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01. März 2016

Revolutionskitsch statt Reformen

Brief aus ... Manila

Auch 30 Jahre nach Marcos’ Sturz sind die Philippinen ein Sanierungsfall.

Der britische An­thro­pologe John Prideaux, Protagonist von James Hamilton-Patersons Thriller „Manila“, vermochte in wenigen Worten zu sagen, was die Hauptstadt der Philippinen charakterisiert – und weshalb man sich für sie interessieren solle. „300 Jahre Kloster, gefolgt von 50 Jahren Hollywood. Aber was ist mit den 10 000 Jahren Asien? Manila ist ein Museum, eine lebende Ausstellung, um andere Nationen ernüchternd an ihre eigene Vergangenheit zu erinnern oder vor ihrer Zukunft zu warnen.“

Seit Anfang des Jahres wird – mal mehr, mal minder pompös – der „Revolution“ vom Februar 1986 gedacht, als „People Power“ den verhassten Diktator Ferdinand Marcos und dessen diebische Gattin Imelda gestürzt hatte. Die „Revolution“ vor 30 Jahren hatte keine nachhaltige Transformation, sondern lediglich ein theatralisches Stühlerücken innerhalb der so genannten „großen Familien“ provoziert. Daran hatte auch die Präsidentschaft von Corazon Aquino nichts ändern können, die das Land von 1986 bis 1992 regierte, hochverehrt als Witwe jenes Oppositionellen, den Diktator Marcos einst hatte ermorden lassen. Mittlerweile amtiert ihr Sohn Benigno S. Aquino III., von wohlmeinenden Kommentatoren als „bedingt reformorientiert und kaum korrupt“ beschrieben. Im Mai wird ein neuer Präsident gewählt, der in den feudalen Malacanang-Palast einzieht.

Der Favorit ist Rodrigo Duterte, der übelbeleumdete Langzeit-Bürgermeister der Hafenstadt Davao, der die Unterstützung des Diktatorensohns Ferdinand „Bongbong“ Marcos Jr. genießt. Duterte hat angekündigt, im Falle eines Wahlsiegs Zehntausende Kleinkriminelle auf die gleiche „außergerichtliche“ Weise umbringen zu lassen, mit der er bereits „daheim“ für Ordnung gesorgt habe. Währenddessen ist auch ein weiterer Kandidat, Aquino Juniors gegenwärtiger Vize Jejomar Binay, gerade in Erklärungsnot: Auf 242 (sic!) seiner diversen Bankkonten hatte die vermeintlich „unabhängige Justiz“ nichtdeklarierte Peso-Milliarden gefunden, was jedoch vor allem als Rachefinte einer mit ihm verfeindeten anderen „großen Familie“ interpretiert wird.

Selbst dies aber taugt für weiteres Schönreden: Seht, wo in Asien gibt es eine freiere Presse? In der Tat sind Qualitätszeitungen wie der Philippine Daily Inquirer oder Philippine Star voller Skandalmeldungen über das schamlose Treiben der hauptstädtischen Politiker und die Morde oder Entführungen in deren jeweiligen Provinz-Hinterhöfen. Allerdings: Diese Analysen erscheinen nicht in der Mehrheitssprache Tagalog, sondern sind im elitären Englisch einer urbanen Intellektuellenelite verfasst.
 

Zwischen Aufruhr und Lethargie

Der Besucher Manilas kann den Eindruck haben, sich in einem nach Asien versetzten Teil Lateinamerikas zu befinden. In der 1608 erbauten San Augustin-Kirche wird mit barockem Prunk an die spanischen Augustiner-Mönche erinnert, in den altehrwürdigen Kreuzgängen verkitscht ein rotes Herzchen den hyperpräsenten „Gott ist Liebe“-Evangeliumsvers. Im nahe gelegenen „Ristorante Delle Mitre“ kochen die Nonnen, Kellner mit schwappenden Biergläsern eilen an einer lebensgroßen Pappfigur von Papst Franziskus vorbei. Ausgerechnet ihn hat Präsidentschaftsfavorit Duterte während dessen Besuch 2015 als Schuldigen für die desaströse Infrastruktur im Land ausgemacht, als der ohnehin chaotische Straßenverkehr vollends zusammen­zubrechen drohte. Solche Vatikan-Schelte bringt Sympathiepunkte.

Währenddessen verschleppen die um ihre Pfründe fürchtenden Senats- und Kongressabgeordneten (darunter zahlreiche Millionäre) weiterhin jedes Wettbewerbsgesetz, das ihren oligarchischen Interessen zuwiderläuft. So kommt es, dass in Kuala Lumpur, Taipeh oder Bangkok das öffentliche Transportsystem blitzblank schnurrt, während sich auf Manilas Straßen übervolle, kunterbunt mit Jesus- oder Seifenoper-­Gesichtern bemalte „Jeepney“-Busse durch schwarze Abgasschwaden quälen und Bahn und Metro ebenfalls vor dem Kollaps stehen.

Angesichts solch allumfasssender Schmuddligkeit überrascht die Freundlichkeit und Alltagsgewitztheit der Filipinos. Mögen sie trotz ihrer hispanischen Namen auch nicht mehr die Sprache der bis 1898 dominierenden Kolonialmacht sprechen –ihr Amerikanisch ist nahezu akzentfrei und ein Ticket für ein besseres Leben. Fast jede Familie schickt ihre wagemutigsten und am besten ausgebildeten Kinder ins Ausland, wo sie dann als Krankenpfleger in Großbritannien und den USA reüssieren, als Englischlehrer in Thailand wirken oder – mit weniger Glück, jedoch im häufigsten Fall – als Hausmädchen in den Golf-Staaten ihre Familie finanzieren und Diskriminierung und Schlimmeres erdulden lernen. Auch darüber wird in Manila offen gesprochen – ohne dass sich das Geringste ändern würde.

Mitunter blinkt in den Kirchen der Stadt auch ein weinendes Herz – ein schmerzend aktuelles Symbol für ein Land, dessen tapfere Bevölkerung wahrlich ein besseres Schicksal verdient hätte.

Marko Martin lebt als Schriftsteller in Berlin. Soeben ­erschien von ihm „Tel Aviv. Schatzkästchen und Nussschale, darin die ganze Welt“.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/April 2016, S. 130-131

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