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01. März 2009

Sieger sehen anders aus

Internationale Presse

Bei der Analyse des Gaza-Kriegs in den arabischen Medien kommt kaum ein Akteur ungeschoren davon

Knapp 4000 Zuschauer nahmen an der Abstimmung teil, mit der Faisal Qasem wenige Tage nach dem Ende der Kämpfe in Gaza seine populäre Talkshow „Gegenrichtung“ auf Al-Dschasira einleitete. „War der Krieg in Gaza ein Sieg oder eine Niederlage für den palästinensischen Widerstand?“, lautete die Frage, über die das Publikum zu entscheiden hatte. Die Zuschauer kamen zu einem fast einhelligen Ergebnis: Über 94 Prozent sahen den Ausgang des Konflikts, bei dem nach offiziellen palästinensischen Angaben mehr als 1300 Palästinenser ums Leben kamen, als Erfolg für die Palästinenser (Al-Dschasira, 27.1.). Trotz der massiven Zerstörungen und der hohen Zahl ziviler Opfer erschien die palästinensische Seite ihnen als moralischer und militärischer Sieger des 22-tägigen Konflikts.

An dieser Einschätzung konnte auch der Ausgang der israelischen Wahlen knapp drei Wochen später kaum etwas ändern. Der deutliche Erfolg der rechten und rechtsextremen Parteien bei den Wahlen zur Knesset schien eine weitverbreitete Einschätzung zu bestätigen, nach der die israelische Bevölkerung mehrheitlich für eine Fortsetzung des Konflikts mit den Palästinensern optiere. „Die israelische Öffentlichkeit sehnt sich nach mehr Blut, was auch darin deutlich wird, dass die große Mehrheit der Bevölkerung den Krieg gegen Gaza unterstützt hat“, schrieb Abd al-Bari al-Atwan in der Tageszeitung Al-Quds al-Arabi am Tag nach den Wahlen. „Die Israelis sind von Angst getrieben. Deshalb flüchten sie sich in Kriege und unterstützen eine militärische oder politische Führung, die ihnen die Illusion einer ‚harten Hand‘ verkauft. Dabei merken sie nicht, dass die Mehrzahl der vergangenen Kriege – darunter auch der Gaza-Krieg – nicht zu ihren Gunsten ausging“ (Al-Quds al-Arabi, 11.2.).

Der Krieg in Gaza bestimmte über Wochen die Berichterstattung der arabischen Medien. Die weitverbreitete Wut in der arabischen Welt über das israelische Vorgehen manifestierte sich nicht nur in zahlreichen Demonstrationen, sondern auch beispielsweise in einem Video, das von ägyptischen Künstlern als Zeichen der Solidarität mit der Bevölkerung in Gaza produziert wurde. In dem Video, das an die „Declare Yourself“-Kampagne amerikanischer Schauspieler während des Präsidentschaftswahlkampfs erinnert, wandten sich prominente Schauspieler und Musiker direkt an die Zuschauer. Mit einer klaren Botschaft: Gefordert wurden in dem Video, das u.a. von dem ägyptischen Fernsehsender Dream TV ausgestrahlt wurde, der Abbruch der diplomatischen Beziehungen mit Israel, die Aufhebung der Blockade des Gaza-Streifens und die Öffnung der Grenzübergänge (Dream TV, Januar 2009). Die Geste der Solidarität war damit auch ein Protest gegen Präsident Hosni Mubarak und die ägyptische Regierung, deren Festhalten an den Friedensvereinbarungen mit Israel in ägyptischen Medien immer stärker in die Kritik gerät. Zugleich steht das Video, das in verschiedenen Internetforen kursierte, für die zunehmende Bedeutung von Grassroot-Kampagnen, die auf Multimedia und Social-Community-Netzwerke wie Youtube und Facebook zurückgreifen, um eine politische Botschaft zu vermitteln.

Schon in den ersten Tagen des Krieges stand der massive israelische Militäreinsatz im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Zahlreiche Kommentatoren warnten bereits unmittelbar nach Beginn der israelischen Angriffe vor einem „Holocaust“, der vom israelischen Militär begangen werde. Wurde der Holocaust bis in die neunziger Jahre auch in seriösen arabischen Medien oft als historische Tatsache bestritten, so zeichnete sich seit der Al-Aqsa-Intifada (2000–2005) ein Wandel ab. In der aktuellen Auseinandersetzung dient der Vergleich mit den NS-Judenverfolgungen immer häufiger der Denunziation der israelischen Politik und als Legitimation der eigenen Forderungen.

In diesem Sinne sprach sich der libanesische Journalist Ahmed Bazun für den Bau eines „Gaza-Holocaust-Museums“ in Gaza-Stadt aus, dem weitere Museen „in den Metropolen der Welt“ folgen müssten (Al-Safir, 13.1.). In eine ähnliche Richtung ging ein Kommentar von Muhammed Al-Sammak, einem Kolumnisten der Tageszeitung Al-Ittihad aus den Vereinigten Arabischen Emiraten. Die internationale Gemeinschaft möge Israels Führung wegen „Kriegsverbrechen“ an der palästinensischen Bevölkerung belangen, so Al-Sammak. Auch er verwies auf das internationale Gedenken an den Holocaust und die Ächtung des Antisemitismus, zu denen sich die Vereinten Nationen verpflichtet hätten. Al-Sammak sah darin eine einseitige Bevorzugung Israels. „Was den Antisemitismus angeht“, bemerkte er: „Wie viele Verbrechen gegen die Menschheit werden im Namen des Kampfes gegen den Antisemitismus begangen?“ (Al-Ittihad, 6.2.).

Die zeitliche Nähe der israelischen Offensive zur Amtsübernahme Barack Obamas in den USA machte den Krieg zu einem Testfall für die zukünftige Regierung in Washington. In den Reaktionen des designierten Präsidenten auf die israelische Offensive meinten viele Beobachter einen ersten Hinweis auf die Ausrichtung der Nahost-Politik ausmachen zu können. Trotz seines ausdrücklichen Bekenntnisses zu den Sicherheitsinteressen Israels in der Vergangenheit kam in den Kommentaren die Hoffnung zum Ausdruck, Obama werde gegenüber Israel eine weniger nachsichtige Haltung einnehmen und vom Boykott der Hamas-geführten Regierung abrücken. Die Zurückhaltung, mit der sich Obama während der Kämpfe zu Wort meldete, stieß daher auf umso schärfere Kritik. „Ist Obama blind?“, fragte etwa die libanesische Tageszeitung Al-Nahar (13.1.), während sich die in London erscheinende überregionale Tageszeitung Al-Hayat überzeugt gab, der „Holocaust“ in Gaza werde „auch unter der Regierung Obama weitergehen“ (13.1.).

Bomben und Zuschüsse

Nicht weniger scharf waren die Vorwürfe, die an die Adresse der Europäischen Union gerichtet wurden. Auch hier wurde die mangelnde Bereitschaft herausgestellt, auf ein Ende der israelischen Angriffe hinzuwirken. Nach Ansicht des ägyptischen Kommentators Salama A. Salama war das weitverbreitete Bild einer ausgewogenen europäischen Politik im Nahen Osten letztlich nur „gekauft“. Während sich die EU weigere, gegen Israel vorzugehen, versuche sie die Folgen der israelischen Politik im Nachhinein mit Fördergeldern zu beseitigen: „Wenn der Rauch verschwunden ist, wird uns Europa großzügig mit den üblichen Fördergeldern und Zuschüssen versorgen, die zum Wiederaufbau von Gaza benötigt werden. Das ist Europas Art, sich als fairer Akteur auszugeben“, erklärte Salama (Ahram Weekly, 22.–28.1.).

Und auch die Hamas blieb beim Nachdenken über die Ursachen der jüngsten Eskalation nicht ungeschoren. So stießen die Erklärungen von Khaled Mishal, dem Vorsitzenden des Politbüros der Hamas, auf ein unterschiedliches Echo. Mishal beschwor den Sieg des „Widerstands“ über Israel. Dieser Sieg werde auch durch die Zahl der Opfer nicht geschmälert, erklärte Mishal in einer Rede, die von mehreren arabischen Fernsehsendern übertragen wurde. Es handele sich vielmehr um „den ersten Krieg, bei dem unser Volk auf seinem eigenen Boden gesiegt“ habe (Al-Manar, 21.1.).

Besonders heftige Reaktionen löste eine Aussage des stellvertretenden Vorsitzenden des Politbüros der Hamas, Musa Abu Marzuq, aus. In einer Rede in Damaskus hatte auch er sich gegen die Vorstellung gewandt, die Zahl der Opfer auf palästinensischer Seite stelle den Erfolg des „Widerstands“ in Frage. Es sei zwar richtig, dass „wir 1500 Märtyrer verloren haben“, räumte Abu Marzuq ein. „Aber unsere edlen Töchter und kämpfenden Schwestern haben während der Angriffe über 3500 palästinensische Kinder geboren“, die die Toten ersetzen würden (Al-Sharq al-Awsat, 26.1.). Für Mashari Al-Zaydi, Kolumnist der saudischen Tageszeitung Al-Sharq al-Awsat, spiegelte sich in dieser Aussage die Gleichgültigkeit wider, mit der die Hamas und ihre Unterstützer in der Region dem Elend der palästinensischen Zivilbevölkerung gegenüberstünden: „Sprach Abu Marzuq von Menschen, von Müttern, von Jugendlichen und alten Männern mit Gefühlen und Träumen, deren Interessen sich vielleicht nicht mit den Phantasien der Hamas und ihren Projekten decken? Oder sprach er von einer Hühnerzucht?!“ (Al-Sharq al-Awsat, 27.1.).

Ideologische Goldmine

Der innerarabische Konflikt zwischen Ägypten und Saudi-Arabien auf der einen sowie Syrien und Katar auf der anderen Seite kam in unterschiedlichen Einschätzungen der Hamas zum Ausdruck. Gerade in saudischen und regierungsnahen ägyptischen Zeitungen und Fernsehsendern wurde die Sorge deutlich, ein Erfolg der Hamas könnte den Einfluss des Iran in der Region zusätzlich befördern. Aus ägyptischer Sicht kam die Befürchtung hinzu, die islamistische Bewegung der Muslimbruderschaft könnte durch ihre Unterstützung der Hamas und die offene Kritik an der ägyptischen Regierung weiter an Popularität gewinnen. Der Konflikt in Palästina, schrieb Zaydi dazu in seinem Kommentar, sei für diese Akteure eine „politische und ideologische Goldmine“, die sich auf Kosten der palästinensischen Bevölkerung gegen die herrschenden Regime ausbeuten lasse (Al-Sharq al-Awsat, 27.1.).

Eine solche Ideologisierung des Konflikts wurde in der Vergangenheit auch von Sheikh Jussuf Al-Karadawi vorangetrieben, der mit seiner Sendung „Die Scharia und das Leben“ auf Al-Dschasira zu den überregional einflussreichsten islamischen Gelehrten zählt. Al-Karadawi bemühte wiederholt Beispiele aus dem Leben Mohammeds, um die religiöse Verpflichtung der Muslime zur Solidarität mit der Bevölkerung in Gaza zu verdeutlichen. Der Islam sei nicht nur abstrakter Glaube, sondern „Hingabe und Aufopferung“ – nicht nur eine materielle Unterstützung, sondern auch eine aktive Beteiligung am militärischen Kampf (Al-Dschasira, 25.1.). Diese Deutung blieb auch im islamistischen Spektrum nicht unwidersprochen. So äußerte sich mit Fahmi Huwaydi ein renommierter ägyptischer Autor ablehnend gegenüber der islamischen Rhetorik, mit der die Hamas in der Auseinandersetzung auftrat. Es gehe zunächst nicht um die Einrichtung einer islamischen Gesellschaft, sondern um die Befreiung des Landes, „unabhängig von der ideologischen Ausrichtung“ der unterschiedlichen nationalen Akteure (Al-Dschasira online, 3.2.).

In der Diskussion um den Krieg in Gaza zeigen sich damit beispielhaft die verschiedenen Konfliktlinien, von denen die innerarabischen Debatten zunehmend geprägt sind. Verständnis für Israel war dabei nicht zu vernehmen. Aber auch auf arabischer Seite entging kaum ein Akteur der Kritik, die sich immer wieder daran festmachte, dass auch unter den arabischen Akteuren kaum jemand bereit ist, die Lage der palästinensischen Bevölkerung ernsthaft zu verbessern.

GÖTZ NORDBRUCH ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Centre for Contemporary Middle East Studies an der University of Southern Denmark, Odense.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, März 2009, S. 98 - 101.

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