IP

01. Juli 2004

Der politische Terrorismus

Zu den größten Gefahren nach dem Ende des Ost-West-Konflikts gehört für den emeritierten
Frankfurter Politikprofessor der Terrorismus. Zwar haben Publizistik und Politikwissenschaft
bereits wichtige Beiträge zur „strategischen Aufarbeitung“ des Terrorismus geleistet, seine Erörterung
muss aber um seine entwicklungsgeschichtliche Interpretation und um die Analyse seiner
politischen Quellen und Ziele ergänzt werden. Eine solche Analyse, verbunden mit einer „Verhinderungsstrategie“,
wird von Czempiel hier vorgelegt.

Durch die Beiträge von Publizistik und
Politikwissenschaft hat die strategische Aufarbeitung des
Terrorismus schon bedeutende Fortschritte gemacht. Er bildet
die größte der sieben neuen Gefahren, die nach dem
Ende des Ost-West-Konflikts registriert worden waren,1 und
gleichzeitig die schwierigste. Der Terrorismus scheint an die
Stelle zu treten, die bis zum letzten Drittel des 20.
Jahrhunderts der traditionelle zwischenstaatliche Krieg
eingenommen hatte. Dass dieser Kriegstyp ausstirbt, war schon
1989 vorhergesagt worden,2 kann aber keinesfalls als gesichert
gelten. Zur Zeit allerdings ist die Gewalt aus dem
internationalen System in die Staaten eingewandert. 32 der 33
Kriege, die 2002 gezählt worden sind, waren
Bürgerkriege.3 An ihrem Anfang standen oft
„terroristische Akte“,4 die dann zur „low
intensity warfare“ und schließlich zum
Bürgerkrieg aufwuchsen. „Kleine Kriege“5 sind
das Kennzeichen der gegenwärtigen Epoche, die sich wieder
transnationalisieren und zu den „Neuen Kriegen“ der
Gegenwart6 entwickeln. Darin hat sich der Terrorismus jetzt
verselbständigt und zum „Terrorkrieg“
ausgewachsen.7

Wird die Politik also mit Beschreibungen des terroristischen
Phänomens gut versorgt,8 so herrscht an dessen Deutungen
kein Überfluss. Sie ist auch schwierig; denn „der
Terrorismus“ hinterlässt keine Spuren und
veröffentlicht keine Programme. Wenn die Attentäter
nicht sterben, verschwinden sie in der Gesellschaft. Deswegen
wohl hat die Wissenschaft sich auf die erkennbaren Strategien
des Terrorismus konzentriert. Die Politik spürt die
politischen Herausforderungen, aber nutzt den Deutungsfreiraum,
um sie für ihre jeweiligen Zwecke zu
instrumentalisieren.

Die Erörterung von Terrorismus muss aber um seine
entwicklungsgeschichtliche Interpretation und um die Analyse
seiner politischen Quellen und Ziele ergänzt werden. Das
kann – wie alles in diesem klandestinen Feld – nur
heuristisch geschehen, mehr vorsichtig fragend als apodiktisch
annehmend. Aber gerade weil der Terrorismus so gefährlich
ist, kann sich die Abwehr nicht auf den Einsatz
polizeilich-militärischer Gegenmaßnahmen
beschränken. Sie muss sich auch um die politischen Ziele
des Terrorismus und darum kümmern, wie man sie
bekämpfen kann.

Der moderne Terrorismus ist so neuartig, dass er mit seinem
vertrauten Erscheinungsbild nicht identifiziert werden kann.
Deswegen sollte der Begriff des Terrorismus undifferenziert
nicht weiter benutzt werden. Er verschleiert die Natur und die
Größenordnung der terroristischen Bedrohung,
erleichtert ihre politische Instrumentalisierung für
fremde Zwecke. Die in der westlichen Politik und Publizistik
gängige pauschale Subsumierung jeglicher Gewaltanwendung
gesellschaftlicher Akteure unter den Begriff des Terrorismus
entsorgt ihn sozusagen semantisch. Die Gewaltakte von New York
und Bagdad, von Madrid und von Tel Aviv werden über diesen
Begriff homogenisiert und des Nachdenkens über ihre
Ursachen und ihre Bekämpfungsstrategien entzogen. Vor
allem werden sie damit entpolitisiert.

Widerstand ist kein Terrorismus

Die Differenzierung des Terrorismusbegriffs muss damit
beginnen, das große Handlungsfeld des gesellschaftlichen
Widerstands abzutrennen. In Tschetschenien und in
Palästina, in Irak und in Afghanistan leisten
gesellschaftliche Akteure Widerstand gegen eine von ihnen
abgelehnte Herrschaft oder eine fremde Besetzung. Die Konflikte
sind klar, die Zieldifferenzen auch. Um Widerstand geht es auch
in den Bürgerkriegen, selbst wenn die Aufständischen
von den Herrschenden gern als „Terroristen“
diffamiert werden. Die vom Widerstand angewendeten Kampfweisen
sind bekannt, entsprechen der asymmetrischen Verteilung der
Gewaltpotenziale. Ebenso klar sind die moralischen
Maßstäbe, die an das Verhalten der Konfliktparteien
gegenüber Unbeteiligten an den Tag gelegt werden
müssen. Diese Problematik ist im Zusammenhang mit den
nationalen Befreiungskämpfen der
Entkolonialisierungsperiode ausführlich diskutiert worden.
So schwierig es ist, Aufstände und Bürgerkriege zu
befrieden, sie stellen ein vertrautes Phänomen dar, das
mit dem modernen Terrorismus nichts gemein hat. In dessen
Begriff hinein gehört zunächst seine blinde und
gesichtslose Variante, wie sie beispielsweise bei den
Giftgasanschlägen der AUM-Sekte in Tokio und dem
Sprengstoffattentat auf ein Bürogebäude in Oklahoma
zutage trat. Die Idiosynkrasien bei den Tätern ersetzen
nicht die völlig fehlende Programmatik. Derlei Terrorismus
hat es immer wieder gegeben; er ist auch nicht auszurotten.
Allerdings ist er auch nicht relevant.

Im Zentrum des Terrorismusbegriffs stehen vor allem die
Gewaltakte gesellschaftlicher Akteure, die nicht zum
Einzugsbereich des Widerstands gehören, sondern politisch
diffuse, aber durchaus identifizierbare Ziele verfolgen. Die
Gewaltakte richten sich keineswegs nur gegen Unschuldige,
sondern, wie der Angriff vom 2. Oktober 2000 auf den
amerikanischen Zerstörer „Cole“ zeigte und die
erwarteten Attacken auf westliche Kommunikationseinrichtungen
und Informationsstrukturen (cyberwar) erkennen lassen, auch auf
militärisch äußerst relevante Ziele. Schon
deswegen darf der Terrorismus nicht von seinen Objekten her
bestimmt werden. Auch richten sich militärische
Gegenmaßnahmen immer zugleich auf Nichtkämpfer und
nehmen deren physische Beschädigung bis hin zu ihrem Tod
als so genannte Kollateralschäden in Kauf. Seit den
Kabinettskriegen des 18. Jahrhunderts gehören Zivilisten
zu den Opfern zwischenstaatlicher Kriege. Der Begriff des
Staatsterrorismus ist ein Pleonasmus und deswegen
überflüssig.

Unter den Terrorismusbegriff fallen also hauptsächlich
Gewalthandlungen gesellschaftlicher Akteure gegen Unbeteiligte
und Soldaten, gegen zivile oder militärische
Einrichtungen, ohne dass ein Zustand des Widerstands herrscht.
Vielmehr werden die Gewalthandlungen von diffusen, aber
erkennbar politischen Zielen motiviert. Für diese Variante
bietet sich der Begriff des politischen Terrorismus an. Nicht
seine Strategien unterscheiden ihn vom blinden Terrorismus,
sondern die Absicht, physische Gewaltanwendung zugunsten
politischer Interessen einzusetzen.

National – Transnational

In seiner nationalen Variante tritt dieser politische
Terrorismus in der Ermordung irakischer Politiker und
Polizisten zutage, in den Sprengstoffattentaten auf die
amerikanischen Botschaften in Nairobi und Daressalam und auf
westliche Geschäftsleute in Saudi-Arabien. Aus der Auswahl
der Opfer ergibt sich die politische Zielrichtung, nämlich
die Vertreibung von Ausländern, die Abschreckung des
Tourismus, die Bestrafung von
„Kollaborateuren“.

Dieser politische Terrorismus bewegte sich lange Zeit im
nationalen Rahmen, wenn er darin auch vom – meist
benachbarten – Ausland Hilfe bekam. Die
Politikwissenschaft spricht daher vom „transnationalen
Terrorismus“.9 Der Begriff betont den
grenzüberschreitenden Charakter der Handlungen, nicht den
politischen; er sollte aber im Vordergrund bleiben. Auch im
transnationalen Terrorismus greifen gesellschaftliche Akteure
zur Gewalt, um politische Forderungen gegenüber
Ausländern und ausländischen Einrichtungen sowie
gegenüber der eigenen Regierung durchzusetzen. Durch die
Transnationalisierung besitzt dieser politische Terrorismus
eine überstaatliche, allerdings weitgehend nur regionale
Reichweite, wie z.B. Al Khaïda und, in Asien, Jemaah
Islamiya.10 Sie nehmen für sich in Anspruch, die von ihnen
als politisch zentral angesehenen Interessen mit Gewalt
durchzusetzen, auch wenn sie dafür mit dem eigenen Leben
bezahlen müssen.

Mit den Angriffen auf New York und Washington hat sich der
transnationale Terrorismus internationalisiert, ist in das
internationale System vorgedrungen und hat sich dort als
gesellschaftlicher Akteur etabliert. Erstmals in der Geschichte
haben gesellschaftliche Akteure einen weit entfernten
westlichen Staat, dazu noch die Supermacht USA, mit einem
Gewaltakt angegriffen. Dessen Opferzahlen kamen denen einer
mittleren Schlacht gleich. In Madrid, am 11. März 2004,
hat der zweite Angriff dieser Kategorie stattgefunden, die mit
den Erscheinungsformen und Folgen des
nationalen/transnationalen Terrorismus nicht zu vergleichen
ist. Diese Kategorie bedroht tendenziell die gesamte Welt der
Industriestaaten; eine größere Gefahr ist, sieht man
von einem Nuklearkrieg zwischen den Großmächten ab,
kaum denkbar.

Um dieses Novum richtig einzuschätzen, muss man es als
vorläufigen Höhepunkt eines seit längerem
erkennbaren Strukturwandels des internationalen Systems und der
internationalen Politik begreifen. Es gehört in die
gesellschaftlichen Emanzipationsprozesse, die seit der Mitte
des 20. Jahrhunderts den euroatlantischen Teil des
internationalen Systems erfasst haben. Von dort breiteten sie
sich in die Welt aus. Innenpolitisch präsentierten sich
diese Prozesse als Demokratisierung der Herrschaftssysteme, als
zunehmende Teilhabe der Bürger an den Entscheidungen ihrer
Regierung. Im Jahr 2004 gibt es 89 Demokratien in der Welt,
also doppelt so viele wie 1972. Zählt man die
„defekten Demokratien“ noch dazu, steigt die Zahl
auf 145, also auf drei Viertel aller Staaten in der Welt. Die
Demokratisierung wirkt in unterschiedlicher Weise auf die
Außenpolitik der Staaten ein, sie kann sie auch
radikalisieren. Unabdingbar ist es in jedem Fall, hinter den
Regierungsentscheidungen den gesellschaftlichen Konsens zu
erfassen und zu berücksichtigen.

Im internationalen System hat dieser gesellschaftliche
Emanzipationsprozess dazu geführt, dass das Monopol der
Regierungen bei der Gestaltung der internationalen Politik
immer mehr von gesellschaftlichen Akteuren unterlaufen wird,
die ihre eigenen Handlungszusammenhänge errichten. Die
Regelungskompetenz der Regierungen wird weiter geschwächt
durch die wachsende Interdependenz zwischen den Staaten. Sie
hat die Politik „entgrenzt“,11 also aus dem
territorial definierten Herrschaftsbereich herausgeführt,
in dem die nationale Regelungskompetenz greift. So wird
beispielsweise die Weltwirtschaft beherrscht von 40000
transnationalen Konzernen und ihren mehr als 250000
Tochtergesellschaften. In die von den Nationalstaaten nicht
mehr gefüllte Regelungslücke haben sich die mehr als
250000 Nichtregierungsorganisationen eingebracht. Auch die
organisierte Kriminalität hat sich als gesellschaftlicher
Akteur im internationalen System etabliert, allerdings ohne
politische Ambitionen.

Als Folge dieser Veränderungen12 hat sich das 1648
errichtete internationale System der Staatenwelt deutlich
abgeschwächt. Es bildet noch einen geographischen Rahmen
der Weltordnung, aber nicht mehr deren Faktor. Die beiden
früheren Bundespräsidenten Richard Freiherr von
Weizsäcker und Roman Herzog notierten bereits den Beginn
der „Weltinnenpolitik“. Analog verstanden ist
dieser Begriff sehr hilfreich, weil er den Strukturwandel des
internationalen Systems mit einem Schlaglicht beleuchtet. Die
Regierungen spielen zwar nach wie vor eine dominierende Rolle,
können sie aber nicht mehr über gesellschaftliche
Akteure erstrecken, die in das System eingewandert sind.

… ein Produkt der Gesellschaftswelt

Dieser Kreis der globalen Akteure wird seit dem 11.
September 2001 mit dem internationalen politischen Terrorismus
weiter aufgefüllt. Er ist also keineswegs ein krimineller
Ausrutscher der Geschichte, kein Produkt destabilisierter
Staaten (failing states), das mit „Nation-Building“
und dem notwendigen Gewaltaufwand aus dieser Welt auch wieder
vertrieben werden kann. Dieser internationale politische
Terrorismus ist vielmehr der äußerste,
radikalisierte Ausdruck der gesteigerten Relevanz
gesellschaftlicher Akteure in der internationalen Politik. Das
internationale System bedarf eines neuen Steuerungsmodus, der
die im internationalen System tätigen gesellschaftlichen
Akteure wieder einhegt und in die noch zu
vervollständigende Ordnung der multilateralen,
polyarchischen Welt einbindet.13 Diese Aufgabe ist nicht neu,
aber sie wird durch den neuen internationalen Akteur, den
politischen Terrorismus, zu einer Überlebensfrage der Welt
zugespitzt.

Der bis jetzt zwei Mal aufgetretene internationale
politische Terrorismus ist also im Kontext der strukturellen
Veränderung des internationalen Systems zu sehen und muss
als dessen Bestandteil begriffen werden. Es überbewertet
ihn, wer darin schon den Beginn eines Weltbürgerkriegs
erkennt. Dafür ist der Integrationsgrad der Welt zu
gering, ebenso der politische Einzugsbereich der
gesellschaftlichen Akteure. Es unterbewertet ihn aber, wer ihn
nur als Produkt einer fanatisierten fundamentalistischen
Religiosität ansieht. Der politische Terrorismus ist vor
allem ein Produkt der Politik.14

Präsident George W. Bush hat daher völlig Recht,
den „War on Terror“ auszurufen. Die Attentate von
New York und Madrid haben sehr wohl kriegerischen Charakter.
Zwischen deren gesellschaftlichen Urhebern und dem Westen
herrscht ein – wenn auch „asymmetrischer“
– Krieg. Dieser Begriff sollte aber den Westen nicht dazu
verleiten, gegen diese asymmetrische Herausforderung
traditionelle Kriegsstrategien einzusetzen, also die Asymmetrie
zu verfestigen. Die Versuchung dazu ist groß und im
kategorialen Rahmen der alten Staatenwelt auch nahe liegend.
Gewaltanwendung durch gesellschaftliche Akteure ist illegal,
ihre Unterstützung durch Staaten ein feindseliger Akt. Ob
das auch in der entstandenen Gesellschaftswelt so gelten wird,
muss deren Völkerrecht, das sich erst in der Entwicklung
befindet, klären. Sich jedenfalls nur auf alte Rechte und
Strategien zu verlassen, ist unter den neuen Bedingungen nicht
Erfolg versprechend. Der Krieg gegen Irak hat den
internationalen Terrorismus nicht geschwächt, sondern hat
ihn gestärkt.15 Bei der Abwehr dieses neuartigen Gegners
ist also Innovation gefragt.

Ordnung gegen Terror

Selbstverständlich muss, um weitere Angriffe zu
verhindern, die Kooperation der Innenminister und Geheimdienste
dringend verbessert werden.16 Die seit langem beschworene
freiwillige Einbindung unzureichend gewordener nationaler
Souveränität in eine multilaterale Zusammenarbeit,
die die Regierungsfähigkeit wieder herstellt, – hier
ist sie unmittelbar gefordert.

Erfolgreich wird diese Verhinderungsstrategie aber erst
durch ordnungspolitische Maßnahmen, die dem politischen
Terrorismus politisch entgegentreten. Der ehemalige CIA-Chef
Robert M. Gates und der gegenwärtige Leiter des BND,
August Hanning, haben immer wieder darauf aufmerksam gemacht.
Der politische Terrorismus ist nur zu besiegen, wenn ihm sein
gesellschaftliches Umfeld genommen wird. Es bildet den
„zu interessierenden Dritten“.17 Versagt er dem
politischen Terrorismus die Zustimmung, wie es seinerzeit die
bundesrepublikanische Gesellschaft gegenüber der RAF tat,
fällt er in sich zusammen. Diese Absage
herbeizuführen, ist die wichtigste strategische Aufgabe.
Sie braucht Zeit, zumal schon viel Zeit versäumt worden
ist, aber sie verspricht verlässlichen Erfolg.

Gerade diese Bindung des politischen Terrorismus an sein
gesellschaftliches Umfeld weist ihn als eminent politisches
Phänomen aus. Der einzelne Attentäter mag ein
„fundamentalistischer Überzeugungstäter mit
absoluter Heilsgewissheit sein“;18 das der
Tatbereitschaft zugrunde liegende Ursachenbündel ist stets
individuell und post mortem sowieso nicht zu beeinflussen. Das
Telos der terroristischen Handlung selbst aber ist immer
politischer Natur. Religiöse Überzeugungen
können diese politischen Zielsetzungen unterfüttern,
vermindern aber nicht ihren politischen Charakter.19

Der islamistische Terror ist auch nicht im Ideologischen
verortet;20 er richtet sich weniger gegen die westlichen Werte
als gegen die westliche Politik. Deren prominenten Vertretern
war das nach dem 11.9.2001 sofort evident.21 Die frühe
Einsicht fiel dann der amerikanischen Entscheidung für den
Irak-Krieg zum Opfer.22 Sie blieb aber in Westeuropa erhalten
und drängt aufgrund der Schwierigkeiten der amerikanischen
Position in Irak wieder nach vorn.

Von der westlichen Dominanz fühlen sich vor allem die
arabischen Gesellschaften, aber auch die muslimischen Staaten
nichtarabischer Völker betroffen, so dass der enge Bezug
zwischen der kulturellen und der politischen Dimension sichtbar
wird. Er stellt jedoch die Prärogative der Politik nicht
in Frage. Die Front, auf die der „War on Terror“
trifft, ist politisch, und sie besitzt auch eine Etappe.

Hatte im Mittleren Osten schon 2002 ein „vorwiegend
negatives Bild“ der USA geherrscht,23 so verschlechterte
es sich nach dem Einmarsch in Irak zu einem
„schockierenden Grad von Feindschaft gegen
Amerika“.24 2004 ergab eine Umfrage in Irak, dass nur
zwei Prozent der irakischen Bevölkerung mit dem
amerikanischen Krieg gegen das Land einverstanden gewesen sind.
Das State Department riet im Sommer von Reisen in 25 Staaten ab
und warnte vor Besuchen in 17 weiteren.25 Mitte Juni 2004
forderte das Außenministerium alle amerikanischen
Bürger auf, Saudi-Arabien zu verlassen, ein Land, mit
dessen Regierung sich die USA besonders verbunden fühlen.
Der politische Terrorismus weist also ein tief gestaffeltes
gesellschaftliches Umfeld auf, in dem inzwischen auch die
westliche Wirtschaft Schaden nimmt.26

Dieses Umfeld ist weder die Ursache des Terrorismus noch ist
es selbst terroristisch. Es dürfte sogar mehrheitlich die
Strategien der Terroristen ablehnen, identifiziert sich aber
grosso modo mit deren politischen Zielvorstellungen. Sie sind
eben kein Monopol radikalreligiöser Extremisten. Die in
einem vom Institut für Auslandsbeziehungen
veröffentlichten Kollektivpapier sechs muslimischer
Intellektueller aus sechs muslimischen Ländern
geäußerte Kritik an der westlichen Politik, die in
ihren Augen den europäischen Kolonialismus gegenüber
der muslimischen Welt bis heute fortsetzt, muss in ihrer
Schärfe jeden westlichen Leser überraschen.27 In
diesen Perzeptionen breiter muslimischer
Bevölkerungsschichten entspringt die wichtigste Quelle des
politischen Terrorismus. Hinzu kommen die Ressentiments
über die Ungleichverteilung der in der Globalisierung
erzeugten Werte.

Will die Bekämpfung des politischen Terrorismus
erfolgreich sein, muss sie sich mit diesem Umfeld auseinander
setzen. Gelingt es, dessen Perzeptionen zu verändern, ist
der politische Terrorismus erledigt. Der G-8-Gipfel im Juni
2004 auf Sea Island ließ erkennen, dass sich die
westliche Politik dessen bewusst wird. Das eigene Interesse so
zu definieren – schrieb vor fünfzig Jahren Hans J.
Morgenthau –, dass es mit dem anderer Staaten kompatibel
wird, ist in einer multilateralen Welt die Forderung der
politischen Moralität und in einem Zeitalter des totalen
Krieges eine Bedingung des Überlebens.28

Anmerkungen

1 Vgl. Dieter Wellershoff, Mit
Sicherheit. Neue Sicherheitspolitik zwischen gestern und
morgen, Bonn 1999.

2 Vgl. John Mueller, Retreat from
Doomsday. The Obsolescence of Major War, New York 1989.

3 Vgl. Heidelberger Institut für
Internationale Konfliktforschung, Konfliktbarometer 2002,
Heidelberg 2003.

4 Vgl. Michael T. Klare & Peter
Kornbluh, Low Intensitiy Warfare. Counterinsurgency,
Proinsurgency, and Antiterrorism in the Eighties, New York
1987.

5 Vgl. Christopher Daase, Kleine Kriege
– große Wirkung. Wie unkonventionelle
Kriegsführung das internationale System verändert,
Baden-Baden 1999.

6 Vgl. Herfried Münkler, Die Neuen
Kriege, 6. Aufl., Hamburg 2003.

7 Ebenda, S. 189.

8 Vgl. das Themenheft
„Terrorismus“, Internationale Politik (IP),
2/2004.

9 Vgl. Ulrich Schneckener,
Transnationale Terroristen als Profiteure fragiler
Staatlichkeit, SWP-Studie S 18, Berlin, Mai 2004, S. 15 ff.

10 Ebenda.

11 Einzelheiten dazu bei Mathias Albert,
Entgrenzung und internationale Beziehungen: Der doppelte
Strukturwandel eines Gegenstandes und seines Faches, in:
Gunther Hellmann/Klaus Dieter Wolf/Michael Zürn (Hrsg.),
Die neuen Internationalen Beziehungen. Forschungsstand und
Perspektiven in Deutschland, Baden-Baden 2003, S.555ff.

12 Vgl. dazu Czempiel, Kluge Macht.
Außenpolitik für das 21. Jahrhundert, München
1999, S. 17–67.

13 Vgl. Michael Zürn, Regieren
jenseits des Nationalstaates, Frankfurt am Main 1998.

14 Dazu grundlegend Harald Müller,
Amerika schlägt zurück. Die Weltordnung nach dem 11.
September, Frankfurt am Main 2003, S.72 ff.

15 Vgl. Richard A. Clarke, Against All
Enemies. Der Insiderbericht über Amerikas Krieg gegen den
Terror, Hamburg 2004, S. 321 ff.

16 Vgl. dazu Lothar Brock/Bruno Schoch,
Was ist das Neue am internationalen Terrorismus?, in:
Friedensgutachten 2002, S. 33 ff.

17 Vgl. Peter Waldmann, Terrorismus.
Provokation der Macht, München 1998.

18 Vgl. Stefan Bisam/Uwe Gerstenberg,
Neue Sicherheitsstrukturen als Antwort auf terroristische
Anschläge, in: Kai Hirschmann/
Christian Leggemann (Hrsg.), Der Kampf gegen den Terrorismus.
Strategien und Handlungserfordernisse in Deutschland, Berlin
2004, S. 320.

19 Vgl. Müller (Anm. 14), S. 71
ff.

20 Vgl. Peter Hünseler,
Grundzüge einer Weltsicht islamistischer Fundamentalisten,
in: Hirschmann/Leggemann, a.a.O. (Anm. 18), S. 18–40.

21 Vgl. Czempiel, Weltpolitik im
Umbruch. Die Pax Americana, der Terrorismus und die Zukunft der
internationalen Beziehungen, 4. Aufl., München 2003, S.
50.

22 Vgl. Bob Woodward, Bush at War.
Amerika im Krieg, Stuttgart/München 2003, S. 100 ff.

23 Vgl. Müller (Anm. 14).

24 Vgl. Clarke (Anm. 15).

25 Vgl. Brock/Schoch (Anm. 16).

26 Vgl. Waldmann (Anm. 17).

27 Vgl. Woodward (Anm. 22) und Hermann
Simon, Terrorismus: Bremse des Welthandels, in: IP, 6/2002, S.
17–22.

28 Vgl. Hans J. Morgenthau, The Problem
of the National Interest, in: ders., Dilemmas of Politics,
Chicago 1958, S. 74.

Für Vollzugriff bitte einloggen.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 7, Juli 2004, S. 74-81

Teilen

Mehr von den Autoren

0

Artikel können Sie noch kostenlos lesen.

Die Internationale Politik steht für sorgfältig recherchierte, fundierte Analysen und Artikel. Wir freuen uns, dass Sie sich für unser Angebot interessieren. Drei Texte können Sie kostenlos lesen. Danach empfehlen wir Ihnen ein Abo der IP, im Print, per App und/oder Online, denn unabhängigen Qualitätsjournalismus kann es nicht umsonst geben.