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01. Jan. 2014

Rezept fürs Desaster

Wie Chinas Regierung 250 Millionen Bauern in Retortenstädte umsiedeln will

Der Philosoph Karl Popper hat einmal bemerkt, „Social Engineering“ im großen Maßstab sei ein Rezept fürs Desaster. „Social Engineering“ – das ist kaum ins Deutsche zu übersetzen. Wer dennoch wissen möchte, was es bedeutet, der sollte in die Innere Mongolei fahren. 

Chinas Regierung hat vergangenes Jahr bekannt gemacht, dass sie 250 Millionen Bauern in eigens dafür zu errichtende Städte umsiedeln will, und zwar im Laufe von nur zwölf Jahren. Der Gedanke: Wenn so viele Bauern auf Lohnarbeit umsatteln, also an der Geldwirtschaft teilnehmen, dann braucht Peking sich auf Jahrzehnte -hinaus keine Sorgen ums Wirtschaftswachstum mehr zu machen. 

Eine Idee, die zu schlüssig ist, um den Wirrnissen einer stets renitenten Wirklichkeit gerecht zu werden? Um herauszufinden, was so ein grandioser Plan konkret bedeutet, machte ich mich kürzlich auf den Weg nach Ordos. 

Die Stadt liegt in der Inneren Mongolei in Nordwestchina, und sie macht seit einigen Jahren als größte Geisterstadt des Landes von sich reden: eine gigantische Investitionsruine mit Wohnungen für mehr als 300 000 Menschen, in denen kaum jemand lebt. Es geht das Gerücht, dass dort außer Wölfen und wilden Pferden nur einige Hausmeister anzutreffen seien. 

Die Gerüchte von der blitzblanken, leeren Stadt mitten in der Steppe sind aber schon ein paar Jahre alt, und neuerdings tut sich was in Ordos. Im vergangenen Jahr haben die örtlichen Behörden verkündet, dass sie mehrere 100 000 Bauern und Hirten in Ordos ansiedeln wollen. Die Geisterstadt ist in Wahrheit ein Testfall für den großen Plan zur Urbanisierung Chinas.

Wenn die Zahlen vom örtlichen Propagandabüro stimmen, dann leben bereits jetzt mehr als 40 000 Umsiedler vom Land in dem Retorten-Metropölchen. Sie sind aber nicht leicht zu finden. Noch heute ist Downtown Ordos fast menschenleer. Die großen Boulevards wirken wie ein Missverständnis, die Monumentalbauten im Stadtzentrum so rätselhaft sinnlos wie Grüße von den Osterinseln. So sähe Pjöngjang aus, wenn seine Bewohner mit den Füßen abstimmen könnten.

Es dauerte ein bisschen, bis ich herausfand, dass die Neuen nicht in der Stadt selber leben, sondern in eigens für sie errichteten Umsiedlervierteln. Etwa ein Dutzend dieser Viertel umringt die Stadt. Ein Wanderarbeiter erklärte mir schließlich den Weg, und eine halbe Stunde später stand ich an der Polizeiwache im Umsiedlerbezirk Beiqu.

Ich stand deshalb an der Polizeiwache, weil man in Beiqu fast immer an der Polizeiwache steht. Nirgends habe ich in China eine solche Polizeipräsenz gesehen wie in der Nachbarschaft der umgesiedelten Bauern. „Die mögen da keine Journalisten“, hatte mich ein befreundeter Filmemacher aus Peking vor meiner Abreise gewarnt. Doch ein alter Herr, den ich ansprach, hatte große Lust zu plaudern, vor allem über sein Heimatdorf Mawangmiao. Herr Zhang wollte mir sein Dorf gerne einmal zeigen. Am nächsten Tag nahmen wir zusammen ein Taxi.

Mawangmiao bedeutet Pferdekönig-Tempel. Pferde sind dort aber nicht zu sehen. Einen Tempel gibt es auch nicht. Eigentlich ist noch nicht einmal ein Dorf zu erkennen. Halbwüste, wohin man auch blickt: vertrocknetes Gestrüpp, Sand, ein Trampelpfad, außerdem Ruinen, die aussehen, als habe eine Ausgrabung sie nach Jahrtausenden wieder ans Licht gebracht. In Wirklichkeit sind die Trümmer noch kein Jahr alt. Unter ihnen befinden sich auch die Reste des alten Lehmhauses von Herrn Zhang.

Er war nicht schockiert; er wusste schon, dass seine alte Heimat ein Trümmerhaufen ist. So desolat wie in Mawangmiao sieht es fast überall im Umland von Ordos aus. Die Behörden machen die Dörfer absichtlich unbewohnbar, um die Bauern in die Stadt zu zwingen. Alle öffentlichen Dienste – Verkehr, ärztliche Versorgung, Schule, Markt – werden geschlossen. Sobald die Bauern umgezogen sind, werden ihre Häuser abgerissen. Wenn alles dem großen Plan gemäß verläuft, dann wird dasselbe in mehreren 100 000 Dörfern in ganz China geschehen. „Damit wir uns das nicht noch mal anders überlegen“, sagte Herr Zhang auf der Rückfahrt im Taxi. 

Seine geräumige Wohnung im Umsiedlerviertel hat er „umsonst“ bekommen, im Tausch gegen sein altes Haus, das einer Brache gewichen ist. Außerdem hat das örtliche Parteikomitee ihm umgerechnet 7000 Euro als Starthilfe gegeben. Damit kommt er knapp fünf Jahre hin. Und danach? Danach wird Herr Zhang seinen Söhnen auf der Tasche liegen. 

Die beiden sind schon vor ein paar Jahren nach Ordos gezogen. Bei ihnen ist der Plan, die Bauern in die Lohnarbeit zu integrieren, nicht so recht aufgegangen. Sie arbeiten als Straßenkehrer. Sie haben so viele Kollegen, dass es nichts zu kehren gibt. Ordos ist bei weitem die sauberste Stadt, die ich in China je gesehen habe. Eigentlich kommen die Menschen in die Städte, weil es dort Arbeit gibt. Ob aber auch die Arbeit in die Städte kommt, weil dort  Menschen leben? Das ist der Schwachpunkt im großen Plan zur Urbanisierung Chinas. Karl Popper würde sich wünschen, dass er nicht recht behält.

Justus Krüger lebt seit 2005 als freier Korrespondent u.a. für die Neue Zürcher Zeitung, Mare und Geo in China.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2014, S. 128-129

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