Richtungswahl in den USA
Die Wahl war kein Ausrutscher, ein neues imperiales Zeitalter ist angebrochen. Mit George W.
Bush werden sich die USA ganz von der Selbstbändigung der Macht verabschieden. Südstaatenrepublikaner,
christliche Fundamentalisten und Neocons sehen sich bestätigt, der Atlantik-Graben
wird breiter, so Ernst-Otto Czempiel, der große alte Herr der deutschen Amerika-Forschung.
Am 2. November 2004 haben die Amerikaner nicht nur ihren nächsten Präsidenten, sondern auch die politische Richtung bestimmt, in die sich ihr Land entwickeln soll. Präsident George W. Bush hatte in seiner ersten Amtszeit eine fundamental andere, den Unilateralismus und die militärische Gewalt bevorzugende Weltpolitik praktiziert, die die USA von ihren Verbündeten getrennt und in zwei aussichtslose Kriege verwickelt hat. Die Abweichung von der Tradition amerikanischer Außenpolitik ist so drastisch, dass sie von beiden Präsidentschaftsbewerbern in das Zentrum ihres Wahlkampfs gestellt wurde. Bush hat ihn klar gewonnen. Seine erste Amtszeit war also kein Ausrutscher der amerikanischen Politik, sondern Ausdruck einer veränderten Wählerschaft. War Bush 2000 sozusagen „auf Vorschuss“ gewählt worden, so diesmal mit Bedacht. Eine Mehrheit der USA bejaht das Politikangebot des Präsidenten, im Zeichen der Terrorismusabwehr eine imperiale, auf die überlegene Militärmacht der USA gestützte Politik zu betreiben.
Spurenelemente davon waren in der amerikanischen Weltpolitik seit 1945 erkennbar, aber immer nur kurzzeitig wirksam gewesen – auf beiden Seiten des Politikspektrums. Hatten beim Korea-Krieg noch die Republikaner das außenpolitische Sendungsbewusstsein der Demokraten gezügelt, so ließ Richard Nixon die Lust an einer „imperialen Präsidentschaft“ (Arthur Schlesinger) so deutlich erkennen, dass ihr der Kongress 1974 mit dem Kriegsvollmachtengesetz Grenzen setzen musste. Die Demokraten besannen sich unter Jimmy Carter darauf, dass der „Krieg gegen die Armut“ die Beschränkung auf Weltführung zur logischen wie zur fiskalischen Voraussetzung hatte. Bill Clinton bewarb sich 1992 mit diesem „Primat der Innenpolitik“ erfolgreich um die Präsidentschaft. Die Republikaner brachten hingegen in den Siebzigern mit dem „Committee on the Present Danger“ die Außenpolitik zurück und 1981 Ronald Reagan an die Regierung, der die Machtentfaltung nach außen zum Abbau des Sozialstaats benutzte. Unter ihm kam erstmals jene Mischung von Idealismus und militärischer Gewalt zustande, die sich so leicht in eine Ideologie verwandelt.
Die Attraktivität des gewaltbereiten Unilateralismus stieg nach 1990 beträchtlich an. Wäre es nach der Theorie des Realismus – und nach dem Appetit der sich selbst so nennenden Realpolitiker – gegangen, hätte die Weltmacht USA sogleich die Macht in der Welt übernehmen müssen. Aber sowohl der Republikaner George Herbert Bush wie sein Nachfolger Bill Clinton beließen es bei der vertrauten Hegemonie. Präsident Bush und sein Außenminister James Baker begleiteten Niedergang und Auflösung der Sowjetunion mit staatsmännischer Zurückhaltung und bemühten sich erfolgreich, die Wiedervereinigung Deutschlands und dessen Eingliederung in die NATO nicht als sowjetische Niederlage erscheinen zu lassen.
Der ältere Bush trieb vielmehr die kooperative Rüstungskontrollpolitik voran, verabredete mit Moskau die beiden START-Verträge und darüber hinaus den Abbau aller taktischen und seegestützten Kernwaffen. In den Vereinten Nationen setzte er die Anlage eines Waffenregisters durch. Führungsmacht bewies er mit der Einberufung der multilateralen Madrid-Konferenz 1992, die dem Nahost-Konflikt die Friedensperspektive von Oslo gab. Gegen die irakische Aggression brachte Bush eine respektable Koalition zusammen, bemühte sich um eine Autorisierung des UN-Sicherheitsrats und legte sich bei der Kriegführung eine Beschränkung auf, die angesichts der heutigen Lage in Irak nur als weise gelten kann. In das Zentrum der „Neuen Weltordnung“ stellte der Republikaner Bush die UN, mit führender Mitarbeit der USA. Das untertrieb deren machtpolitische Präponderanz, unterstrich zugleich aber den hegemonialen Charakter.
Dem blieb auch Nachfolger Bill Clinton treu, der aber bald kräftigen Gegenwind aus dem jetzt republikanisch dominierten Kongress bekam. Im Repräsentantenhaus hatten 1994 die rechten Republikaner unter Newt Gingrich das Heft in die Hand genommen. Ihren „Contract with America“ durchwehte ein kräftiger Hauch imperialer Politik aus der von einem Raketenabwehrsystem zu schützenden Festung Amerika.
Gegen den rechtsrepublikanischen Druck blieb Clinton – wie seinerzeit in ähnlicher Lage Harry Truman – nur die Flucht in die Außenpolitik. Er musste die den Europäern zugedachte vergrößerte Mitbestimmung in der NATO gegen die Osterweiterung der Allianz tauschen, in Bosnien-Herzegowina militärisch eingreifen, 1999 den Luftkrieg gegen Serbien führen – jetzt schon unter Umgehung des UN-Sicherheitsrats, aber wenigstens mit dem Einverständnis der NATO-Partner. Clinton hat im Dezember 1998 mit tagelangen Luftschlägen gegen den Irak dessen regelmäßige Bombardierung eingeleitet.
Aber er bewahrte den Führungsstil der Hegemonie und deren von Heinrich Triepel festgestelltes Kennzeichen: die Selbstbändigung der Macht. Clinton blieb bei seiner Einsicht, dass die USA ein großes Gewaltpotenzial besitzen, aber sich mit dessen Einsatz zurückhalten müssen. Er nahm die Bedrohung durch den internationalen Terrorismus nachweislich ernster als sein Nachfolger. Die Raketenangriffe auf Al-Khaïda-Lager in Afghanistan mögen als Reaktion auf die Beschädigung zweier amerikanischer Botschaften in Afrika nicht ausreichend gewesen sein; als zielgenaue Bekämpfung terroristischer Potenziale verdienen sie Beachtung.
Vor allem ging Clinton auch die Quellen des Terrorismus an, wenn er sich um die Beruhigung der regionalen Konflikte bemühte. 1996 veranlasste er Nord-Korea zum Verzicht auf die Herstellung von Nuklearwaffen und Langstreckenraketen. Zum Ende seiner Amtszeit hatte er den Nahost-Konflikt, eine der Hauptquellen des arabischen Terrorismus, einer Lösung nahe gebracht, der ausgerechnet Yasser Arafat sich verweigerte.
Der Republikaner George H. W. Bush und der Demokrat Bill Clinton demonstrierten, dass die kooperativ-multilateralen Strategien der Hegemonie der unipolaren Machtfigur des internationalen Systems erfolgreich gerecht wurden. Zwölf Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges befand sich die Welt in einer relativ ruhigen Situation, die nur noch auf die Lösung einiger regionaler Konflikte wartete.
Wenn die nachfolgende Administration George W. Bush sich einer anderen, eher imperial verfahrenden Weltpolitik zuwandte, dann lag das also nicht an der relativen Machtposition der USA in der Welt, sondern an den so ganz anderen außenpolitischen Zielen dieses Präsidenten. Er und führende Angehörige seiner Koalition orientierten sich nicht mehr am Modell der Hegemonie, sondern an dem des Empire, vertrauten nicht nur auf die Macht, sondern stützten sich auf militärische Gewalt, verlangten von Umwelt und Alliierten nicht nur Gefolgschaft, sondern Gehorsam.
Südstaatler im Rausch
Die Führungsgruppe der Bush-Sammlungsbewegung hatte schon 1997 das kommende Jahrhundert als das „amerikanische“ ausgerufen, das von Washington beherrscht werden sollte. Sie sah das amerikanische Machtmonopol nicht als Versuchung an, der zu widerstehen das Selbstverständnis der amerikanischen Außenpolitik ausgemacht hatte, sondern als höchstwillkommene Handhabe, weltpolitische Ziele durchzusetzen. Die Verbreitung von Demokratie, Freiheit und Wohlstand wurde von den Neocons notfalls auch der militärischen Gewalt anheim gegeben, deren Einsatz der christlich-fundamentalistische Flügel in seiner manichäischen Weltsicht mit dem Kampf des Guten gegen das Böse geradezu metaphysisch absicherte. Mit dieser ideologischen Mixtur verbanden sich handfeste geo- und energiepolitische Interessen, auch solche der Rüstungsindustrie. Die Sicherheit Israels spielte ebenfalls eine große Rolle. Hatte 1990 die Stunde Amerikas geschlagen, sah es Bushs Koalition als Pflicht an, deren Gunst 2001 endlich auszunutzen.
Das imperiale Programm macht überdeutlich, dass mit George W. Bush statt des vertrauten Ostküstenestablishments eine südstaatenrepublikanische Elite an das Ruder Washingtons gekommen ist. Ihre Weltsicht ist von einem hoch politisierten christlichen Fundamentalismus getragen und von den Neocons in ein außenpolitisches Programm gegossen worden. Seine Umsetzung in der ersten Amtszeit Bush hat die Republikanische Partei gespalten, aber dabei die Wahllandschaft Amerikas so umgeschichtet, dass der neue Imperialismus trotz beider Kriege und des gestärkten Terrorismus von einer deutlichen Mehrheit akzeptiert wurde.
Darin liegt die große Bedeutung dieser Wahl. Die USA sind in einen soziopolitischen Wandlungsprozess eingetreten, der über die Außenpolitik auch die Innenpolitik und die Zusammensetzung des politischen Konsenses verändert. Anders als vor vier Jahren, als der Kandidat George W. Bush eine bescheidene (humble) Außenpolitik und eine mitfühlende (compassionate) Innenpolitik versprochen hatte, wussten die Amerikaner diesmal, welche Zukunft sie mit Bush wählten: den Primat einer nach selektiver Weltherrschaft strebenden Außenpolitik, der sich die Innenpolitik, von der Wirtschafts- über die Sozial- bis hin zur Rechtspolitik, unterordnet.
Bush ist es gelungen, für diese mit der amerikanischen Tradition brechende Weltpolitik eine Mehrheit von Wählern zu gewinnen und zu behalten. In beiden Häusern des Kongresses wurden die republikanischen Fraktionen gestärkt, die sich schon bisher nicht durch besondere Vertrautheit mit der internationalen Umwelt ausgezeichnet hatten. Es ist also kaum zu erwarten, dass Bush wie damals Reagan in seiner zweiten Amtszeit den Weg zurück in die Mitte suchen wird. Wie er trotz der Katastrophe in Irak seine Außenpolitik im Wahlkampf kompromisslos und eher offensiv verteidigt hat, wird er sie jetzt, gestützt auf eine unanfechtbare Wählermehrheit, mit Verve fortsetzen.
Auf dem weltpolitischen Programm seiner Koalition stehen die Konsolidierung eines Washington gefälligen Herrschaftssystems in Irak und der Regimewechsel im Mittleren Osten, allen voran in Iran. Das Land beherrscht den Persischen Golf, den schon Carter als „vital“ für die Sicherheit Amerikas angesehen hatte. Iran könnte auch die Pläne des israelischen Likudblocks für die endgültige Lösung des Palästina-Problems ohne Palästinenserstaat ernsthaft gefährden.
Für solche Pläne braucht die Bush-Administration das „alte Europa“ und die NATO, weil die USA durch den Irak-Krieg finanziell und personell an den Rand ihrer konventionell-militärischen Leistungsfähigkeit gebracht worden sind. Der von Bush daher alsbald zu erwartende Druck auf die NATO wird das seit Jahren schwärende, 1999 und 2003 unverblümt zutage getretene Strukturproblem der Atlantischen Allianz weiter verschärfen: die asymmetrische Machtverteilung. Bush wird sie beibehalten, Europas Dienstleistungen in Anspruch nehmen wollen, ohne ihm dafür Mitsprache und Gleichberechtigung zu gewähren. Europa, und nicht nur Berlin und Paris, wird beides zur Bedingung der Kooperation werden lassen. Die Distanz zwischen Washington und Brüssel dürfte sich vergrößern.
Sie betrifft aber diesmal nicht nur die Regierungen. Erstmals hat sich in den Präsidentschaftswahlen 2004 gezeigt, dass zwischen USA und Europa die gesellschaftlichen Anforderungen divergieren. Das war, solange in den USA die alte Elite regierte, nicht der Fall. Jetzt driften die Präferenzen auseinander – die der Bush-Mehrheit für eine imperiale, die der Europäer für eine hegemoniale Weltpolitik. Damit dürften in den kommenden vier Jahren, jedenfalls in den beiden ersten, nicht nur die Wolken über dem Atlantik dunkler werden. Es scheint, als vergrößere sich die Wasserfläche.
Internationale Politik 11-12, November/Dezember 2004, S. 1-4
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