Regionale Kooperation nach der Flut
Der Tsunami zwingt die Staaten rund um den Indischen Ozean zur Zusammenarbeit
Der von der Tsunami-Katastrophe betroffenen Region bieten sich nun auch Chancen. Die Beziehungen zwischen den ASEAN-Staaten und deren mächtigen Nachbarn Indien und Japan scheinen sich zu entspannen. Das Gefühl des gemeinsamen Verlustes fördert die Zusammenarbeit. Politische Hintergedanken bei der Hilfe müssen nicht schädlich sein.
Ein Erdbeben vor der Küste eines Staates hat katastrophale Verluste in vielen anderen Ländern rund um den Indischen Ozean verursacht. Wenn wir die tausenden westlichen Urlauber einbeziehen, die Weihnachten und Neujahr an den Stränden verbrachten, wird uns klar, dass sogar noch sehr viel mehr Länder bei dieser Tragödie vereint waren. Wenn aber jede Herausforderung auch eine Chance bietet, dann ist das enorme Ausmaß der Zerstörung durch den Tsunami in der gesamten Region eine einmalige Gelegenheit, um die Beziehungen in dieser Region neu zu gestalten.
Die Tragödie macht uns mit aller Wucht deutlich, dass wir in der Tat eine menschliche Familie sind. Wir bewohnen denselben Planeten Erde, und die künstlich konstruierte Feind-schaft und Rivalität in dem auf Wettbewerb und Ausschluss basierenden Konzept der „nationalen Sicherheit“ können für die eigentliche Sicherheit der Bürger angesichts der tatsächlichen Bedrohungen schnell irrelevant werden. Mutter Natur unterscheidet eben nicht zwischen Muslimen und Christen, Tamilen und Singhalesen, Armen und Reichen, Einheimischen und Ausländern. Der Tsunami hat alle gleichermaßen betroffen. Und ausgerechnet das Militär – das Symbol des „wir gegen die“ im Konzept der „nationalen Sicherheit“ – wurde in den massiven internationalen Hilfsanstrengungen für die Opfer der Katastrophe als kooperatives Instrument eingesetzt.
Die Revolution in der Informationstechnologie, die globale Kommunikation ohne Verzögerung und weltweiten Informationszugang überhaupt erst ermöglicht, hat das Bewusstsein für Konflikte und Katastrophen gesteigert – wo auch immer sie stattfinden. Die global verbreiteten Bilder des daraus resultierenden Leidens tun ein Übriges.
Die technische Entwicklung machte es aber auch möglich, humanitäre Hilfe in Echtzeit zu mobilisieren. Der Wettbewerb der Nationalismen hat nach dem Tsunami einem Wettbewerb des Mitgefühls Platz gemacht – mit der Folge, dass Bevölkerungen und Staaten sich gegenseitig bei der angebotenen Hilfe übertrumpften.
Ernüchterung und Hoffnung
Man möchte hoffen, dass das Ausmaß der Zerstörungen und die gemeinsame Betroffenheit von der Tragödie einen kathartischen und vereinenden Ef-fekt auf interne Konflikte in den betroffenen Ländern und Regionen haben wird – besonders in Aceh und in Sri Lanka. Erste Anzeichen in Sri Lanka machen allerdings nicht allzu hoffnungsfroh. So war UN-Generalsekretär Kofi Annan nicht in der Lage, vom Tsunami betroffene Gegenden, die unter der Kontrolle der „Tamil Tiger“ stehen, zu besuchen: Die Regierung argumentierte, ein solch hochrangiger Besuch würde den Sezessionisten und Terroristen internationale Anerkennung und Legitimität verleihen und das Erreichen eines dauerhaften Friedensabkommens noch schwieriger machen.
In Indonesien reagierten zunächst das Militär und dann die Regierung nervös angesichts von Tausenden ausländischen Truppen und Rettungskräften in ihrer widerspenstigen Provinz Aceh. Jakarta hat nun eine Richtlinie herausgegeben, mit der eine Befristung der Präsenz fremder Truppen auf drei Monate angestrebt wird. Außerdem wurden Kontrollen über die Bewegung von NGOs eingeführt, sofern diese sich jenseits eines engen Gebiets rund um Banda Aceh herum bewegen. Begründet wurde dies damit, dass andernorts deren Sicherheit nicht garantiert werden könne.
Washington hatte ursprünglich entschieden, Hilfs- und Rettungsaktionen mit drei Ländern in der Region zu koordinieren, die über eine ausreichend große Fähigkeit für solche Aufgaben verfügen: Australien, Indien und Japan. Sicherlich war dies eine Gelegenheit für alle vier Staaten, eine Führungsrolle zu übernehmen und ihre Mittel in den Dienst der Menschlichkeit zu stellen. Längerfristig könnten sie etwa beim Aufbau eines Tsunami-Warnsystems rund um den Indischen Ozean zusammenarbeiten. Denn wenn es eines solchen noch bedurft hatte, ist die Tragödie ein Beleg dafür, dass Entwicklung und Sicherheit zwei Seiten einer Medaille sind.
Die Katastrophe bietet auch die seltene Chance für kleinere Länder, in ihren großen und mächtigen Nachbarn helfende Freunde zu erkennen und sie nicht nur als die bedrohlichen Schläger von nebenan zu sehen.
Indiens Blick nach Osten
Der Indische Ozean bedeckt etwa ein Fünftel der weltweiten Ozeanfläche. Fast 50 Länder liegen an seinen Küsten und seinem unmittelbaren Hinterland. Mit Verbindungen sowohl zum Atlantik als auch zum Pazifik ist der Indische Ozean insbesondere für Indien wirtschaftlich, politisch und strategisch von vitalem Interesse. Die geographische Dominanz Indiens in der Region ebenso wie die Größe des Landes, seine wissen-schaftliche und technologische Kapazität, seine weltraumtechnischen und militärischen Mittel geben dem Land die proportional größte Rolle in der langfristigen Reaktion auf die Katastrophe.
In Indien könnte der Tsunami nun dazu beitragen, dass sich die Aufmerksamkeit sowohl der Öffentlichkeit als auch der Regierung mehr als bislang in Richtung Osten wendet. Es war seine Fähigkeit, die Meere zu beherrschen, die Großbritannien als Kolonialmacht einst nach Indien brachte. Dennoch muss sich Indien erst noch bewusst werden, welche strategische Bedeutung die Wasserstraßen um es herum haben. Denn die Seestreitkräfte bleiben eine vernachlässigte Dimension im indischen Verteidigungsdenken. Die Hauptaufmerksamkeit gilt nach wie vor seinen Landgrenzen zu Pakistan und China.
Die Beziehungen zwischen Indien und Südostasien verschlechterten sich von den sechziger Jahren an bis hinein in die achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts aus vielerlei Gründen. So wurden Indiens Ansprüche auf eine kontinentale und globale Führungsposition 1962 ernsthaft durch das militärische Debakel gegen China beschädigt. Obwohl das militärische Prestige mit dem Krieg um Bangladesch 1971 wieder repariert wurde, führte die enge Verteidigungskooperation zwischen Delhi und Moskau zu anhaltenden Ängsten in den Hauptstädten der ASEAN-Staaten.
Die siebziger Jahre sahen die Rückkehr Chinas als ein respektiertes Mitglied der regionalen und internationalen Staatengemeinschaft. Die Asean-Mitglieder gaben ihren Beziehungen zu China in der Folge außenpolitisch eine höhere Priorität als denen zu Indien. Der Verdacht der ASEAN-Staaten, dass Indiens Blockfreiheit zu sehr sowjetischen Interessen diente, wurde verstärkt durch eine relativ zurückhaltende Position Indiens gegenüber der vietnamesischen Besetzung Kambodschas und gegenüber der sowjetischen Invasion Afghanistans. Der Rückzug der Sowjets aus Afghanistan und der Vietnamesen aus Kambodscha Ende der achtziger Jahre schob diese irritierenden Faktoren in den Beziehungen zwischen Indien und den ASEAN-Staaten beiseite. Der Zusammenbruch der Sowjetunion verstärkte diesen Trend hin zu einer unvoreingenommenen Einschätzung der indischen Politik – anstatt diese nur durch das einfache Prisma des Kalten Krieges zu sehen.
Seit Ende der achtziger Jahre begann Indien seine Politik nach Süd- ostasien zu orientieren. Mehrere Faktoren trugen zu der sinkenden Bedeutung des Nahen und Mittleren Ostens bei: die Ölschwemme der achtziger Jahre und der daraus resultierende Fall der Weltölpreise, die wachsende eigenständige Ölproduktion Indiens, die Erkenntnis, dass die freundliche Haltung gegenüber den Staaten des Nahen Ostens keine wirtschaftlichen Vorteile gebracht hat und schließlich der Abnutzungskrieg zwischen Iran und Irak – zwei wichtige Partner Indiens im Nahen und Mittleren Osten. Der ökonomische Erfolg Südostasiens lenkte stattdessen die indische Aufmerksamkeit in östliche Richtung. Südostasien wurde sowohl als Zulieferer für Wa-ren nach Indien als auch als Markt für den Absatz indischer Produkte immer bedeutender.
Die andere Seite der USA
Bei der Geberkonferenz für die Folgen der Tsunami-Katastrophe Anfang Januar in Jakarta drängten viele der dort vertretenen Staaten die Vereinten Nationen, eine führende Rolle bei der Hilfe für die Flutkatastrophe zu übernehmen – auch die am meisten betroffenen Länder in der Region. Der damalige US-Außenminister Colin Powell kam dem entgegen, als er in Jakarta bestätigte, dass die zunächst von Washington eingerichtete Kerngruppe aufgelöst und in die UN-Operationen eingegliedert werden sollte. Dennoch betonte Powell, dass die UN zwar eine führende Rolle bekommen sollten – aber eben nicht die einzig führende.
Bei den auf der Geberkonferenz abgegebenen Versprechungen waren politische Hintergedanken nicht zu übersehen. So waren Australien und die USA offensichtlich bemüht, auch einmal ihre mitfühlende Seite zu zeigen, nachdem sie sich durch den IrakKrieg selbst isoliert hatten und sich von den Empfindungen in der muslimischen, aber auch der übrigen Welt weit entfernt hatten.
Die Kräfte des US-Militärs in Asien erwiesen sich aber als sehr hilfreich in ihrem Einsatz für Rettungs- und Hilfsaktionen. Dasselbe gilt für das australische Militär. Die Wahrnehmung in der asiatisch-pazifischen Region, dass die Regierung unter Ministerpräsident John Howard sich politisch aus der Region zurückgezogen hat, das Bild Australiens als Hilfssheriff der USA in Asien, und die erklärte Absicht Australiens, die US-Dok-trin der Präventionsschläge zu kopieren, hatten zu einer wachsenden Distanz zwischen Australien und den asiatischen Staaten beigetragen. Auch gab es eine Verbitterung in Asien über die australische Behandlung von Asylbewerbern. Die schnelle, deutlich sichtbare und einzigartig großzügige Hilfe Australiens hat dazu beigetragen, Jahre der Irritation zu beenden, und sie könnte Australien wieder in das asiatische Bewusstsein bringen.
Präsentes Japan, ruhiges China
Japan war nach dem Tsunami darauf aus, sein Bild als eindimensionale Macht mit dem einzigen Mittel der Scheckbuch-Diplomatie zu überwinden. Innenpolitisch war die Stationierung japanischer Truppen im Irak kontrovers und unpopulär. Im Gegensatz dazu war die Entsendung des Militärs zu Rettungseinsätzen nach Süd- und Südostasien, wo viele japanische Touristen ihre Winterferien verbringen, in Japan sehr populär und brachte Regierung wie Militär viel Lob ein.
Natürlich kann der Einsatz auch den Anspruch Japans auf einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat befördern, indem es sich durch die Hilfe als internationalistische und humanistische Großmacht in Asien präsentiert. Der in Jakarta beschlossene Aufbau eines Tsunami-Warnsystems für den Indischen Ozean bietet Japan zudem eine exzellente Gelegenheit, seine hervorragenden wissenschaftlichen Kenntnisse und speziell seine Warnsystemtechnologie an seine asiatischen Nachbarn zu exportieren.
Die prominente Rolle Japans stach insbesondere im Kontrast zu China heraus, Asiens einzigem ständigen Mitglied im UN-Sicherheitsrat. Ebenso erstaunlich war das Fehlen Chinas in der zunächst die Einsätze leitenden, von den USA zusammengestellten Kerngruppe. Dennoch versprach die chinesische Regierung 83 Millionen Dollar Hilfe. Die chinesische Bevölkerung spendete weitere 18 Millionen. Und obwohl beide Beträge eher klein sind, so sind sie doch für China beispiellos. Gleichzeitig zeigte das Verhalten in dieser Krise jedoch auch die Grenzen Chinas als aufstrebende asiatische Macht auf. Denn mit seinen Beiträgen blieb China eben weit hinter denen Australiens, Indiens und Japans zurück. Im Kontext der herausragenden Rolle, die China in den letzten Jahren in der Region angenommen hat, war dies eine ernüchternde Erinnerung, wie begrenzt der Reichtum, die Macht und der Einfluss Chinas tatsächlich noch sind.
Hoffnung auf Institutionalisierung
Trotz der aufgezeigten politischen Hintergedanken waren geopolitische Kalkulationen eher zweitrangige und nicht die dominierenden Motive für die Hilfszusagen. Der Hauptansporn für die Großzügigkeit sowohl seitens der Regierungen als auch seitens der Bevölkerung war tatsächlich das Gefühl eines gemeinsamen Verlusts. Es war der Wille, etwas zu tun um zu helfen.
Denn zunehmende Auslandsreisen durch eine wachsende Zahl von Menschen haben die mentale und emotionale Distanz zwischen den Ländern weiter vermindert. Schließlich hätte jeder von uns über die Feiertage an den warmen und schönen Stränden Südostasiens sein können. Es bleibt zu hoffen, dass dieses Gefühl mehr ist als nur eine kurzlebige Erscheinung. Dann könnte die Flutwelle der menschlichen Solidarität die Grundlage für eine lang andauernde Institutionalisierung der Zusammenarbeit in der asiatisch-pazifischen Region bilden.
Internationale Politik 2, Februar 2005, S. 94 - 97.