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01. Sep 2004

Von der Vorstellung zur Verwirklichung

Japans Politikwechsel

In den vergangenen Jahren wurde die Entwicklung Japans völlig vom wirtschaftlichen Aufstieg
Chinas in den Schatten gestellt. Doch auch in Japan hat sich vieles getan. Die Autoren, beide an
der UN-Universität in Tokio tätig, analysieren den Wandel der politischen Strukturen. In Sicherheitsfragen
sucht Japan nun seinen eigenen Weg zwischen multilateraler Grundüberzeugung
und Freundschaft mit den USA.

Chinas ökonomischer Auftritt hat Japan in den vergangenen Jahren offensichtlich in den Schatten gestellt. Dabei scheint vergessen zu sein, dass Japan nach wie vor die größte individuelle Quelle beim Überschusssparen und der weltweit größte Kapitalinvestor ist. Darüber hinaus rangiert Japan als Entwicklungshilfegeber an erster oder zweiter Stelle, und es ist absolute Weltspitze in der Produktionsorganisation und Produktionstechnologie.

In der Berichterstattung der internationalen Medien über Japan beziehen sich jedoch die Schlagzeilen hauptsächlich auf die Rezession, unter der Japan seit einigen Jahren zu leiden hatte. Beobachter von außen beschäftigen sich dabei vor allem mit der Frage, ob und wie Japan politische Reformen als Voraussetzung einer eigengesteuerten ökonomischen Erholung verwirklichen kann.

In jüngster Zeit scheint Japans Wirtschaft trotz einiger Schwächen grundsätzlich wieder auf den Pfad der Erholung gefunden zu haben. Das Bruttosozialprodukt ist langsam im Steigen begriffen, die Arbeitslosenquote ist leicht gesunken. Zudem offenbart der Haushalt 2004 mit seinem besonderen Fokus auf Forschung und technologischer Entwicklung1 Japans Ambitionen, seine herausragende Position als zweitgrößte Ökonomie der Welt und technologische Supermacht auch weiterhin zu bewahren.

Da die hiesige Aufmerksamkeit seit einiger Zeit schwerpunktmäßig auf China liegt, haben einige sehr grundlegende Veränderungen in der japanischen Politik das öffentliche Interesse kaum erregt: Eine dieser Veränderungen manifestiert sich in der jüngsten Gesetzgebung über die japanische Verteidigung und Sicherheit. Eine weitere Veränderung dokumentiert sich in der neuen Form und Qualität der Debatte über ein früher nahezu sakrosanktes Thema: die Änderung der Verfassung.

Im Gegensatz zu früheren Verfassungsdiskussionen – wie etwa anlässlich des ersten Golf-Krieges Anfang der 90er Jahre – gibt die derzeitige Debatte Anlass zu der Vermutung, dass die Änderung des so genannten „Friedensartikels 9“ in der japanischen Verfassung in greifbarer Nähe liegt. Zum ersten Mal seit beinahe 60 Jahren scheint es einen immer stärker werdenden Trend unter Politikern, Wissenschaftlern und in der japanischen Öffentlichkeit zu geben, die Änderung der Verfassung zu unterstützen.

Ursachen für den Politikwechsel

Der Schwenk in der japanischen Politik beruht auf einem Zusammenspiel mehrerer Entwicklungen: der Veränderung des japanischen Parteiensystems, des fundamentalen Wandels in Japans Sicherheitsvorstellungen und schließlich des Wandels in der japanischen Perzeption der eigenen internationalen Rolle.

Wandel der politischen Strukturen in Japan

Eine wichtige Grundvoraussetzung für den Politikwechsel ist der Wandel der politischen Strukturen innerhalb Japans, allen voran das Aufbrechen der bisherigen verkrusteten Parteistrukturen durch Premierminister Junichiro Koizumi. So hat die Wahlrechtsreform von 1994 Einzelkandidaten-Wahlkreise ermöglicht. Darüber hinaus ist die Rolle der Fraktionschefs bei der Kontrolle der Parteiangelegenheiten schwächer geworden, wie bei der Wiederwahl Koizumis zum Parteichef im Oktober 2003 zu beobachten war; und schließlich hat die wachsende Verbreitung einer „TV-Politik“ Koizumis persönliche Macht und Popularität zumindest für einen längeren Zeitraum gestärkt. Im Ergebnis dieser Entwicklungen haben die allgemeinen Wahlen von 2003 und die Oberhauswahlen von 2004 nun erste zarte Umrisse eines Zwei-Parteien-Systems erkennbar werden lassen, weshalb einige Kommentatoren bereits die Entwicklung einer Parteienlandschaft nach amerikanischem Muster voraussagen.

Wandel der Sicherheitsvorstellungen

Auslöser für das veränderte Sicherheitsverständnis ist zum einen die Nordkorea-Frage, die insbesondere die nordkoreanischen Nuklearambitionen und die Entführung japanischer Bürger betrifft. Weitere Ursachen sind das zunehmende Bewusstsein des weltweit wachsenden Terrorismus, der Kriege und ihrer Nachfolgeprobleme in Irak und Afghanistan und schließlich der neuen Bedrohungen menschlicher Sicherheit wie etwa durch epidemische Krankheiten, Menschenhandel und Umweltschäden.

Dementsprechend scheinen Politiker, Medien und Wissenschaft einen entscheidenden Wandel in ihren Sicherheitsvorstellungen vollzogen zu haben.2 Die Mehrheit der Volksvertreter – mit Ausnahme der Kommunisten und Sozialdemokraten – unterstützen deshalb die Veränderung der japanischen Politik hin zu mehr Verantwortung in der internationalen Politik. Auch die japanische Öffentlichkeit teilt diese Einstellung, trotz kontroverser Debatten, stärker als je zuvor.

Dieser Trend geht einher mit einer wachsenden Wertschätzung für die japanischen Verteidigungskräfte. Jüngste Umfragen, die vom Kabinettssekretariat veröffentlicht wurden, geben Anlass zu der Vermutung, dass die Japaner in wachsendem Masse nicht nur zum Zweck der Landesverteidigung in die Streitkräfte eintreten, sondern um etwas für die Gesellschaft zu tun und zu internationalen Friedenseinsätzen beizutragen. Auch der Prozentsatz der Bürger, die eine künftige Teilnahme an UN-Friedenseinsätzen befürworten, ist dementsprechend von 45,5 Prozent im Jahr 1991 auf 70,1 Prozent im Jahr 2003 gestiegen.3

Der eigentliche Ausgangspunkt für diese offensichtlich veränderten japanischen Sicherheitsvorstellungen war bereits der so genannte Higuchi-Report, der im August 1994 veröffentlicht wurde. In diesem Report sagten die Autoren bereits lange vor dem 11. September 2001 voraus, dass „die größte Herausforderung der neuen Ära eher in der Vorbereitung auf unbekannte und im Voraus schwer zu erkennende ‚Gefahren‘ liege, als auf ‚Bedrohungen‘, die bisher mit den Fähigkeiten und Zielen eines Landes in Verbindung gebracht worden seien.“ In Anerkennung dieses Berichts kam die Regierung nicht umhin, ihre Sicherheitsstrategie zu verändern und einige fundamentale Maßnahmen zu ergreifen, um Japan auf dieses neue Szenario vorzubereiten.

Eine dieser Maßnahmen war die Neudefinition des Verhältnisses zu den Vereinigten Staaten. Die gemeinsame Sicherheitserklärung, die im Jahr 1996 von Premierminister Ryutaro Hashimoto und Präsident Bill Clinton unterzeichnet wurde, war ein erster offizieller Schritt, um die japanisch-amerikanische Allianz für die Ära nach dem Kalten Krieg neu zu definieren.4 Der Higuchi-Report empfahl in diesem Zusammenhang, die bilaterale und die multilaterale Kooperation unter Ausnutzung der bisherigen Verflechtungen mit den Vereinigten Staaten, den Vereinten Nationen und diversen regionalen Sicherheitsbündnissen als komplementär zu betrachten. Ausgehend von diesen Empfehlungen war es deshalb das Ziel der japanischen Regierung, eine reibungslose bilaterale Verteidigungskooperation sicherzustellen und effektiver zur Stabilität der Region um Japan herum beizutragen.5

Diese Entwicklung wurde durch drei kritische Ereignisse im Jahr 1998, die das Gefühl der Dringlichkeit für diese Maßnahmen in Japan noch einmal verstärkten, weiter befördert: Die Atomtests von Indien und Pakistan im Mai; Bill Clintons China-Besuch im Juli, als er sich weigerte, auf dem Weg in Japan Zwischenstation zu machen („Japan passing“) und auf chinesischem Boden die japanische Wirtschaftspolitik kritisierte („Japan bashing“); und schließlich der Raketentest Nordkoreas im August. Kurz nach der Taiwan-Krise von 1996 beschleunigten diese drei Ereignisse zusammengenommen den Paradigmenwechsel in Japans Außen- und Sicherheitspolitik.

Wandel der japanischen Selbstwahrnehmung

Die anhaltende Unsicherheit über Nordkoreas nukleare Ambitionen und die erhöhten Spannungen in den China-Taiwan-Beziehungen lieferten den Hintergrund für einen Rechtsruck in Japan. Einen offenkundigen Ausdruck fand dies in der formellen Anerkennung der alten imperialen Symbole, der Hinomaru-Flagge und der Kimigayo-Nationalhymne, durch das Parlament 1999. Die wiederholte Bestätigung von Japans Bedeutung für die USA als regionaler – und im Falle Iraks als globaler – Partner wird dabei entweder als eine Investition oder als Schutzwall gegen das doppelte Risiko einer Einverleibung oder des Verlassenwerdens durch die USA verstanden.6

Die Änderung der japanischen Selbstwahrnehmung, verbunden mit einem wachsenden Selbstvertrauen, spiegelt sich auch in der neuen Qualität der Diskussion über die Verfassungsänderung wider. Selbst frühere energische Gegner einer Änderung dieses Grundsatzdokuments haben begonnen, über die Notwendigkeit für Japan nachzudenken, auf die neuen internationalen Herausforderungen flexibler reagieren zu können.

Abgesehen von diesen neuen Sicherheitsherausforderungen liegt möglicherweise aber auch ein Grund für den japanischen Politikwechsel in der Tatsache, dass nun nach und nach jüngere Politiker, Journalisten und Wissenschaftler, die die Grausamkeiten des Krieges nicht mehr persönlich erlebt haben, in Führungsrollen hineinwachsen. Dies würde auch die größere Offenheit erklären, mit der die Nuklearambitionen Japans diskutiert werden.7

Obwohl die derzeitige politische Führung jegliche nukleare Absicht vehement bestreitet, warnte Ichiro Ozawa, Chef der Liberalen Partei, bereits im April 2002, dass Japan leicht tausende von Nuklearsprengköpfen produzieren könnte, wenn es durch Chinas wachsende Militärmacht bedroht würde. Dem folgte einen Monat später die öffentliche Überlegung des damaligen Kabinettchefs Yasuo Fukuda, dass sich Japans Bürger in absehbarer Zeit durchaus für den Besitz von Nuklearwaffen entscheiden könnten.8 (Natürlich ist es auch denkbar, dass die öffentliche Spekulation über Japans Nuklearisierung durch amerikanische und japanische Stimmen vor allem dazu dienen sollte, China zur Einhegung von Nordkoreas nuklearen Aktivitäten und Ambitionen zu veranlassen.)

Selbst wenn es keinerlei Belege für einen japanischen Plan gibt, den nuklearen Weg zu beschreiten, macht es aus praktischen Überlegungen doch Sinn, Japan als einen virtuellen Atomwaffenstaat zu begreifen. So geben manche Gesprächspartner im Privaten zu bedenken, dass nach Nordkorea die nächsten proliferationssensitiven Akteure in Ostasien Japan, Südkorea und Taiwan sein werden. Denkbar wäre aber auch, dass Japan als Alternative dem amerikanischen Beispiel folgt und Präemptivschlagskapazitäten entwickelt. Zwischenzeitlich hat sich Japan bereits mit anderen ähnlich gesonnenen Ländern zusammengetan, um an den Manövern der Proliferation Security Initiative teilzunehmen, die die Verschiffung von proliferationsrelevantem Material zu Land, zu Wasser und in der Luft unterbinden sollen. Der ehemalige Kabinettchef Yasuo Fukuda äußerte zudem öffentlich die Hoffnung, dass ein künftiges Kabinett die Verfassung so interpretieren wird, dass Japan dann an gemeinsamen Verteidigungsoperationen mit Alliierten teilnehmen kann.9 Diese Idee wurde ein paar Monate später von einem Beratergremium von Außenministerin Yoriko Kawaguchi aufgegriffen.

Wandel der UN-Wahrnehmung

Im Gegensatz zu der wachsenden öffentlichen Unterstützung für UN-Einsätze und die Rolle der Verteidigungskräfte sind japanische Politiker zunehmend verstimmt über den UN-Sicherheitsrat. Japan ist bekannt als einer der wichtigsten Unterstützer internationaler humanitärer, hauptsächlich UN-gesteuerter Einsätze. Unter Hinweis auf sein großes Engagement ist es den japanischen Regierungen seit längerer Zeit ein Anliegen, den politischen Einfluss Japans auch über einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat zu erweitern. Doch sind die Chancen für Japan, in den Entscheidungsprozess zu so wesentlichen Fragen wie dem Irak-Krieg stärker eingebunden zu werden, schon wegen der Diskussionsblockade über die Reform des Sicherheitsrates relativ gering. Verständlicherweise hat das zu einer wachsenden Frustration auf Seiten der japanischen Repräsentanten geführt, die durch die hilflose Reaktion des Sicherheitsrats auf die unilateralen Aktionen der Vereinigten Staaten noch gesteigert wurde. Die Skepsis hinsichtlich der Effizienz des derzeitigen UN-Sicherheitsrats ist daher zweifellos gewachsen.

Über die grundsätzlichen Zweifel am Sicherheitsrat hinaus kämpft Japan zudem mit einem fundamentalen Widerspruch zwischen seinen bilateralen Pflichten und multilateralen Überzeugungen. Das sichtbarste Beispiel für diese Diskrepanz bietet das Sondermaßnahmengesetz zur Terrorismusabwehr. Sein Zweck besteht darin, den Verteidigungskräften zu ermöglichen, „die militärischen Kräfte der Vereinigten Staaten und anderer Länder zu unterstützen, die die Ziele der UN-Charta durchsetzen wollen“, um „die Bedrohung des internationalen Friedens und der Sicherheit“ zu bekämpfen, die der internationale Terrorismus darstellt.10

Mit Blick auf den Irak-Krieg hat sich ein tiefergehendes Problem aus dieser Verpflichtung ergeben: Japan muss als loyaler Partner der Vereinigten Staaten agieren und hat das Gesetz dementsprechend, aber mit spezifischem Bezug auf die Ziele der UN-Charta in Kraft gesetzt. Indem die USA den Krieg ohne ausdrückliche Legitimation durch die UN begannen, wurden die Prinzipien der UN-Charta eindeutig verletzt, was letztlich zu einem fundamentalen Zusammenprall der japanischen bilateralen Pflichten und multilateralen Überzeugungen geführt hat.

Japanische Beobachter sehen Premierminister Koizumi als die wichtigste treibende Kraft hinter Japans derzeitiger Fixierung auf Amerika – anstatt auf die UN – und hoffen auf ein Zurückschwingen des Pendels mit der Amtsübernahme einer neuen japanischen Regierung. Zudem gibt es Stimmen, die mehr oder weniger deutlich nach einer unabhängigeren japanischen Position in der Außenpolitik verlangen. So empfahl der Kolumnist Susumu Saito, „dass die Japaner sich fragen sollten, ob sie damit glücklich seien, nur ein Bankautomat im Dienste der USA zu sein.“11

Abgesehen von den Medien lassen sich jedoch auch einige Hinweise für diese Haltung in Regierungskreisen entdecken. Während dem amerikanischen Partner gegenüber eine absolut devote Position eingenommen wird, finden sich sehr wohl auch Stimmen, die betonen, dass Japans internationale Aktivitäten auch „auf Japans eigener Beurteilung“ beruhen sollten.

Japans eigenes Urteil

Den Wunsch nach einer stärkeren Unabhängigkeit Japans in seiner nationalen wie internationalen Politik spiegelt auch das „Gesetz über Maßnahmen zur Sicherstellung nationaler Unabhängigkeit und Sicherheit im Falle eines bewaffneten Angriffs“ vom 6. Juni 2003 wider. Das „Sondermaßnahmengesetz für die Irak-Wiederaufbauhilfe“ vom 26. Juni 2003 komplettierte schließlich das Gesetzespaket, das einen größeren Handlungsspielraum für Japan schaffen soll.

An dem Tag, als das Parlament das Gesetz über die Spezialmaßnahmen für humanitäre und Wiederaufbauhilfe in Irak verabschiedete, unterstrich Premierminister Koizumi insbesondere die Bedeutung des „Gesetzes über die Bewahrung des Friedens und der Sicherheit Japans und der internationalen Gemeinschaft“. Er betonte, dass „von heute an die Regierung Japans sorgfältige Überprüfungen und Vorbereitungen möglicher Einsätze im Rahmen des Gesetzes und der Situation in Irak vornehmen wird, und Wiederaufbauhilfen für Irak nach Japans eigener Beurteilung und unter expliziter Berücksichtigung der Sicherheit der Verteidigungskräfte und anderer entsandter Personen verwirklichen wird.“12

Das besagte „Gesetz über Maßnahmen zur Sicherstellung nationaler Unabhängigkeit und Sicherheit im Falle eines bewaffneten Angriffs“ wurde mit der überwältigenden Mehrheit von 202 zu 32 Stimmen im Parlament verabschiedet. Die Regierungskoalition aus Liberaldemokratischer Partei (LDP), Komei-Partei und Neuer Konservativer Partei unterstützte das Gesetz ebenso wie die größten Oppositionsparteien, die Demokratische und die Liberale Partei. Nur die japanischen Kommunisten und die Sozialdemokraten votierten dagegen. Kritische japanische Beobachter sprechen auch deshalb von einer „Amerikanisierung“ des japanischen Parteiensystems, weil es kaum noch eine wirkliche Opposition zu geben scheint – zumindest wenn es um Japans Sicherheitspolitik geht.

In den Printmedien war die Berichterstattung über die nationalen Notstandsgesetze positiv, was die Öffentlichkeit und die Regierung dazu veranlasst hat, auch die noch ausstehenden Fragen wie die Gesetzgebung zum Schutz von Zivilisten in Zeiten des nationalen Notstands und Gesetze zur Vorbereitung auf Notfälle, wie den Fall unidentifizierter bewaffneter Schiffe oder des Terrorismus, zu diskutieren. Selbst die Festlegung von Grundsätzen, nach denen Gefangene auf Grundlage der Genfer Konvention human behandelt werden und die Schaffung von Gesetzesgrundlagen zur Erleichterung der Aktivitäten amerikanischer Truppen werden thematisiert, was vor zehn Jahren wohl nur schwer vorstellbar gewesen wäre.

Die Gesetze sind folglich nicht nur für die eigene Sicherheit, sondern auch mit Blick auf Japans verstärktes internationales Engagement zur Stabilisierung Iraks und des Nahen Ostens von großer Bedeutung.

Japans Anstrengungen, seine nationalen Gesetze anzupassen, sind dabei sicherlich nicht nur Ausdruck seines Wunsches, sich als Bewerber für einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat zu profilieren. Ebenso wenig resultieren sie allein aus den bilateralen Verpflichtungen im Rahmen des Sicherheitsabkommens mit den Vereinigten Staaten. Der wohl wichtigste Grund, die Stabilisierung des Nahen Ostens zu unterstützen, ist Japans extreme Abhängigkeit von den dortigen Energieressourcen, denn während die USA 24 Prozent ihres Öls aus dem Nahen Osten importiert und Großbritannien sogar nur ungefähr sechs Prozent, ist Japan zu 86 Prozent vom nahöstlichen Öl abhängig. Die Region ist damit absolut zentral für Japans Wirtschaft und das Wohlergehen seiner Gesellschaft.13

Schlussfolgerungen

Die veränderte japanische Perzeption von Sicherheit generell und von Japans Rolle in der Welt haben einen bedeutenden Wandel in der japanischen Politik ausgelöst. Premierminister Koizumi hat zudem sehr klug die Chancen genutzt, die die internationalen Herausforderungen geboten haben, um japanische Positionen zu ändern, die vor Jahren noch nicht einmal hätten diskutiert werden können. Daher ist zum ersten Mal in 60 Jahren auch die Änderung der Verfassung, bisher ein unantastbares Dokument für die Japaner, in greifbare Nähe gerückt. Japanische Politiker und die Öffentlichkeit scheinen allmählich zu akzeptieren, dass – will Japan in der Weltpolitik des neuen Jahrtausends ein gewichtiges Wort mitreden – die neuen internationalen Sicherheitsprobleme und die daraus resultierenden Erfordernisse auch von Japan bewältigt werden müssen.

Abgesehen von der Frage der Sicherheitsratsreform hat Japan allerdings auch intern noch einige wichtige Hürden zu nehmen, ehe es tatsächlich eine stärkere Rolle in der internationalen Gemeinschaft übernehmen kann. Die Verfassungsänderung als Voraussetzung zur Änderung seiner nationalen Gesetze, die es Japan ermöglichen würde, an internationalen und über Peacekeeping-Einsätze hinausgehenden Militäraktionen teilzunehmen, wäre nur der erste Schritt. Dieser Schritt müsste durch vertrauensbildende und multilaterale Maßnahmen in der Region ergänzt und schließlich durch eine transparente und gründliche Informationspolitik gegenüber der japanischen Bevölkerung mit Blick auf die Konsequenzen dieser Veränderungen komplettiert werden.

Die größte Hürde liegt allerdings wohl auf internationaler Ebene, denn für die Übernahme einer maßgeblichen Rolle in der internationalen Politik müsste sich Japan vor allem politisch emanzipieren und seine eigenen Ideen und Positionen auf der Grundlage seiner „eigenen Beurteilung“ entschlossen auch auf der internationalen Bühne vertreten.

Anmerkungen

1  Siehe auch Hitoshi Chiba, A Nation Built on Scientific and Technological Creativity, in: Look Japan, Jg. 50, Nr. 577 (April 2004), S.38.

2  Helping Out in Iraq, in: Japan Echo, Jg. 31, Nr. 2 (April 2004), S. 13–15.

3  Kabinettsekretariat: Meinungsumfragen zu den Verteidigungskräften und Verteidigungsfragen, zitiert nach: Hitoshi Chiba, A New Sense of Security, in: Look Japan, Jg. 49, Nr. 571 (Oktober 2003), S. 6–10.

4  Akio Watanabe, Has Japan Crossed the Rubicon? Defence Policy Since the Higuchi Report, in: Japan Review of International Affairs, Jg. 17, Nr. 4 (Winter 2003), S. 238–254.

5  Mehr über die regionale Dimension in Edward Newman, Japan and East Asia in a Globalizing World, Wilton Park Konferenz, 29.9.–2.10.2003. Siehe <http://www.wiltonpark.org.uk/web/welcome.html&gt;.

6  Brad Glosserman, Growing scrutiny of Japan’s defense policy, in: Japan Times, 14.8.1999.

7  Murata Koji, Nuclear Question Becomes Multiple Choice, in: Look Japan, Jg. 49, Nr. 571 (Oktober 2003), S. 19.

8  Eine starke Gegenposition vertritt Sakurada Jun, The Folly of Calls for Nuclear Armament, in: Japan Echo, Jg. 30, Nr. 8 (August 2003), S. 39–43.

9  Kyodo News Service, Fukuda sees collective defense, in: Japan Times, 23.5.2003.

10  Watanabe, a.a.O. (Anm. 4), S. 252.

11  Susumu Saito, The case against getting involved in Iraq, in: International Herald Tribune/Asahi Shimbun, 16.10.2003.

12  Chiba, Japan Promises continuous Assistance for Iraq, in: Look Japan, Jg. 49, Nr. 571 (Oktober 2003), S. 5.

13  Hatsuhisa Takashima, The Two Slain Diplomats and Reconstruction Aid for Iraq, in: Japan Echo, Jg. 31, Nr. 2 (April 2004), S.16–19.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 9, September 2004, S. 37‑44

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