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01. Mai 2017

Schmerzliche Schnitte

Die Wirtschaftsblockade der ukrainischen Separatistengebiete ist gefährlich

Im Westen weitgehend unbemerkt, werden die russisch unterstützten „Volksrepubliken“ Donezk und Luhanzk seit März von Lieferungen vom Rest des Landes abgeschnitten. Die Separatisten haben mit der faktischen Verstaatlichung der Großbetriebe in ihren Gebieten reagiert. Ist das Minsker Abkommen noch zu retten?

Dass in der Ostukraine Krieg herrscht, ist seit nunmehr drei Jahren traurige Realität. Dieses Frühjahr ist aber eine Lösung des Konflikts zwischen der ukrainischen Regierung und den von Russland unterstützten Separatisten in deutlich weitere Ferne gerückt – weitgehend unbemerkt von der internationalen Öffentlichkeit. Denn im Verlauf des März haben die Ukraine und die separatistischen „Volksrepubliken“ ihre verbleibenden Handelsbeziehungen weitgehend gekappt. Die wirtschaftlichen Folgen werden aller Voraussicht nach verheerend sein.

Seit dem 1. März müssen sich alle steuerlich und juristisch in der Ukraine registrieren, aber im Donbass gelegenen Betriebe dem Diktat der Separatisten unterwerfen. Diese so genannte „Außen-“ oder „Fremdverwaltung“ ist juristisch keine Enteignung, bedeutet aber die Zwangsverwaltung durch die international nicht anerkannten „Volksrepubliken“. Die Separatisten ersetzten das Management durch eigene Leute, Gewerkschaften und Betriebsräte wurden gleichgeschaltet. Als Folge verlieren die Eigentümer komplett die Kontrolle über ihre Betriebe.

„Auf Wiedersehen, Ukraine!“

Unter neuer Führung soll die Ausrichtung der Unternehmen radikal gewendet werden: weg von der Ukraine und hin zu Russland. „Der 1. März ist der Tag, an dem wir ‚Auf Wiedersehen, Ukraine!‘ sagen“, erklärte der Donezker Separatistenführer Alexander Sachartschenko. Aus den „Volksrepubliken“ würden ab sofort keine Waren mehr in die Ukraine geliefert.

Die Separatisten begründeten ­ihren Schritt mit der verschärften Wirtschaftsblockade seitens der Ukraine. Seit Dezember behindern nationalistische Aktivisten den Warenverkehr mit den „Volksrepubliken“, indem sie zunächst Bahn- und neuerdings auch Straßenverbindungen blockieren. Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko kritisierte die Aktion zunächst als schädlich: Auf diese Weise werde eine Rückkehr der Separatistengebiete in den ukrainischen Staat erschwert. Premierminister Wolodymyr Hrojsman beschuldigte die Anführer der Blockade gar, im Interesse Russlands zu handeln.

Als die Aktivisten jedoch nicht nachgaben, machte Poroschenko am 16. März eine Kehrtwende und ordnete eine gesamtstaatliche Blockade gegenüber den „Volksrepubliken“ an. Der Schritt sei Teil der Landesverteidigung gegen die „hybride Bedrohung“ durch Russland, erklärte Poroschenko. In diesem Zusammenhang wies er ausdrücklich auf die „Enteignung“ ukrainischer Betriebe hin. Die Separatisten gefährdeten immer stärker ukrainische Wirtschafts- und Energieinteressen.

Zweifelsfrei ist: Sowohl die Blockade als auch die Übernahme der Betriebe sind klare Verletzungen des Minsker Abkommens, in dessen Maßnahmenpaket vom Februar 2015 (Punkt 8) sich alle Seiten verpflichteten, die Regionen wieder in die Ukraine einzugliedern und beim wirtschaftlichen Wiederaufbau zu helfen.

Sieg für Anhänger der „Isolierung“

Die jetzt eingetretene Situation ist ein Sieg für die Anhänger einer „totalen Isolierung“ der Separatistengebiete. Ihr prominentester Vertreter ist der einstige Interimspräsident und jetzige Sekretär des Sicherheitsrats, Oleksander Turtschynow, der als einer der Ideengeber der Blockade gilt. Ihm werden Ambitionen auf das Präsidentenamt nachgesagt.

Bereits im Dezember erklärte Turtschynow, dass der Donbass nur durch eine „harte Blockade“ zurückgewonnen werden könne, und verwies auf das Beispiel Kroatien, das 1995 die serbische Separatisten-Republik Krajina zurückerobert hatte.

Dabei sind die negativen Auswirkungen der Blockadepolitik in der Ostukraine beträchtlich – und zwar für beide Seiten. In den Separatistengebieten droht ein wirtschaftlicher Zusammenbruch, da hier praktisch alle großen Industriebetriebe ukrainischen Eigentümern gehören, allen voran dem aus Donezk stammenden Rinat Achmetow – dem wahrscheinlich wohlhabendsten und einflussreichsten Oligarchen des Landes.

20 Großbetriebe mit insgesamt rund 75 000 Angestellten in den Regionen Donezk und Luhanzk würden weiterhin von der Ukraine aus kontrolliert, schätzten ukrainische Medien Ende Februar; sie zahlen ihre Steuern auch an Kiew. 17 davon gehörten Achmetows Holding SCM, darunter auch der Energiegigant DTEK, der größte Stromversorger der Ukraine, der landesweit 4,4 Millionen Haushalte und 100 000 Unternehmen mit Elektrizität beliefert.

Laut Separatisten sind sogar noch mehr Betriebe betroffen. Allein in der „Volksrepublik Donezk“ sind es offiziellen Angaben zufolge 43. Viele dieser Betriebe mussten bereits vor dem 1. März wegen der Blockade die Produktion einstellen oder stark drosseln. Mit der Zwangsverwaltung sind aber die Chancen auf eine baldige Wiederaufnahme weiter gesunken.

Der Vorstandsvorsitzende von DTEK, Maxym Tymtschenko, erklärte, dass die Betriebe die Arbeit einstellen müssten, da sie nicht außerhalb der innerukrainischen Produktionsketten funktionieren könnten. „Als Folge wird der Unternehmensumsatz dramatisch sinken und die Arbeitslosigkeit dramatisch steigen“, warnte er in einer am 15. März verbreiteten Mitteilung.

So sind in der nordöstlich von Donezk gelegenen Stadt Jenakijewe die rund 5300 Angestellten des dortigen Hüttenwerks EMZ bereits seit Ende Februar ohne Beschäftigung. Die Separatisten haben versprochen, dass sie die Löhne fortzahlen werden. Doch woher das Geld kommen soll, wenn die Produktion mangels Rohstoffen und Absatzmärkten stillsteht, ist überaus fraglich. Eine Wiederaufnahme der Produktion bei EMZ würde pro Tag 584 Millionen Rubel (knapp zehn Millionen Euro) verschlingen, heißt es in einem Bericht des für die Zwangsverwaltung federführenden Donezker „Industrieministeriums“. Dieser Bericht erschien am 25. März auf der Website des offiziellen Mediensprachrohrs der „Volksrepublik“ – der Donezker Nachrichtenagentur –, verschwand allerdings wieder, nachdem ukrainische Medien über die Summe berichtet hatten.

Moskau muss zahlen

Kaum jemand glaubt, dass die „Volksrepubliken“ solche Gelder selbst aufbringen können. Beobachter gehen deshalb fest davon aus, dass Russland seit geraumer Zeit die aufgeblähten Haushalte der von keinem Land außer Südossetien anerkannten „unabhängigen Staaten“ finanziert. (Allein die kleine „Volksrepublik Luhansk“ leistet sich den Luxus von 17 Ministerien mit 17 nachgeordneten Behörden). Im vergangenen Jahr reichten Schätzungen der von Moskau aus dem nichtöffentlichen Teil des russischen Staatshaushalts geleisteten Zahlungen von 80 Millionen bis mehr als 450 Millionen Euro pro Monat.

Dabei waren einer der Hauptgründe, den die Separatisten für ihre Zwangsverwaltung anführten, die beträcht­lichen Steuereinnahmen, die von den betroffenen Betrieben an die Regierung in Kiew und nicht an sie entrichtet wurden. Die genaue Höhe dieser Steuern ist nicht bekannt. Schätzungen gehen aber davon aus, dass zwischen 1 und 5 Prozent der gesamten ukrainischen Steuereinnahmen des Jahres 2016, die nach Angaben des staatlichen Schatzamtes rund 616 Milliarden Hrywna (21,6 Milliarden Euro) betrugen, aus den Separatistengebieten in die Kiewer Staatskasse flossen.

Aller Wahrscheinlichkeit nach wird es den Separatisten nicht so schnell gelingen, solche Einnahmen zu erzielen. Folglich wird Moskau für die Kosten aufkommen müssen, wenn es auch nur eine minimale Industrieproduktion in seinen Protektoraten aufrechterhalten will. Das wiederum dürfte notwendig sein, wenn man dort keine sozialen Unruhen riskieren möchte.

Ein Klotz am Bein?

An diesem Punkt greift eines der Hauptargumente der ukrainischen Blockadebefürworter: Die Gebiete zu halten, soll für Russland so teuer wie nur möglich gemacht werden. Turtschynow will dabei wirtschaftlichen Niedergang sowie Unregierbarkeit forcieren, um das verlorene Land zurückzuerobern. Exil-Ukrainer glauben allerdings, dass Kiew sich mit einer Rückeroberung allzu große Belastungen aufbürden würde.

Der ukrainischstämmige amerikanische Politologe Alexander Motyl zum Beispiel, der seit Beginn des Konflikts dafür wirbt, den Donbass Russland zu überlassen, hat im Februar nochmal eindringlich vor einer Rückgabe an die Ukraine gewarnt: Die Sanierungskosten seien mit 20 Milliarden Euro zu hoch, mit dem harten Kern der Separatisten seien schwere Kämpfe zu erwarten, und am Ende würden die wieder hinzukommenden, prorussischen Bürger die Polarisierung des Landes vertiefen und prowestliche Reformen in der ganzen Ukraine behindern, schrieb Motyl.1

Die Frage, wie viele von den heute in den „Volksrepubliken“ lebenden Menschen bereit wären, wieder Teil der Ukraine zu sein, ist schwer zu beantworten, da es so gut wie keine gesicherten soziologischen Daten gibt. Fest steht nur, dass darüber in der Ukraine kaum debattiert wird. Typisch ist zum Beispiel die Aussage von Dmytro Tkatschenko, einem Berater des Kiewer Informationsministeriums, der in einem Interview mit dem Autor im Dezember 2016 erklärte, dass die Zustimmungsraten für die Separatisten automatisch fallen würden, seien erst einmal die Waffen und die russische Propaganda aus dem Donbass verschwunden.

Der Abbruch der letzten noch ­verbliebenen Wirtschaftsbeziehungen und die Verfestigung der Blockade machen es jetzt noch viel schwerer, die Menschen im Donbass zu erreichen. Die Befürworter einer friedlichen Reintegration gemäß des Minsker Abkommens kann das nicht freuen. Zudem besteht die Gefahr, dass die Politik ihr Heil in militärischen Offensiven sucht, um von einer drastischen Verschlechterung der Wirtschaftslage abzulenken.

Die Kosten der Blockade werden auch für die Ukraine spürbar. Mitte März verschob der Internationale Währungsfonds die Auszahlung einer Kredittranche in Höhe von einer Milliarde Dollar um zwei Wochen, um die wirtschaftlichen Folgen der Blockade zu studieren. Und die ukrainische Notenbank hat ihre Wachstumsprognose für dieses Jahr von 2,8 auf 1,9 Prozent nach unten korrigiert.

Prekäre Stromversorgung

Besonders prekär sind die Folgen für die Energieversorgung des Landes, vor allem in den von der Kiewer Regierung kontrollierten Teilen der Regionen Donezk und Luhansk. Viele der ukrainischen Heiz- und Wärmekraftwerke sind auf Steinkohle aus dem Donbass ausgelegt. Die so genannte Anthrazitkohle hat einen hohen Heizwert und ist wegen der kurzen Transportwege vergleichsweise billig.

Die einheimische Anthrazitkohle wird fast ausschließlich auf dem Gebiet der „Volksrepublik Luhansk“ gefördert. Ukrainische Unternehmen haben daher von dort zuletzt in großem Stil Kohle gekauft. Allein in den ersten zehn Monaten des Jahres 2016 waren es nach Angaben des Kiewer Energieministeriums 7,2 Millionen Tonnen mit einem geschätzten Wert von 385 Millionen Euro.

Der Handelsstopp stellt die ukrainischen Stromproduzenten vor ein großes Versorgungsproblem. Anfang April wurde bekannt, dass drei Wärmekraftwerke ihren Betrieb einstellen, weil die Kohle langsam knapp wird – zwei im Osten (in Dnipro und bei Charkiw) sowie ein weiteres bei Kiew. Und in Awdijiwka, einer von Regierungstruppen kontrollierten Stadt nördlich von Donezk, musste Europas größte Kokerei die Produktion um die Hälfte drosseln, weil Kohle und Strom fehlen, wie die Deutsche Welle berichtete.

Nicht erst seit Beginn der Blockade wird daher in der Ukraine darüber debattiert, die auf Anthrazitkohle ausgelegten Kraftwerke so umzurüsten, dass sie mit anderer Kohle betrieben werden können. Aber eine Umrüstung der betroffenen sechs Kraftwerke ist teuer – bis zu 20 Millionen Euro pro Kraftwerk – und zeitaufwändig: Während der bis zu acht Monate langen Arbeiten müssten die Blöcke komplett vom Netz genommen werden.

Eine letzte Hoffnung, die dauerhafte Abspaltung der „Volksrepubliken“ zu verhindern, liegt vielleicht in den willkürlich gezogenen West­grenzen. Die „Kontaktlinie“ genannte Front markiert lediglich, wo beide Seiten zur Jahreswende 2014/2015 militärisch zum Stehen gekommen sind – Wasser-, Strom- und Fernheizungsleitungen laufen kreuz und quer. Sie zu zementieren und undurchdringlich zu machen, ist nicht nur unmenschlich, sondern teuer.

Nikolaus von ­Twickel ist Journalist in Berlin. 2015/16 war er Medienverbindungsoffizier für die OSZE-Beobachtungsmission in Donezk. Er gibt hier seine persönliche Meinung wieder.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2017, S. 84-89

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