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01. Mai 2005

Strategien der Demokratisierung

Intervention und Freiheit im Zeitalter der Interdependenz

Demokratisierungsbestrebungen von außen stellen die intervenierenden Akteure vor zahlreiche Probleme: Versprechen direkte, militärische Strategien den erwünschten Erfolg? Oder kann ein Land nur über die Mobilisierung der Gesellschaft zur Emanzipation, der Hilfe zur Selbsthilfe dauerhaft demokratisiert werden? Die Suche nach der richtigen Strategie.

Ein Wellenschlag der Demokratisierung durchläuft den Mittleren Osten.1 Wer hätte das gedacht? Noch im vorigen Jahr galt er als Hochburg des klientelistischen Autoritarismus, als der letzte weiße Fleck auf der Weltkarte der Demokratisierung. Was hat den Wandel bewirkt? Der amerikanische Präsident George W. Bush kann darauf verweisen, dass er den Regierungswechsel im Irak immer als Schleusenöffner für die Welle der Demokratisierung verstanden hatte, dass eingetreten sei, was er angelegt habe. Absolut unbestritten ist der Beitrag, den er mit seiner Inaugurationsansprache vom 20. Januar 2005 für diese Bewegung geleistet hat. Bush hat seine zweite Amtszeit in das Zeichen des Kampfes gegen die Tyrannei gestellt. Mit den Worten: „Die beste Hoffnung für Frieden in unserer Welt liegt in der Ausbreitung von Freiheit überall in der Welt“, gab Präsident Bush eine „Revolution“ in seiner Außenpolitik bekannt.2 Nicht mehr das Böse soll aus der Welt vertrieben werden, sondern die Tyrannei.

Zutage trat am 20. Januar ein für Präsident Bush neues, aber für die USA traditionelles Ziel der Außenpolitik, nämlich die Kriegsursachen auszurotten und Frieden und Freiheit in der ganzen Welt durchzusetzen.3 Auf die dazugehörigen Strategien der Demokratisierung hatte schon Präsident Woodrow Wilson hingewiesen, der  aufnahm, was vor ihm von europäischen Denkern wie Machiavelli, Montesquieu, Kant und von der europäischen Friedensbewegung des 19. Jahrhunderts formuliert worden war, nämlich dass republikanisch-demokratische Herrschaftssysteme eine friedliche Außenpolitik erzeugen. Die moderne Friedensforschung hat diesen Zusammenhang seit Jahrzehnten untersucht und zumindest in einem Punkt als evident nachgewiesen: Demokratien wenden im Verhältnis untereinander keinerlei Gewalt an. Alle Friedenszonen der Welt, notabene in Europa, bestehen aus Demokratien.

Präsident Bush hat sich mit seiner Rede in diese Tradition gestellt. Sein Kampfruf gegen die Tyrannen hat den Demokraten im Mittleren Osten, in der Ukraine und in Kirgistan massiv den Rücken gestärkt und sie damit ermutigt, den Welttrend zur Demokratisierung endlich auch in den Mittleren Osten eindringen zu lassen. Dieser Trend befindet sich, wie es Samuel Huntington beschrieben hat, in seiner dritten Welle. Sie hat in den siebziger Jahren begonnen; der amerikanische Präsident Jimmy Carter und sein Sicherheitsberater Brzezinski hatten 1978 als Erste gemerkt, dass die Menschenrechte die „Welle der Gegenwart“ bilden, die „zentrale Form, in der die Menschheit erneut ihr politisches Erwachen ausdrückt“.4

Die westliche Politik braucht diesen makrohistorischen Trend im Mittleren Osten nur zu fördern, indem sie die endogenen Demokratisierungsbewegungen von außen unterstützt. Ganz aktuell stellt sich diese Aufgabe im Iran, bei dem sich die „europäischen Drei“ – Frankreich, Großbritannien und Deutschland – um eine demokratische Gewährleistung seines Nuklearwaffenverzichts bemühen, während im Hintergrund die Vereinigten Staaten die schon gegen den Irak eingesetzte Gewalt bereithalten. Die Europäische Union hat mit ihrer Demokratisierungsstrategie vor allem bei der Heranführung der Beitrittsländer große und gute Erfahrungen gemacht.

Die Erfahrungen, die die Vereinigten Staaten im Irak gemacht haben, weisen den Gewalteinsatz nicht als geeignete Strategie für die Demokratisierung aus. Er hatte sich schon in der Vergangenheit nicht bewährt. Von den 16 Versuchen Amerikas im vergangenen Jahrhundert, die Demokratisierung mit Gewalt zu exportieren, waren nur drei erfolgreich: auf der Gewürzinsel Grenada, einem Ministaat, sowie in Deutschland und Japan nach 1945.5 Aber hier hatte der Gewalteinsatz zur Abwehr bewaffneter Aggressionen gedient, nicht zur Demokratisierung, die lediglich die Vorteile der Besatzungszeit ausnutzte. Was die Vereinigten Staaten im Vietnam-Krieg und bei ihrer Intervention in Somalia erlebten, oder die Sowjets in Afghanistan, beweist zusätzlich, dass gewaltsame Interventionen von außen zur Veränderung der Herrschaftssysteme das falsche Entree für die Demokratisierung sind.

Ob die Demokratisierung gelingt, hängt im Wesentlichen davon ab, dass die richtigen Strategien eingesetzt werden. Andernfalls bliebe – auch das  nichts Neues in der internationalen Politik – die Deklaration folgenlos oder würde, schlimmer noch, eine Politik verschleiern, die ganz anderen Zielen dient. Was gemeint ist, ergibt sich in der Politik erst aus der Ausführung.

Wer demokratisiert, interveniert

Die Demokratisierung von außen stellt erhebliche Anforderungen an die strategische Kompetenz der Akteure. Es gilt, schwierige normative und zahlreiche operative Probleme zu lösen. Wer ein Herrschaftssystem von außen demokratisieren will, interveniert in die inneren Angelegenheiten des betreffenden Staates. Sind Inhalt und Umfang des Interventionsbegriffs nach wie vor umstritten, so gilt die Entscheidung über das Herrschaftssystem als Kern der inneren Angelegenheiten. Sich dort einzumischen, ist Intervention pur. Sie ist, mit gutem Grund, völkerrechtlich verboten.

Erst in der modernen Gesellschaftswelt stellt sich die Frage, ob wegen des Zusammenhangs von diktatorialem Herrschaftssystem und Aggressivität die Nachbarn eines Staates nicht berechtigt sind, um ihrer eigenen Sicherheit willen für die Errichtung eines demokratischen Herrschaftssystems zu sorgen. Da jede Diktatur die Bevölkerung, den eigentlichen Souverän, unterjocht und die Menschenrechte mit Füßen tritt, wächst den Nachbarn sogar eine Pflicht zur Einmischung zu. Der frühere Bundesverteidigungsminister Rudolf Scharping hatte das bei der Intervention in Serbien auf den Begriff gebracht: „Wir dürfen nicht wegsehen.“

Das klassische Interventionsverbot schlägt also in der Gesellschaftswelt in ein Interventionsgebot um. Allerdings muss die Einmischung gewaltfrei verlaufen. Nur dann entfällt das Odium, das schon der humanitären Intervention des 19. Jahrhunderts anhaftete, nämlich letztlich doch die Machtexpansion des Interventen zu betreiben. Es zeigte sich deutlich beim Kosovo-Krieg der NATO. Im Westen galt er als Schutz für die Albaner,   weltweit aber als Lückenschluss der NATO, die nun vom Atlantik bis zum Schwarzen Meer reicht. Der amerikanische Irak-Krieg dient in arabischen Augen vornehmlich geo- und energiepolitischen Zwecken.

Wer also zugunsten der Demokratisierung intervenieren will, muss absolut auf Gewalt verzichten. Er darf seine Macht einsetzen, aber nicht sein Militär. Solche gewaltfreien Demokratisierungsstrategien sind keineswegs zahnlos. Die westliche Politik sieht diese Möglichkeiten nicht richtig, weil sie ihr Strategieverständnis nach dem kurzen Modernisierungsschub zwischen 1990 und 1994 wieder am Repertoire der traditionellen Realpolitik orientiert. So kommt es, dass als wichtigstes Interventionsinstrument das Militär angesehen wird, das daher hoch aufgerüstet und sowohl von der NATO wie jetzt auch von der EU in Gestalt Schneller Eingreiftruppen einsatzbereit gehalten wird.

Das ist nicht zweckmäßig, entspringt aber einer tief verwurzelten Präferenz für das Militär. Schon das 19. Jahrhundert hatte gemerkt, dass Regierungen schnell das Militär einsetzen, aber knauserig werden, wenn es darum geht, in zivile Strategien zu investieren. An dieser so genannten „schiefen Schlachtordnung“ hat sich bis heute nichts geändert. Die USA geben für ihren Krieg im Irak pro Jahr mehr als 100 Milliarden Dollar aus. Die von UN-Generalsekretär Kofi Annan geforderten 50 Milliarden Dollar für die Beseitigung der Armut bringt der gesamte Westen nicht auf. In den 78 Tagen des Serbien-Krieges gab die NATO mühelos rund 6,8 Milliarden Euro aus.6 Für den Wiederaufbau der Region stehen dem Stabilitätspakt für die sechs Jahre von 2000 bis 2006 ganze 4,6 Milliarden Euro zur Verfügung.7

Und doch sind es die zivilen, völlig gewaltfreien Strategien, die die Demokratisierung erzeugen und fördern. Sie ist an einen zureichenden und sich steigernden Lebensstandard gebunden, an die Verbreitung von Bildung und Information. Sie braucht vor allem Freiheit. Wer ein Herrschaftssystem demokratisieren will, muss in dessen Gesellschaft diese Voraussetzungen schaffen.

In vielen Fällen existieren sie schon, müssen nur ausgenutzt werden. Die Demokratisierungswelle im Mittleren Osten ist durch die moderne Kommunikationstechnologie ermöglicht worden. Das Satellitenfernsehen brach das Informationsmonopol der Regierungen und damit ihre Definitionsmacht.8Es transportierte die Bilder von den Revolutionen in Georgien und der Ukraine, aber auch die aus Palästina in die arabischen Wohnzimmer. Es zeigte mit den Bildern aus dem Westen Möglichkeiten individueller Existenzentfaltung, die die mit Gewalt aufrechterhaltene traditionelle Gesellschaftsordnung vorenthielt. Was die globale Verbreitung des „American way of life“, vor allem der Musik und der Jugendkultur, an Bewusstseinsänderungen in der Welt hervorgebracht hat, kann gar nicht überschätzt werden.9 Dahinter verblasst jede „public diplomacy“.

Demokratisierung von außen kann  nur heißen, die internen Demokratisierungstendenzen zu fördern und zu erleichtern. Dazu gibt es in der globalisierten Welt von heute zahlreiche Möglichkeiten. Die Interdependenz hat die Staaten so dicht aneinander gerückt, dass die Innenpolitik in gewissem Grade zur Funktion der Außenbeziehungen wird. Die zahllosen wirtschaftlichen, politischen, informativen und touristischen Interaktionen, denen sich ein Staat heute nicht einmal unter größten Anstrengungen entziehen kann, transportieren unter strategischen Gesichtspunkten eine Vielzahl direkter Einmischungen. Wer autoritär-diktatoriale Herrschaftssysteme demokratisieren will, muss seine politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Beziehungen zu dem betreffenden Land ausnutzen. Er verfügt dann über indirekt wirkende Strategien und über direkte, die entweder unmittelbar oder mittelbar auf den Adressaten einwirken.

Spannung senken

Eine der wichtigsten Strategien zur Förderung des Demokratisierungsprozesses lässt sich einsetzen, ohne das betreffende Land überhaupt zu betreten. Sie mischt sich ein, ohne im landläufigen Sinn zu intervenieren. Sie fördert die Kräfte der Demokratisierung in diesem Land, indem sie der Regierung die Möglichkeit nimmt, sie mit dem Hinweis auf die äußere Bedrohung zu unterdrücken. Der Primat der Außenpolitik ist – und war – das wichtigste Hilfsmittel repressiver Regierungen.

Bei der herrschenden Interdependenzdichte ist aber das Herrschaftssystem eines jeden Staates abhängig von dem Grad der Spannung in seiner Umwelt. Wer die Spannung steigert, hilft der Regierung, wer sie absenkt, den Demokraten. Nach „Seeleys Gesetz“ ist der Grad der Freiheit in einem Land umgekehrt proportional zu dem Druck, der auf seinen Grenzen lastet. Der in diesem Gesetz enthaltene strategische Rat lautet, den Druck zu mindern, damit er nicht von der Regierung zur Unterdrückung instrumentalisiert werden kann und die Demokratisierungskräfte einen größeren Spielraum erhalten. Kriege und Kriegsgefahr, Aufrüstung und Säbelrasseln sind Gift für die Demokratisierung und eine Droge für die Diktatur. Wer den Sturz von Diktaturen befördern will, muss ihnen diese Krücke ihrer Herrschaft nehmen, die äußere Bedrohung.

Dieser Zusammenhang ist theoretisch evident, Immanuel Kant hat ihn schon vor 200 Jahren analysiert. Er ist aber auch in unserer Gegenwart präsent. Er wirkt sich besonders bei kleinen, spürbar aber auch bei großen Staaten aus. Der Abbau der demokratischen Freiheiten in den Vereinigten Staaten begann unter Ronald Reagan, als die USA den militärischen Druck der im Bereich der Massenvernichtungswaffen gleich hochgerüsteten Sowjetunion zu spüren bekam. Umgekehrt brach die „sanfte Revolution“ im Warschauer Pakt aus, nachdem sich Washington und Moskau 1986 über den Abbau der Mittelstreckenraketen geeinigt und damit die Spannung im Ost-West-Konflikt substanziell abgesenkt hatten.

Wenn sich nach Seeleys Gesetz die Freiheitsräume der Bürger in den Staaten eines internationalen Systems nur dann erweitern können, wenn der Spannungsgrad niedrig ist, muss sich die Demokratisierungsstrategie darauf ausrichten. In einer Zone offen oder latent gewaltsamer Konflikte kann sich keine Demokratie entfalten. Die im Februar 2004 von Präsident Bush verkündete „Große Mittelost-Initiative zur Demokratisierung der Region“ kann keinen Erfolg haben, solange der ungelöste Nahost-Kon-flikt den Spannungsgrad in der Region so hoch hält. Dass die Parlamentswahlen im Iran vom 20. Februar 2004 von den „Hardlinern“ gewonnen wurden, lässt sich ohne Hinweis auf den durch den amerikanischen Irak-Krieg massiv gesteigerten Druck auf den Iran gar nicht erklären.10 Deswegen steht zu befürchten, dass der von George W. Bush am 20. Januar verkündete Kampf für Demokratisierung und gegen Tyrannei mit dem gleichzeitig verstärkten „Krieg gegen den Terror“ nicht in Einklang gebracht werden kann. Beide Strategien widersprechen sich.

Den Spannungsgrad in einer Region senkt, wer dort die Kontakte und Kooperationen der Staaten untereinander fördert. Das war die Wirkung der Schlussakte von Helsinki und ist die der OSZE. Der Mittlere Osten sähe ganz anders aus, hätte der Westen 1991 den Paragraphen 14 der UN-Sicherheitsratsresolution 687 befolgt und mit der Entwaffnung des Irak eine regionale Kooperation begonnen, um alle Massenvernichtungswaffen zu entfernen, die kooperative Rüstungskontrolle zu organisieren und die Spannung im Mittleren Osten entsprechend zu senken.

Zu erwarten, dass sich inmitten einer spannungsgeladenen, hochgerüsteten Region ein einzelner Staat demokratisieren lassen würde, ist schlicht irreal. Die USA und die EU sollten sich darüber ins Klare kommen, dass die richtige, dringend notwendige Demokratisierung der Herrschaftssysteme dieser Region eine sicherheitspolitische Entspannung zur Voraussetzung hat. Nichts wäre dort wichtiger als der Beginn eines der KSZE ähnelnden Prozesses, der sich langsam zu einer regionalen Organisation fortentwickelte. Darauf ist zuerst von deutscher, dann auch von anderer Seite immer wieder hingewiesen worden.11 Das Sicherheitsdilemma, das in der Ungewissheit über die Absicht der anderen beruht, muss erst deutlich reduziert werden.

Desgleichen können Abrüstung und Rüstungskontrolle nicht von einem einzelnen Land verlangt, sondern nur regionalweit durchgesetzt werden. Nach den Regeln der Rüstungsdynamik werden die arabischen Staaten so lange nach Massenvernichtungswaffen streben, wie Israel die seinen nicht abgibt. Das sollten die sich selbst so nennenden Realpolitiker eigentlich wissen. Vermutlich wissen sie es auch und nutzen die von ihnen erwartete, weil erzeugte Abrüstungsweigerung des Adressaten zur Rechtfertigung von Gewaltmaßnahmen. Solange die Rüstungsdynamik die Spannung anheizt, kann die Demokratisierung nicht vorankommen. Wer sie fördern will, muss die Region durch Rüstungskontrolle und Vertrauensbildung erst einmal entspannen.

Natürlich muss die Demokratisierungsstrategie der Umwelt auch die in dem Adressatenland herrschenden Bedingungen berücksichtigen. Ist dort der Demokratisierungsprozess noch gar nicht begonnen worden, weil er von einem Diktator im Keim erstickt wird, muss die Strategie variiert werden. Einem solchen Diktator muss Gewalt entgegengehalten werden, aber nicht unveränderlich und statisch, sondern dynamisch, wie es die Strategie des Gradualismus vorschreibt. Auch Diktaturen sind nicht unveränderliche Monolithe; ihr Austauschverhältnis mit der Gesellschaft kann von der Umwelt sehr wohl beeinflusst werden. Ebenso wie sich Spannungszustände durch unentwegte Aufrüstung aufschaukeln, lassen sie sich auch abschaukeln. Aus einer Position gesicherter Stärke heraus gilt es, den Diktator zu Entspannungsmaßnahmen zu veranlassen, in deren Folge sich seine interne Repression lockern muss. Dem wiederholten Angebot von  Zuckerbrot und Peitsche kann auch ein Diktator auf Dauer nicht widerstehen, weil ihm seine Gesellschaft das Zuckerbrot abverlangen wird.

Deswegen war die westliche Politik gegenüber Saddam Hussein so verfehlt. Eine ganze Dekade ist vergeudet worden mit einer Strategie, die ausgerechnet die irakische Gesellschaft wirtschaftlich stranguliert, politisch isoliert, seit 1998 auch noch regelmäßig bombardiert und damit den Diktator immens gestärkt hat. Richtig wären Sanktionen gegen Saddam Hussein und seine Baath-Elite gewesen, verbunden mit Offerten zu Kommunikation und Kooperation an die irakische Gesellschaft. Gegenüber dem Apartheid-System in Südafrika hat der Westen nach langem Zögern eine solche Strategie erfolgreich eingesetzt.

Warum wird der Zusammenhang zwischen dem Grad der Freiheit im Innern und dem politisch-militärischen Druck von außen vom Westen so wenig unter strategischen Gesichtspunkten beachtet? Er ist ja eigentlich mit Händen zu greifen. In jedem Krieg ist die Verminderung der demokratischen Freiheit die erste Folge. Dass die Restauration der NATO als Führungsmacht im euro-atlantischen Raum 1994 und die sich daran anschließende Osterweiterung der Allianz die Demokratisierung Russlands abbremsen mussten, war für jedes geöffnete Auge sichtbar. Herrschaft und neuerlicher Wahlsieg Präsident Putins, seine Entdemokratisierungspolitik und Wiederaufrüstung Russlands sind auch die Strukturfolgen dieser westlichen Entscheidungen. Wusste man das vielleicht in den westlichen Amtsstuben nicht? Unzureichende Sachkompetenz ist – nach der Systemanarchie und den diktatorialen Herrschaftssystemen – die dritte große Kriegsursache.12

Anreize und Sanktionen

Ist die Entspannung in der Umwelt die conditio sine qua non jeder Demokratisierungsstrategie, so kann man diese mit konkreten Anreizen anreichern. Sie haben schon einen leichten Hauch von Intervention, überschreiten aber noch immer nicht die Grenze des Landes. Vorbild einer solchen Belohnungsstrategie ist der Marshall-Plan der USA von 1947/48, dessen Kredite an die Demokratisierung der Herrschaftssysteme gebunden waren. Ebenso machte die Europäische Union den Beitritt der neuen Mitglieder von der Demokratisierung ihrer Herrschaftssysteme abhängig. Diese so genannte Strategie der „Konditionalität“ wirkt schon im Vorlauf. Die Aussicht auf ihren Beitritt hat die Türkei zu erheblichen Reformen im Bereich der Demokratie und Menschenrechte veranlasst. Ebenso erfolgreich war die abgeschwächte Konditionalisierungspolitik der NATO. Sie verlangte von den neuen Mitgliedern und auch von denen der „Partnerschaft für den Frieden“ die Einordnung ihrer Militärapparate in die parlamentarisch-politische Kontrolle.

Gegenüber hartnäckigen Diktatoren verfängt eine Strategie der Anreize allein nicht. Die Militärdiktatur Burmas hat jedenfalls darauf nicht reagiert.13 In einer dynamisierten Kombination von Anreizen und Sanktionen liegt dann der goldene strategische Mittelweg. Er – und nicht, wie von Washington behauptet, der abschreckende Anblick des Irak-Krieges  hat letztlich den libyschen Staatschef Muammar Gaddafi dazu bewogen, auf die weitere Anschaffung von Massenvernichtungswaffen zu verzichten und in die Staatengemeinschaft zurückzukehren.14

Eine solche Strategie wenden die „europäischen Drei“ gegenüber dem Iran an und man kann nur hoffen, dass die Vereinigten Staaten ihrer jüngst erkennbaren Tendenz, sich dieser Strategie anzuschließen, auch wirklich folgen. Bis jetzt jedenfalls lähmt ihre Drohung, den Iran notfalls doch anzugreifen,15 die europäische Initiative.

Sanktionen allein zeigen durchaus Wirkung. Sie sind sehr beliebt, weil sie einfach anzuwenden sind und politische Handlungsfähigkeit demonst-rieren. Die Vereinigten Staaten haben fast die halbe Welt mit solchen Sanktionen belegt. Der UN-Sicherheitsrat hat in den letzten zehn Jahren den Inselstaat Haiti dreimal mit Sanktionen bestraft; die Europäer verhängten sie jahrelang gegen Jugoslawien. Die UN-Sanktionen gegenüber dem Irak waren, was die Abschaffung von Massenvernichtungswaffen anbelangt, sehr wohl erfolgreich.

Zur Demokratisierung der betreffenden Länder allerdings haben Sanktionen erwartbar wenig beigetragen. Weil sie den Druck von außen erhöhen, festigen sie die Diktatur und schädigen die Gesellschaft.

Direkte Eingriffe

Die direkten, unmittelbar in das betreffende Land gewaltsam eingreifenden Strategien entsprechen am ehesten dem traditionellen Begriff der Intervention. Sie sind noch immer sehr beliebt. Sie sind ebenso gefährlich wie zweckwidrig, lassen sich eigentlich nur im Notfall des Genozids rechtfertigen. Dort ist die unmittelbare bewaffnete Intervention geradezu Pflicht. In den anderen Fällen wird der erhoffte Erfolg durch die Ablehnung kompensiert, die der im Einmarsch sich ausdrückenden Fremdbestimmung entgegenschlägt. Die direkte militärische Intervention steht mit ihrer Eroberung und Okkupation im direkten Widerspruch zu der von der Demokratisierungsstrategie beabsichtigten Mobilisierung der Gesellschaft zur Selbstbestimmung.

„Chirurgische Eingriffe“ haben es etwas leichter. Amerikanische Regierungen haben die Diktatoren Ferdi-nand Marcos von den Philippinen und Jean-Claude Duvalier von Haiti entfernt. Sie haben den früheren Dissidenten und späteren Präsidenten von Südkorea Kim Dae Jung vor der Hinrichtung durch eine korrupte Regierung bewahrt. Der Einmarsch unter Präsident George H. Bush in Panama und die gewaltsame Verhaftung des Diktators Manuel Noriega waren sicherlich im Sinne der Panamesen; von der Intervention von Präsident Lyndon Johnson in der Dominikanischen Republik 1965 lässt sich so ohne weiteres nicht das gleiche sagen. Die Grenze solcher Interventionen zur traditionellen Expansions- und Kolonialpolitik ist schwer zu ziehen; deswegen sind direkte, unmittelbare, mit militärischer Gewalt ausgeführte Eingriffe auch in ihrer chirurgischen Variante als Demokratisierungsstrategie unbrauchbar.

Indirekte Eingriffe

Sehr viel ertragreicher sind demgegenüber die zwar direkt, aber nur mittelbar vorgehenden Eingriffe. Sie tragen dazu bei, dass sich die sozioökonomischen Voraussetzungen der Demokratisierung einstellen und verbessern. Im Vordergrund steht die Auslandshilfe als der richtige Versuch, durch die Einleitung der wirtschaftlichen Entwicklung und die kontinuierliche Anhebung des Lebensstandards zusammen mit der Verbesserung von Bildung und Information der Demokratisierung den richtigen Nährboden zu bereiten. Hinzu tritt die Hilfe bei der Rechtsordnung der Verfassung, der Gewährleistung der Menschenrechte. Der Europarat nutzte seine Erweiterung um 22 Staaten des früheren Ostblocks dazu, die Menschen- und Minderheitenrechte dort zu fördern. Die 1990 aus der institutionalisierten KSZE gebildete Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa kümmert sich um die Herrschaft des Rechts, um demokratische Wahlsysteme und vor allem um die Menschenrechte in den Mitgliedsländern.

In der – früher so genannten – Dritten und Vierten Welt beließ es der Westen lange Zeit bei der traditionellen Auslandshilfe. Sie mischt sich direkt, aber eben nur mittelbar zugunsten der Demokratisierungsprozesse ein, indem sie den wirtschaftlichen Entwicklungsgrad anzuheben versucht. Das ist, wie die Entwicklung des BIP der Entwicklungsländer von 1984 bis 2003 zeigt,16 durchaus gelungen, aber noch weit entfernt von dem Ziel, bis 2015 die Armut auf der Welt zu halbieren.

Die „schiefe Schlachtordnung“ wirkt sich aus, auch nachdem 1990 die Demokratisierung zum erklärten Teilziel der Entwicklungshilfe wurde. Die USA und die EU stützen sich dabei auf halb offizielle Organisationen wie die parteinahen Stiftungen in Deutschland, die Westminster Foundation in Großbritannien und das National Endowment for Democracy in den Vereinigten Staaten. Alle arbeiten gern mit den zahllosen Nichtregierungsorganisationen zusammen, die – Segen und auch Fluch der Gesellschaftswelt – sich in den Gastländern um die Emanzipation gesellschaftlicher Akteure mühen. Die NGOs haben den Vorzug, nicht als Agenten staatlicher Interessen zu wirken. Sie öffnen sich daher sehr leicht den Zugang zur Gesellschaft. Mit Hilfe der NGOs lassen sich auch die Regierungen der Gastländer umgehen, zumal die sehr sensibel darauf reagieren, wenn die Auslandshilfe direkt politisiert wird.

Besonders die Europäische Union ist peinlich darauf bedacht, jeden Anschein der Intervention zu vermeiden. Sie beschränkt sich darauf, die Gesellschaften zu informieren und damit auch zu mobilisieren, um sie in die Lage zu versetzen, die politischen Mitbestimmungsrechte auch in Anspruch zu nehmen. Sie betreibt eine Politik der unauffälligen Sozialisation, um in dem betreffenden Land diejenigen Kräfte zu stärken und zu fördern, ohne die Demokratisierung überhaupt nicht entsteht: die Demokraten. Sie kümmert sich ausgiebig um die Journalistenausbildung. Bei den Präsidentschaftswahlen in Serbien 1998 unterstützte sie tatkräftig die liberale Opposition, die dann Slobodan Milosevic stürzte. In Georgien schirmten USA und EU die Revolution gegen den Druck aus Moskau ab. In Kirgistan finanzierte amerikanisches Geld die Opposition und deren Medien.17

Der Westen hat das Ziel der Demokratieförderung seiner Entwicklungshilfe beigefügt, seiner Außenwirtschaftspolitik aber nicht eingefügt. Vielmehr beschränkt er mit seinem Agrarprotektionismus und seinen Exportsubventionen geradezu drastisch den Wirtschaftsaufschwung in den Entwicklungsländern. Die EU subventioniert pro Tag jede europäische Kuh mit zwei Euro, dem doppelten Tagesverdienst eines afrikanischen Arbeiters. Die Baumwollwirtschaft des schwarzen Kontinents kommt nicht auf die Beine, weil die Subventionierung der amerikanischen Baumwollexporte genau so hoch ist wie das Produktvolumen in Afrika. In der Doha-Runde sollte hier endlich Remedur geschaffen werden. Die europäische und die amerikanische Landwirtschaftslobby, untereinander spinnefeind, haben bisher jeden Wandel verhindert.

Hier liegt die Crux der westlichen  mittelbar verfahrenden Demokratisierungsstrategie. Der Westen hat sie als neues Politikfeld in seine Weltpolitik aufgenommen, aber deren Aufbau nicht korrigiert. Wer mit dem amerikanischen Präsidenten George W. Bush die Demokratisierung der Herrschaftssysteme als wichtigsten Beitrag zu Frieden und Freiheit versteht, muss diese Außenwirtschaftspolitik reformieren. Die Armut ist, wie alle Politiker wissen und viele von ihnen sagen, nicht nur die Stütze der Diktatur, sondern auch der große Nährboden des Terrorismus. Aber immer noch wiegen in den westlichen Entscheidungsprozessen die Partikularinteressen großer Lobbies schwerer als die gesamtgesellschaftlichen Interessen an einer befriedeten Welt.

Der Demokratie nicht dienlich, in den meisten Fällen sogar hinderlich, ist die Militärhilfe. Für sie gibt es viele wirtschafts-, außen- und sicherheitspolitische Gründe; sie eignet sich besonders zur direkten mittelbaren Einflussnahme auf die Sicherheitspolitik des Empfängerlands. Der Demokratisierung aber dient die Militärhilfe nicht. Im Gegenteil. Da sie die Exekutive stärkt und veranlasst, ihren Gewaltapparat zu vergrößern, geht sie zu Lasten der gesellschaftlichen Emanzipation.

Der Westen könnte sie weiter fördern, wenn er den gesellschaftlichen Interaktionen einen höheren Wert beimäße. Die wirtschaftliche und politische Leistungsfähigkeit der westlichen Demokratien dient nämlich der „gewinnfreien Werbung“ für die Demokratisierung.18 An der wirtschaftlichen und politischen Attraktivität des westlichen Demokratiemodells ist die Sowjetunion mit ihrem kommunistischen Modell gescheitert. Sie, nicht die Schnellen Eingreiftruppen von NATO und EU, sind die Transporteure der Demokratisierung in der Weltgesellschaft. Deshalb sollten alle grenzüberschreitenden gesellschaftlichen Kontakte, die Kooperation von Verbänden und Vereinen, die Städtepartnerschaften, kurz: alle gesellschaftlichen Interaktionen als Teil der Demokratisierungsstrategie begriffen werden. Das heißt nicht, sie zu politisieren; im Gegenteil. Ihre Politikfreiheit qualifiziert sie für den wirksamen Transfer demokratischer Einstellungen und Verhaltensformen.

Es ist richtig, dass die liberale Visumspraxis des Auswärtigen Amtes in Osteuropa auch Schleuserbanden den Grenzübertritt erleichtert hat. Vor allem aber hat sie doch vielen Ukrainern die Möglichkeit gegeben, sich von den Vorteilen des demokratischen Herrschaftssystems zu überzeugen. Dieses Wissen kam der orangenen Revolution zugute. Selbstverständlich sollten chinesische Reisebüros weiter die Möglichkeit erhalten, schneller an Visa für ihre Reisegruppen zu gelangen. Jeder, der sich jemals in China umgesehen hat, weiß, wie viel der Bevölkerung am unmittelbaren Kontakt mit den Europäern liegt. Missbräuche sollten demgegenüber nicht ins Gewicht fallen.19

Demokratisierung als Strategie

Gibt es also zahlreiche Demokratisierungsstrategien, so ist die Demokratisierung noch nicht zu einer Gesamtstrategie avanciert, die dem Westen einen Zugewinn an Sicherheit verschaffte. Sie vertraut er immer noch der Verteidigung und den Militärapparaten an, bewertet die Demokratisierung der Herrschaftssysteme nur als nützlich, aber nicht als verlässlich.

Dass sie viel mehr als Verteidigung verspricht, nämlich Sicherheit durch Beseitigung einer wichtigen Gewaltursache, ist zwar in die deklaratorische, aber noch nicht in die operative Außenpolitik des Westens eingedrungen. Er hat die Demokratisierung als Ziel akzeptiert, aber die dazugehörigen Strategien nicht in das Paradigma seiner Sicherheitspolitik integriert. Deswegen konnte Präsident Bush den Kampf gegen die Tyrannen und die Strategien der Präventions- und Präemptivschläge sozusagen in einem Atemzug nennen, obwohl sie partout nicht zueinander passen. Deswegen konnte die EU in ihrem Strategiepapier vom 12. Dezember 2003 sich als Zivilmacht präsentieren, ohne der Demokratisierung mehr als eine Erwähnung zu widmen.

Der neue Wellenschlag im Kaukasus, in der Ukraine und im Mittleren Osten verlangt vom Westen, das seit 1990 fällige Paradigma einer Sicherheitspolitik im demokratischen Zeitalter schleunigst zu entwickeln. Vor allem Europa ist gefordert, darin die Bundesrepublik. Wer sich als Zivilmacht versteht, muss auch den dazu gehörigen Strategiekanon komplett entwickeln. Sonst bleibt es bei der „schiefen Schlachtordnung“, in der die Demokratisierung zwar beschworen, aber die alte Realpolitik betrieben wird.

1 Siehe dazu die Übersichtskarte: Aufbruch in der arabischen Welt, Der Spiegel, 10/2005, S. 141

2 Ian Bremmer: Bush Signals a Revolution in Foreign Policy, International Herald Tribune, 29.–30.1.2005, S. 7.

3Dazu Michael McFaul: Democracy Promotion as a World Value, The Washington Quarterly, Winter 2004-5, S. 147 ff.

4 Zbigniew Brzezinski: Power and Principles. Memoirs of the National Security Advisor 1971–1981, New York 1983, S. 127.

5 Minxin Pei and Sara Kasper: Lessons from the Past: the American Record in Nation-Building,Washington, Carnegie Endowment for International Peace, 2003.

6 Matthias Z. Karádi und Dieter S. Lutz: Der Preis des Krieges ist seine Legitimität, Sicherheit und Frieden, 17, 3, 1999, S. 152.

7 Verordnung (EG) Nr. 2666/2000 vom 5.12.2000, Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, L 306, 7.12.2000, S. 1 ff.

8 Rainer Hermann: Arabische Meinungsbildung. Die Medien am Golf erhalten mehr und mehr Freiheiten, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.3.2005, S. 12.

9 Neil MacFarquhar: In Mideast, New Forces are Driving the Politics, International Herald Tribune, 7.3.2005, S. 1 und 6.

10 Semiramis Akbari: Iran zwischen amerikanischem und innenpolitischem Druck. Rückfall ins Mittelalter oder pragmatischer Aufbruch? HSFK-Report 1/2004, Frankfurt am Main 2004.

11 Claudia Baumgart, Harald Müller: Eitler Traum oder erreichbares Ziel? Die Idee einer kernwaffenfreien Zone im Nahen Osten, HSFK-Report 10/2004, Frankfurt am Main 2004.

12 Ausführlich habe ich mich dazu geäußert in: Kluge Macht. Außenpolitik für das 21. Jahrhundert, München 1999, S. 79 ff.

17 West Plays Key Role in Kyrgyztan, International Herald Tribune, 30.3.2005.

18 Czempiel: Schwerpunkte und Ziele der Friedensforschung, München und Mainz 1972, S. 95 ff.

19 Siehe zu dieser Problematik Peter Burnell: Democracy Promotion: The Elusive Quest for Grand Strategies, Internationale Politik und Gesellschaft, 3/2004, S. 100 ff., S. 110 ff.

Bibliografische Angaben

Internationale Demokratie 5, Mai 2005, S. 92 - 101.

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