion eine Transferunion sein muss, um zu funktionieren. Mit dem Bundesfinanzministerium in einer Führungsrolle war die deutsche Außenpolitik in dieser Frage bislang sowohl zu moralistisch als auch exzessiv auf die Einhaltung von Regeln fixiert. Das mag wiederum an der hohen Anzahl von Juristen an der Spitze des Ministeriums liegen.
Wolfgang Schäuble hat mit seiner Verhandlungstaktik die schärfste Kritik auf sich gezogen, insbesondere für seinen Vorschlag eines „temporären“ Ausscheidens Griechenlands aus der Euro-Zone. Die Bundeskanzlerin galt dagegen stets als die größere Pragmatikerin – wobei ironischerweise der Bundesfinanzminister als der leidenschaftlichere „Europäer“ angesehen wird. Tatsächlich reflektiert seine Haltung den Glauben an eine vertiefte Integration innerhalb der Euro-Zone und seine Furcht, dass kein „Kerneuropa“ geschaffen werden kann, solange Griechenland Mitglied bleibt.
In einem kürzlich erschienenen Beitrag für die Financial Times schrieb der in New York lehrende Zeithistoriker Mark Mazower, dass Deutschlands Bestehen auf den Regeln – selbst dann, wenn das kontraproduktiv ist – ein echtes Problem deutscher Führung wäre.2 Eine andere Schwäche deutscher Diplomatie ist der Mangel an Koordination, der unter anderem dem föderalen und einem Parteiensystem geschuldet ist, das meist zu Koalitionsregierungen führt.
Die Signale aus der Bundeshauptstadt sind oft konfus und verwirrend; selbst die deutschen Unterhändler in Brüssel wissen häufig nicht, was nun genau die Regierungslinie ist. Aus diesem Grund kommuniziert Berlin oft schlecht und wirkt erratisch im Verfolgen seiner Ziele. Die Probleme sind nicht neu; in gewisser Hinsicht hat sich die deutsche Politik seit Gründung der Europäischen Gemeinschaft damit herumgeschlagen. Doch nun, da Berlin als Primus inter Pares wahrgenommen wird, wirken sie sich stärker aus. Deutsche Zögerlichkeit gepaart mit der Abneigung der Kanzlerin, ihre strategischen Vorstellungen auch klar zu formulieren, sind eine Dauerbelastung für Entscheidungsfindungen innerhalb der EU. Zugleich erlaubt ihr dies, sehr erfolgreich die Rolle der Konsensfindungskönigin im Europäischen Rat zu spielen.
Wie kann also Deutschland seine Diplomatie und deren öffentliche Wahrnehmung verbessern? Offensichtlich wäre es notwendig, Politik in Berlin besser zu koordinieren. Zudem bedürfte es eines klareren Verständnisses von der deutschen strategischen Ausrichtung – das „vision thing“, das Merkel so verabscheut.
Weniger Moral, mehr Pragmatismus
Es könnte auch nicht schaden, den moralisierenden Ton, der sich gerade in der Wirtschaftspolitik bemerkbar macht, zu mäßigen und sich stattdessen wesentlich pragmatischer zu verhalten. Ja, Regeln sind wichtig in der internationalen Politik. Doch wenn sich die Umstände ändern, müssen sich eben auch die Spielregeln ändern. Die europäische Wirtschafts- und Währungsunion wird ein stärkeres „Pooling“ von Ressourcen notwendig machen, um sicherzustellen, dass eine Fiskalunion die gemeinsame Währung untermauert.
Umgekehrt allerdings tragen der deutsche Widerwille, als Hegemon aufzutreten, und die Abneigung, diplomatische Ziele mit militärischen Mitteln zu verfolgen, stark zu dem internationalen Respekt bei, den das Land in jüngster Zeit genossen hat. Es gibt keinen Grund, das zu ändern.
Quentin Peel ist Mercator Senior Fellow beim Europa-Programm von Chatham House in London.
Internationale Politik 5, September/Oktober 2015, S. 76-79