Schulterschluss der Rivalen
Erfüllt sich Nehrus Vision von einem neuen Asien mit Indien und China als Kern?
Der Aufstieg Chinas und Indiens verschiebt das globale Gleichgewicht von West nach Ost, ihre strategische Partnerschaft gibt der Entwicklung zusätzliches Gewicht. Will die EU nicht abseits stehen, muss sie beiden asiatischen Mächten als politische Einheit gegenübertreten – und sich zugleich von ihrer Fixiertheit auf Peking befreien.
Nach Jahrzehnten voller Spannungen und Misstrauen versuchen Indien und China seit einigen Jahren, ihre Beziehungen auf partnerschaftlicher Grundlage zu normalisieren. Der Besuch von Präsident Hu Jintao im November 2006 in Neu Delhi und Mumbai (Bombay) stellte eine wichtige Etappe in der bereits 2005 vereinbarten „strategischen Partnerschaft“ zwischen diesen beiden aufstrebenden asiatischen Mächten dar.1
Lange Zeit galt Indien aus Sicht der chinesischen Führung als unwichtig. Die Nukleartests 1998, Indiens Großmachtdiplomatie, sein wirtschaftlicher Aufschwung wie sein politischer Aufstieg auf der Weltbühne zwangen Peking jedoch, diese Sicht zu revidieren. Heute befinden sich die chinesisch-indischen Beziehungen – trotz eines klaren Wettbewerbs – in ihrer produktivsten Phase seit mehr als sechs Jahrzehnten. Beide Länder haben sich auf eine Anzahl von Prinzipien geeinigt, um den lange andauernden Grenzstreit über Gebiete im Himalaya zu lösen. Die Idee eines Freihandelsvertrags oder einer umfassenden wirtschaftlichen Zusammenarbeit gewinnt an Boden. China ist, neben den USA, Japan und der EU, seit diesem Jahr Beobachter bei der South Asian Association for Regional Cooperation (SAARC).
Die westliche Welt und insbesondere Europa sollten diese neuen Entwicklungen zur Kenntnis nehmen. Längst wurde Chinas Aufstieg zu einer wichtigen Komponente der amerikanischen Politik gegenüber Indien – aber wie verhalten sich Deutschland, Frankreich und Großbritannien, wie Europa als Ganzes? Werden sie wenigstens halbwegs informierte Zuschauer oder eher passive Zaungäste eines Machtspiels zwischen Indien, China, Japan und den USA sein?
Neue Wirtschaftsbeziehungen
Seit den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts hat Chinas wirtschaftliches Wachstum überall in Asien, so auch in Südasien, eine strategische Dimension erreicht. 2006 war China ein führender Handelspartner Neu Delhis mit einem Volumen von ca. 24 Milliarden Dollar im Gegensatz zu nur 260 Millionen Dollar 1991. Für 2010 streben beide Seiten 40 Milliarden Dollar an.2 Chinesische Großunternehmen wie Banken, Schwerindustrie oder Telekommunikation sind in Indien bereits etabliert.
Das Potenzial für gemeinsame Joint Ventures und Geschäftsverbindungen basiert auf dem großen indischen Binnenmarkt: „Größere chinesische Unternehmen haben in Indien in Sektoren wie Maschinenbau, metallurgische Ausrüstung, Chemikalien, Autos, Seide und Ingenieurwesen expandiert.“3 Zudem sollen mehrere Abkommen Handel und wechselseitige Investitionen erleichtern, auch in Landwirtschaft und Erziehung. Reliance Industries, Indiens größtes privates Industriekonglomerat,4 will massiv in die expandierenden indischen Supermärkte investieren und dafür viele Produkte aus China beziehen. Für weniger als 2000 Euro soll ein chinesisch-indischer Pkw dem Volkswagen der indischen Tata-Gruppe Konkurrenz machen. Chinesische Touristen werden neuerdings mit Yoga, Bollywood und „Walk with the Buddha“ nach Indien gelockt. In wenigen Jahren wird Peking so vor der EU und den USA zum größten Handelspartner5 Indiens aufsteigen, ein Trend, der überall in Asien erkennbar ist. Obwohl Indien – zusammen mit China (Chindia) die zweitgrößte Ökonomie der Welt – hinsichtlich eines Freihandelsabkommens6 mit Peking aus Rücksicht auf die einheimische Industrie noch zögert, beauftragten Hu und Singh eine gemeinsame Arbeitsgruppe, Empfehlungen für liberale Handelsabkommen zwischen beiden Ländern bis Oktober vorzulegen.
Auch auf der Weltbühne betrachten sich China und Indien nicht länger als Rivalen und streben stattdessen eine konstruktive Zusammenarbeit an – nicht nur in Wirtschaftsfragen. Hu betonte in Delhi: „Die chinesisch-indischen Beziehungen haben den bilateralen Kontext überschritten und globale Dimensionen erlangt. Als die zwei am schnellsten wachsenden Ökonomien der Welt müssen Indien und China an globalen Themen wie Energiesicherheit, Umweltschutz, grenzüberschreitende Gewalt und einer Menge anderer Themen gemeinsam arbeiten.“7 Nach seinen Treffen mit Singh sprach Hu Jintao von einem „neuen historischen Beginn“ für Indien und China: „Die Etablierung einer strategischen Partnerschaft mit Indien ist von Seiten Chinas eine strategische Wahl (und war) keine politische Maßnahme.“8
Im Rahmen dieser Partnerschaft ist Peking nun auch bereit, mit Indien auf dem Gebiet ziviler Nuklearenergie zu kooperieren. Allerdings ist Pekings nukleares Angebot an die Bedingung gebunden, dass es seine anderweitigen außenpolitischen Interessen, vor allem gegenüber Pakistan, wahren kann. China bleibt also in der Nuklearfrage ambivalent: Die chinesische Führung verlangte, dass nicht nur Indien durch die Gesetzesänderung in den USA Vorteile in der Nukleartechnologie erhalten solle – bisher verbot die amerikanische Rechtsprechung eine nukleare Zusammenarbeit mit Staaten, die den Atomwaffensperrvertrag nicht unterzeichnet hatten. Damit rechtfertigt Peking seine Unterstützung von Pakistans Atomprogramm: Helfen die USA Indien bei der Nuklearenergie, könne China dies auch für Pakistan tun. Delhi hingegen würde sich wünschen, dass Peking das indisch-amerikanische Abkommen in der Nuclear Suppliers Group unterstützt. Die aus 45 Staaten bestehende Organisation muss das Abkommen noch genehmigen. Dazu war China bisher nicht bereit. Und obwohl Indien zu schätzen weiß, dass China sein Atomprogramm stillschweigend toleriert, testete es im April erfolgreich die Agni-III-Rakete, die mit nuklearen Sprengköpfen auch Peking erreichen kann.
Entwicklung, nicht Klimaschutz
In Heiligendamm sagte Manmohan Singh den G-8-Führern: „Wir sind nicht als Bittsteller, sondern als Partner für ein unparteiliches, gerechtes und faires Management des guten Einvernehmens der Nationen hierher gekommen.“9 Delhis und Pekings Positionen zum Klimawandel sind fast identisch, ungeachtet bilateraler Dissonanzen über die Wassernutzung des Brahmaputra.10 Beide lehnen – obwohl selbst von den Folgen des Klimawandels bedroht – für ihre rapide wachsenden Volkswirtschaften eine zeitlich fixierte und verbindliche Obergrenze ihrer Kohlendioxydemissionen ab. Entwicklung hat eindeutig Vorrang vor Klimaschutz. Ihr Motto: Gemeinsame, aber differenzierte Verantwortung, sprich mehr Beiträge seitens der G-8-Nationen. So legte Peking kurz vor dem Treffen in Heiligendamm ein Nationales Programm zum Klimawandel vor.
Darin verpflichtet es sich, seine Ökonomie durch höhere Energieeffizienz und saubere Technologien zu restrukturieren und den Waldbestand auszuweiten. Künftig sollen Wasser- und Windkraft sowie Energie aus Biomasse prioritär eingesetzt werden. Fast zeitgleich setzte Premier Singh einen interministeriellen Ausschuss zusammen mit NGO-Experten – darunter R. K. Pachauri, Vorsitzender des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) – ein, um eine eigene Position zum Klimawandel zu formulieren. Doch brennen Indiens politischer Führung die sozioökonomischen Verhältnisse in großen Teilen des Subkontinents – ca. 800 Millionen Menschen kämpfen mit weniger als zwei Dollar pro Tag um ihr Überleben – zu sehr unter den Nägeln, als dass es sein derzeitiges Wachstum von etwa neun Prozent durch eine radikale Umstrukturierung seiner Wirtschaft zum Nutzen von Umwelt und Klimaschutz kurz- und mittelfristig aufs Spiel setzen würde. Auf wirtschaftlicher Ebene zeichnen sich jedoch Veränderungen ab: Öffentliche und private Unternehmen sowie multinationale Konzerne investieren zunehmend in erneuerbare Energien mit einem geschätzten Potenzial von 85 000 Megawatt, davon die Windenergie mit 45 000 Megawatt.11
Und Europa?
China weiß: Es hat die Macht, das regionale und internationale System zu verändern. Und es sucht Wege, die von Seiten des Westens aufkommende Skepsis gegenüber seinem Aufstieg zu verhindern. Hus Theorem einer „harmonischen Welt“ behandelt vier Themen: effektiver Multilateralismus zwischen Staaten, Entwicklung eines kollektiven Sicherheitsmechanismus, Wohlstand für alle durch gemeinsame Entwicklung sowie Toleranz und Dialog zwischen verschiedenen Zivilisationen. Chinas Rolle als Motor regionalen Wirtschaftswachstums hat auch die Politik und Diplomatie in verschiedenen Teilen Asiens beeinflusst und das Potenzial für eine neue Sicherheitsordnung geschaffen. Dabei hat China bessere Möglichkeiten, eine gezielte Außenpolitik zu betreiben als Indien. Delhi konzentriert sich bislang vor allem auf die Demokratisierung der internationalen Beziehungen und die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten, sein Sicherheitsestablishment ist daher kaum vorbereitet, die Auswirkungen des chinesischen Aufstiegs konzeptionell zu erfassen, geschweige denn operativ damit umzugehen.
Chinas Einfluss ist gegenwärtig so groß, dass sich auf dem Subkontinent eine „Pax Chinensis“ entwickeln könnte. Wird Peking das asiatische Regionalsystem dominieren? Der China-Experte David Shambaugh betrachtet eine derartige Schlussfolgerung als verfrüht: „Das ist definitiv nicht der Fall. China teilt sich die regionale Bühne mit den Vereinigten Staaten, Japan, der ASEAN und immer mehr auch mit Indien.“12 Und der sicherheitspolitische Analytiker C. Uday Bhaskar meint: „Multipolarität auf globaler Ebene kann nicht ausgeglichen sein mit einem China, das Unipolarität in Asien anstrebt, indem es Indien und Japan entweder beschränkt oder bestraft. Asiens große Mächte müssen gemeinsam wachsen, wenn das folgende Jahrhundert friedlich und florierend sein soll. Die Alternative ist Finsternis.“13 Folgerichtig hat Indien erkannt, dass es konstruktiver Mitspieler bedarf; in diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, dass Japan Delhi neuerdings einen „speziellen ökonomischen Machtstatus“ zubilligt. Eine ausgewogene Haltung gegenüber dem nördlichen Nachbarn anzunehmen wird eine der härtesten außenpolitischen Herausforderungen Indiens darstellen – es muss kontinuierlich das kooperative Engagement mit China erweitern und sich zur gleichen Zeit beständig für ein stabiles asiatisches Gleichgewicht einsetzen.
Europa kann mit diesen beiden aufstrebenden asiatischen Giganten nur als politische Einheit umgehen, beide sind überzeugte Anhänger von Machtpolitik und des Konzepts eines Machtgleichgewichts, wie es in Europa im 19. Jahrhundert praktiziert wurde. Dabei könnte die EU, neben ihrer ausgeprägten wirtschaftlichen Präsenz, zum Modell einer regionalen Integration werden und Erfahrungen aus der Geschichte der EU sowie der KSZE und OSZE einbringen. In der gegenwärtigen historischen Phase verdient das demokratische Indien als die – im Vergleich zu China – noch schwächere und gemäßigtere Kraft angesichts seines wachsenden internationalen Status und seines gleichzeitig begrenzten und kontroversen regionalen Einflusses in Südasien aktive politische Unterstützung.14 Die Europäische Union sollte sich von ihrer starren Fixierung auf das autoritäre China lösen und durch koordinierte europäische Interaktionen zu einem ausgeglicheneren Umgang mit diesen beiden großen asiatischen Mächten kommen.
Der Aufstieg Chinas und Indiens verschiebt das globale Machtgleichgewicht von West nach Ost und von Europa sowie Nordamerika nach Asien. Rückblickend war es Jawaharlal Nehru, Indiens erster Premierminister, der den Gedanken einer „Eastern Federation“ mit Indien und China als Kern unterbreitete. Was damals als eine romantische Idee erschien, wird nun formell auf dem ostasiatischen Gipfel, mit Indien und China als Mitglied, diskutiert. Das nächste Treffen findet im November in Singapur statt. Für Singh und Hu besteht die Herausforderung darin, Nehrus Vision der Bildung eines neuen Asiens durch konstruktive chinesisch-indische Zusammenarbeit sowie eine baldige Lösung des Grenzproblems zu verwirklichen. Die westliche Welt und insbesondere Europa15 könnten eine prominente Rolle im weiteren Rahmen dieses Prozesses spielen, vorausgesetzt sie setzen ihre Stärken politisch und in einer intellektuell anspruchsvollen und glaubwürdigen Art ein.
Dr. C. RAJA MOHAN, geb. 1952, ist Professor an der S. Rajaratnam School of International Studies, Nanyang Technological University, Singapur.
Dr. KLAUS JULIAN VOLL, geb.1943, Leiter India-Europe Consultancy, ist Spezialist für indische Außen-, Sicherheits- und Innenpolitik.
- 1Narayanan Madhavan: G8 glass ceiling upsets India, The Hindustan Times, 11.6.2007, S. 11.
- 2Analytiker in Delhi bezeichnen dies als ein konservatives Ziel, das bereits vor Ende des Jahrzehnts erreicht werden könne, und nennen 50 Milliarden Dollar als angemessenen Richtwert.
- 3Gaurav Choudhury: India China trade set to hit $ 30 bn, The Hindustan Times, 13.11.2006, S. 20.
- 4Die Brüder Mukhesh und Anil Ambhani haben sich allerdings getrennt und das Unternehmen aufgeteilt.
- 5Indien avancierte 2006 zum zehntgrößten chinesischen Handelspartner.
- 6Swaminathan Anklesaria Aiyar: Free Trade Area or yuan trap?, The Times of India, 26.11.2006, S. 16.
- 7Rede vor dem Indian Council of World Affairs, zitiert in Kallol Bhattacherjee: Whooping it up. Chinese President Hu Jintao plays „Big Boy diplomacy“ in Delhi, The Week, 3.12.2006, S. 34/35.
- 8Zitiert in V. Sudarshan: Hu Visit. Back to the Future, The Outlook, 4.12.2006, S. 48.
- 9Narayanan Madhavan (Anm. 1).
- 10Indrani Bagchi: Watersharing clouds Indo-China ties, The Times of India, 12.6.2007, S. 11.
- 11More power to green energy, The Hindu Business Line, 12.6.2007, S. 8.
- 12David Shambaugh (Hrsg.): Power Shift. China and Asia’s New Dynamics, Berkeley, CA 2005, S. 23.
- 13C. Uday Bhaskar: Trade vs security, The Times of India, 21.11.2006, S. 28.
- 14C. Raja Mohan: China and Japan set to redefine South Asian Geopolitics, 30.3.2007, RSIS Commentaries (24/2007), S. Rajaratnam School of International Studies, Nanyang Technological University, Singapur.
- 15Klaus Voll und Doreen Beierlein (Hrsg.): Rising India-Europe’s Partner? Foreign and Security Policy, Politics, Economics, Human Rights and Social Issues, Media, Civil Society and Intercultural Dimensions, Berlin, Neu Delhi 2006.
Internationale Politik 7/8, Juli/August 2007, S. 74 - 79.