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01. Nov. 2009

Show ohne Publikum

Brief aus… Tokio

Warum sich niemand mehr für Japans ehemalige Regierungspartei interessiert

Drei Herren im Anzug tourten Ende September in einem Reisebus durch Japan. Vor größeren Bahnhöfen machten sie Halt, kletterten aufs Dach eines Lieferwagens und redeten zum japanischen Volk. Das nannten sie Wahlkampf.

Das Volk indes ignorierte sie. Am Bahnhof Shibuya in Tokio sahen die Passanten kaum hin. Kein Wunder: Als Nichtmitglieder der Liberaldemokratischen Partei (LDP) besaßen sie ohnehin kein Stimmrecht. Die drei Herren – Yasutoshi Nishimura, Sadakazu Tanigaki und Taro Kono – bewarben sich um den Vorsitz der LDP – der Partei, die Japan über ein halbes Jahrhundert regierte, bevor sie im vergangenen August abgewählt wurde.

Der LDP-Chef wird von den Parlamentsabgeordneten seiner Partei und den Sektionen in den Präfekturen gewählt. Solange er automatisch auch Premier wurde, blieben die Leute bei diesen Wahlkampfshows stehen, um ihren künftigen Regierungschef zu sehen. Diesmal jedoch sollte der Sieger bloß Oppositionsführer werden – ohne Aussicht, je eine Regierung zu bilden.

In Japan ist vieles nicht, was es zu sein vorgibt. Die Nation ist nicht homogen, obwohl die Propaganda das behauptet, die Gewerkschaften sind keine Gewerkschaften. Und dieser Wahlkampf war bloß ein rituelles Schaulaufen einer Partei, die weder liberal noch demokratisch ist und eigentlich auch keine politische Partei. Jedenfalls nicht in unserem Sinne: Weder vertritt sie ein bestimmtes Segment der Bevölkerung, noch stand sie je für eine Ideologie, sie war auch nie Wahlverein eines populären Politikers. Die LDP wurde nicht geschaffen, um am demokratischen Wettstreit der politischen Kräfte in Japan teilzunehmen, sondern aus zwei rivalisierenden Parteien fusioniert, um diesen Wettstreit zu verhindern. Sie war keine Institu-tion, die Volksvertreter nominierte und in politische Gremien schickte, sondern eine Organisation zur Verwaltung der Macht. Als solche war sie von Anfang an heterogen. In ihren Reihen gab es Sozialdemokraten, Liberale, Neo-liberale und Rechtsextreme.

Ihre Kritiker hat sie stets mit einer großen Umarmung zu ersticken versucht oder durch Einverleiben gegnerischer Gruppierungen – trotz ihrer Industrienähe auch Umweltgruppen. Zuletzt scheiterte sie mit dem Versuch, die damals oppositionelle Demokratische Partei DPJ, die nun an der Macht ist, in eine große Koalition zu locken.

Zugleich war die LDP der sichtbare Teil eines Apparats, der in den Nachkriegsjahrzehnten alle Segmente der japanischen Gesellschaft durchdrang. Dieser Apparat ist wegen seiner alles durchdringenden Präsenz zu Recht mit der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) verglichen worden, auch in Japan selbst. Allerdings hat er, ganz anders als die sowjetisch geprägten Gesellschaften und ohne deren Zwängen unterworfen zu sein, Japan stets gut versorgt. Das Land wurde dank der LDP reich, die KPdSU hatte die Völker der Sowjetunion ausgehungert. Und die LDP hat sich ihr Mandat in freien Wahlen immer brav bestätigen lassen. Die Wähler hatten freilich kaum eine andere Wahl. Die mit viel Geld geschmierte LDP-Wahlmaschine sorgte jeweils für die nötigen Mehrheiten. Erst bei den Oberhauswahlen 2007 kam dieser Motor ins Stocken; im August brach er auseinander.

Jetzt ist die LDP in der Opposition. Aber von den drei agilen Herren, die im September LDP-Chef werden wollten, mochten zwei das nicht einsehen. Manche LDP-Abgeordnete gründeten neue Parteien, um sich an der Macht zu halten. Und schimpften über die LDP, als hätten sie nie dazugehört. Exverteidigungsministerin Yuriko Koike, die sich auch schon um einen Sitz im LDP-Präsidium beworben hatte, schloss sich in den vergangenen 15 Jahren fünf verschiedenen Parteien an. Auch die meisten Minister der neuen Regierung begannen ihre Karrieren ursprünglich in der LDP.

Die drei leutseligen Herren, die Ende September vor Japans Pendler-Bahnhöfen Wahlkampf ohne Publikum spielten, setzten sich in ihren Reden deutlich voneinander ab. Yasutoshi Nishimura, ein Provinzabgeordneter mit dem Charme eines Handlungsreisenden, versuchte den Japanern jene verbrauchten rechtsnationalen Ideen anzudrehen, die sie mit hohen Mehrheiten abgelehnt haben, etwa die Militarisierung des Weltraums. Sadakazu Tanigaki, ein sanfter, liberaler Exfinanzminister, rechtschaffen und professoral, der die Wahl zum Vorsitzenden schließlich gewann, tat so, als pausiere die LDP bloß.

Einzig Taro Kono, der dritte im Bunde, ein gescheiter Stratege, hatte verstanden, dass sich die LDP radikal erneuern müsste, um sich in eine moderne konservative Partei zu verwandeln. In einer von ihm geführten LDP gäbe es kein Senioritätsprinzip, die Abgeordneten und Funktionäre müssten um ihre Pfründe fürchten. Kein Wunder, dass die Parteimitglieder ihn nicht gewählt haben. Das Revolutionäre des Machtwechsels in Tokio ist nicht der Wahlsieg der Demokraten, die ihre Politik erst formulieren müssen, sondern der sich abzeichnende Untergang der LDP. Dass sie gleich ganz untergeht, ist keine gute Nachricht. Ohne LDP wird Japan nicht zum Mehrparteiensystem oder wenigstens zum Zweiparteiensystem, das es längst zu sein vorgibt.

CHRISTOPH NEIDHART ist Korrespondent der Süddeutschen Zeitung in Tokio.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 11/12, November/Dezember 2009, S. 122 - 123.

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