Reform bleibt gefordert
Der Westen kann den politischen Wandel in der arabischen Welt fördern – oder behindern
EU und USA sollten den politischen Wandel in der arabischen Welt fördern, sollten sich
aber bewusst bleiben, dass die Ergebnisse nicht immer die gewünschten sind
Nicht jede Veränderung, die sich im Nahen und Mittleren Osten in den letzten Jahren zugetragen hat, ist eine Folge des Irak-Kriegs. Zweifellos aber hat dieser Krieg die regionalen Verhältnisse massiv in Bewegung gebracht. Das zeigt sich auf der geopolitischen Ebene ebenso wie in der politischen Debatte innerhalb der nahöstlichen Gesellschaften selbst. Externe Akteure, nicht zuletzt USA und Europäische Union, haben guten Grund, politischen Wandel in der Region zu fördern und zu fordern. Was ihnen bislang fehlt, ist eine Strategie für den Umgang mit den gelegentlich unerwarteten Konsequenzen politischer Öffnungsprozesse.
Tatsächlich kann man von einer Art geopolitischer Revolution im Nahen und Mittleren Osten sprechen. So ist erstmals seit der Unabhängigkeitsphase ein arabischer Staat vollständig von einer außerregionalen Macht besetzt worden. Die USA sind nicht länger nur Hegemonialmacht. Sie sind zur Regionalmacht und faktisch zum „Nachbarn“ des Irans, Saudi-Arabiens und Syriens geworden und erleben dabei, beim Versuch, die irakischen politischen Verhältnisse selbst zu gestalten, die Grenzen ihrer in die Region projizierten Macht. Iranischer Einfluss im Irak ist gewachsen, und die territorialen Grenzen des Iraks, die vor 95 Jahren von einer anderen externen Macht gezogen wurden, könnten selbst in Frage gestellt werden. Auch in der Levante sind faktische Grenzen und Dominanzverhältnisse in Bewegung geraten. Syrien hat unter einer Mischung aus Bürgerprotest und internationalem Druck seine Truppen aus dem Libanon abziehen müssen und damit eine 30-jährige Hegemoniestellung im Nachbarland eingebüßt. Israel hat erstmals Siedlungen auf dem Gebiet des historischen Palästinas aufgegeben und mit seinem Abzug aus dem Gaza-Streifen Grenzen, die zwar international nie anerkannt waren, aber de facto seit 40 Jahren bestanden, neu definiert.
Politisch-ideologische Veränderungen laufen parallel. So dürfte die etatistische Form des Panarabismus oder arabischen Nationalismus mit der Nieder-lage des Baath-Regimes im Irak und der Verdrängung Syriens aus dem Libanon ihren Todesstoß erhalten haben. Geschwächt war diese Ideologie schon länger, und nach und nach ist das ideologische Vakuum, das sie hinterlässt, von diversen Spielarten des Islamismus gefüllt worden. Profitiert haben nationale islamistische Bewegungen mit verhandelbaren und pragmatischen Agenden wie die Muslimbrüder in Ägypten, die regierende Schiiten-Koalition im Irak, die libanesische Hisbollah oder die palästinensische Hamas-Bewegung, aber auch ein terroristischer, in seiner Praxis nihilistischer Dschihadismus vom Schlage der Al-Qaida. Die Dschihadisten haben nicht nur eine gewisse Popularität vor allem in Staaten gewonnen, deren nationalstaatliche Projekte wenig erfolgreich verlaufen sind. Ihre Aktionen werden auch, und das ist für die innenpolitisch-kulturelle Entwicklung einzelner arabischer Länder vielleicht noch gefährlicher, bei Teilen der Gesellschaften mit einer gewissen Indifferenz betrachtet: als eine Art notwendige, letztlich vom „Westen“ und den autoritären arabischen Herrschern verantwortete Auseinandersetzung, in der man nicht Partei beziehen will. Quer durch die Region besteht zudem die Gefahr, dass konfessionalistische oder ethnisch-nationalistische Tendenzen an Kraft gewinnen, wo politische Orientierungen wenig Zukunft versprechen. Angefeuert von den bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen im Irak, macht das Wort von der „schiitischen Achse“, die es zu konfrontieren gelte, die Runde in den arabischen Nachbarstaaten. Und im Iran spricht der ein oder andere vom „schiitischen Öl“, wenn er auf die entsprechenden Reserven im Südirak, im Osten Saudi-Arabiens und natürlich im Iran selbst schaut.
Neue Demokratiedebatten
Gleichzeitig hat sich aber auch eine durchaus vielgestaltige Demokratiedebatte entwickelt. Zwar haben Vorstellungen „liberaler Demokratie“ westlichen Musters bislang noch keine überragende mobilisierende Kraft entfaltet. Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit sowie Machtteilung dagegen sind ausgesprochen populäre Konzepte, die deshalb auch in den Wahlprogrammen islamistischer Herausforderer der bestehenden autoritären Systeme Platz finden. Die Hamas-Bewegung in den palästinensischen Gebieten gewann die dortigen Parlamentswahlen als „Liste für Reform und Veränderung“; Fatah, die Regime-Partei von Yasir Arafat und Mahmud Abbas, schickte ihre Kandidaten als „Liste der Märtyrer“ – mit klarem Bezug auf die bewaffneten Auseinandersetzungen der vergangenen Jahre also – ins Rennen. Das Wahlergebnis zeigte, was den palästinensischen Wählern wichtiger war.
Die Wahlen in den palästinensischen Gebieten sind übereinstimmend als frei und fair charakterisiert worden. Ähnliches gilt für die Parlamentswahlen, die im Frühjahr 2005 im Libanon und im Dezember im Irak stattfanden. Die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in Ägypten entsprachen diesen Standards nicht; auffällig war aber, dass Ägyptens Präsident erstmals überhaupt mehr als einen Kandidaten für das höchste Staatsamt zuließ – eine erste symbolische Öffnung, wenn man so will, auf die Ära nach Hosni Mubarak. Auch die Kommunalwahlen in Saudi-Arabien, die ersten ihrer Art, waren nicht mehr als ein Viertelschritt in Richtung Partizipation – Frauen erhielten kein Wahlrecht, und nur die Hälfte der zu vergebenden Sitze stand zur Wahl. Das ägyptische wie das saudische Beispiel demonstriert allerdings, dass Wahlen, die gewisse Alternativen erlauben, nach und nach zum Standard werden, an dem auch die herrschenden Regime sich von ihren Öffentlichkeiten messen lassen müssen. Gleichzeitig zeigte sich fast überall, wo gewählt wurde, auch die Popularität islamistischer Diskurse und die Mobilisierungsfähigkeit politisch-islamischer Gruppen: in Saudi-Arabien nicht anders als im Irak, in Ägypten oder eben in den palästinensischen Gebieten.
Zweifellos sind die politischen Entwicklungen im Libanon, in den palästinensischen Gebieten, vielleicht eines Tages auch im Irak von Bedeutung für die „Demokratiedebatte“, die in der Region, aber auch in Europa und den USA über die Region, geführt wird. So ist Israel heute eben nicht mehr die „einzige Demokratie im Nahen Osten“ – eine Entwicklung, die für die Wiederbelebung eines Friedensprozesses an Bedeutung gewinnen könnte. Und wenn es Hamas-Politikern in den palästinensischen Gebieten gelingt, tatsächlich eine bessere Regierungsführung zu praktizieren als ihre säkular-nationalistischen Vorgänger und zudem einen Modus Vivendi mit Israel zu finden, dann wird die Frage, ob „Demokratie“ und „Islam“ eigentlich miteinander vereinbar seien, für den Mainstream des politischen Islams, für politisch-islamische Bewegungen also, denen es um die friedliche Entwicklung ihrer eigenen Gesellschaften geht, eindeutig positiv beantwortet sein. Für die Gegner der Islamisten wird dies allerdings erst der Fall sein, wenn darüber hinaus die nächsten palästinensischen Wahlen planmäßig und ebenso frei und fair stattfinden wie die letzten. Tatsächlich wäre ein Erfolg einer Hamas-geführten Regierung – Erfolg hier definiert als zumindest gewaltfreies Nebeneinander mit Israel und bessere Regierungspraxis – wichtig, auch über das palästinensisch-israelische Verhältnis hinaus. Tendenziell würden dadurch nämlich jene Kräfte am extremistischen Ende des politischen Islams geschwächt, die demokratische Prinzipien und institutionelle Integration ablehnen und statt der Reform des eigenen Gemeinwesens lieber den Existenzkampf zwischen „dem Westen“ und „dem Islam“ fördern wollen.
Machtkonflikte und politische Entwicklungsdefizite
Natürlich sind die Reformperspektiven im Nahen und Mittleren Osten ganz unmittelbar von den Entwicklungen in den Krisenherden der Region abhängig: von der palästinensisch-israelischen Konfliktlage, von der Frage, ob sich im Irak eine haltbare föderalistische Machtteilung etablieren lässt oder ob das Land im Bürgerkrieg versinkt und als territoriale Einheit zerbricht, und auch vom Ausgang des internationalen Atomstreits mit Iran. Dazu ist an anderer Stelle (siehe auch Khaled Hroub in dieser IP, S. 28–33) mehr gesagt worden.1 Neben diesen Territorial- und Machtkonflikten und neben den Gefahren von Proliferation, Isolation sowie konfessioneller oder ethnischer Mobilisierung werden die Chancen der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in der Region durch strukturelle Defizite bestimmt, die, das lässt sich bei aller Gefahr der Generalisierung sagen, für fast alle Staaten in Nordafrika, im Nahen und Mittleren Osten gelten. Zwei politisch-ökonomische Problemlagen müssen dabei hervorgehoben werden.
So haben erstens alle arabischen Staaten und Iran ihre Ressourcen ineffektiv genutzt. Diese Staaten sind nicht eigentlich arm, sie sind aber fast durchweg und allen Standards entsprechend, die zur Messung wirtschaftlicher Entwicklung dienen – Pro-Kopf-Einkommen, Wachstumsraten, ausländische Direktinvestitionen – zurückgefallen. So lagen, um nur wenige Beispiele zu geben, Ägypten und Syrien in den fünfziger Jahren noch weit vor Südkorea, Malaysia – etwa auf dem Niveau von Rumänien und Bulgarien. Die arabischen Staaten haben heute fünf Prozent der Weltbevölkerung, produzieren aber nur zwei Prozent des Weltsozialprodukts; 1980 waren das immerhin noch 3,5 Prozent. Schlimmer noch: Fast alle diese Staaten schneiden bei den Indikatoren menschlicher Entwicklung – Faktoren also wie Bildungsstand, Lebenserwartung, Gleichberechtigung oder Verteilungsgerechtigkeit – schlechter ab als bei einem Ranking nach Pro-Kopf-Einkommen. Sie sind also, anders gesagt, reicher als ihr soziales Entwicklungsniveau vermuten ließe.
Dies hängt eng mit der zweiten Problemlage zusammen, die man mit dem Begriff „Bad Governance/schlechte Regierungsführung“ kennzeichnen kann.2 Konkret bedeutet das einen eklatanten Mangel an Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit, die regelmäßige Missachtung von Menschenrechten, wenig Transparenz, grassierende Korruption und sehr eingeschränkte politische Partizipationsmöglichkeiten. Der Mangel an politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Teilhabe betrifft vor allem zwei Großgruppen, die jeweils die Mehrheit dieser Gesellschaften stellen: Die Frauen und die heutige junge Generation. Quer durch die Region sind etwa 60 Prozent der Bevölkerung unter 20 Jahre alt. Diese Generation würde kaum eine Chance haben, in den nächsten 20 Jahren politisch wirkungsvoll mitzureden, wenn die heute 35- bis 50-jährigen politischen und administrativen Eliten, die gerade dabei sind, sich in Führungspositionen einzurichten,3 es darauf anlegen, genauso lange an der Macht zu bleiben wie die Generation ihrer Eltern, die sie nach und nach ablösen – wenn also autoritäre und patriarchalische Herrschaftsverhältnisse nicht durch pluralistischere, partizipativere und meritokratischere Regierungs- und Verwaltungspraktiken abgelöst werden, die immer auch eine regelmäßige Erneuerung politischer Eliten erlauben.
Forderungen nach politischer Reform sind also sehr wohl am Platze. Zugleich verwundert es wenig, dass die Regime sich gegen westliche Reformforderungen wehren. Schließlich laufen diese Forderungen, ob sie nun in vergleichsweise sanften europäischen oder aggressiveren amerikanischen Tönen vorgetragen werden, letztlich doch immer auf eine Transformation in Richtung auf mehr Teilhabe und damit auf eine Schwächung des Zugriffs der eta-blierten Herrschaftseliten auf ihre Staaten und Gesellschaften hinaus. In ihrem Versuch, Reformforderungen abzuweisen, haben diese Eliten in der Vergangenheit vor allem auf die „inneren Angelegenheiten“ ihrer Staaten verwiesen, aus denen ausländische Akteure sich gefälligst herauszuhalten hätten. Seit dem 1991 durch einen Militärcoup verhinderten Wahlsieg der islamistischen Front islamique du salut (FIS) in Algerien wird zudem auf Stabilitätsgefährdung durch zu rasche oder zu weit gehende Demokratisierungsschritte verwiesen. Und der Wahlsieg der Hamas in den palästinensischen Gebieten lässt Warnungen vor einer Gefahr der „Islamisierung“ durch „zu viel“ an Demokratie erschallen. Die Botschaft heißt dabei, manchmal auch sehr direkt: Ihr könnt weiter mit uns, den Garanten von Stabilität und zwar autoritärer, aber säkularer Herrschaft umgehen, oder euch auf noch mehr Wahlsiege politisch-islamischer Gruppen vorbereiten.
Sechs ungefragte Ratschläge für Reformpolitik gegenüber dem Nahen und Mittleren Osten
Die EU und ihre Mitgliedsstaaten wären schlecht beraten, wenn sie sich durch die Einwände der Regierenden von ihrer Forderung nach Reform in der arabischen Welt abbringen ließen. Gerade wenn man mit Blick auf die Situa-tion im Irak – wo die amerikanische Besatzungsmacht ihre ursprünglichen Ziele der Demokratisierung und des friedlichen Wiederaufbaus praktisch aufgegeben hat und sich nur noch um eine Stabilisierung der Lage bemüht4 – militärische Abkürzungen auf dem Weg des politischen Wandels ablehnt, wird man Akteuren, die eine friedliche Veränderung ihrer Staaten hin zu besserer Regierungsführung, Schutz der Menschenrechte und Demokratie vorantreiben wollen, die Unterstützung nicht versagen dürfen. Sechs allgemeine und notgedrungen generalisierende Ratschläge für westliche Reformpolitik im Nahen und Mittleren Osten können dabei vielleicht als Wegweiser dienen. Einige davon mögen auf den ersten Blick banal erscheinen. Ihre Relevanz zeigt sich aber, wo sie ignoriert werden.
Europa wird, erstens, seinen eigenen Begriff der „Partnerschaft“ ernst nehmen müssen, wenn es von „Partnerländern“ im Mittelmeer-Raum oder im Nahen Osten spricht. Es reicht nicht, im Sinne einer positiven Konditionalität immer wieder das Eigentum lokaler Akteure an Reformprozessen zu betonen. Denn einerseits bindet Europa sich damit an die Zustimmung der Regierenden selbst zu Maßnahmen, die mit zivilgesellschaftlichen Akteuren durchgeführt werden. Andererseits kann der Begriff als Versuch verstanden werden, Eingriffe in die Souveränität der Partnerstaaten zu kaschieren. Europa wird deutlich machen müssen, wo sein eigenes Interesse an der Reform dieser Staaten liegt. Eine offene Darlegung europäischer Interessen kann helfen, Misstrauen und Skepsis gegenüber den Programmen europäischer Akteure abzubauen. Die EU und ihre Mitglieder sollten deshalb deutlich machen, dass sie in gut regierten, rechtsstaatlich organisierten Staaten mit partizipatorischen politischen Systemen auch bessere Partner für die politische, wirtschaftliche und sicherheitspolitische Zusammenarbeit sehen. Darum geht es, nicht um eine neue „mission civilisatrice“.
Europa sollte zweitens solche Akteure in Partnerstaaten unterstützen, die friedlich für Veränderungen in ihren Ländern eintreten. Dies, nicht das Bekenntnis zu Säkularismus oder westlicher Liberalität, die sich auch in europäischen Staaten nur allmählich und keineswegs einheitlich entwickelt haben, muss das wesentliche Kriterium für die Bereitschaft zur Kooperation und zum Kontakt mit politischen und gesellschaftlichen Kräften dieser Länder sein. Das heißt unter anderem zu akzeptieren, dass die Zivilgesellschaft der arabischen und anderer nahöstlicher Länder auch islamistische Kräfte einschließt und sich keineswegs auf jene Gruppen reduzieren lässt, die aus Überzeugung oder langjähriger pragmatischer Erfahrung mit europäischen Gebern einen säkularen Diskurs führen und Projektanträge auf Englisch oder Französisch formulieren können. Dies heißt auch Wahlergebnisse zu akzeptieren, wo – was in der Region noch Ausnahme ist – Wähler tatsächlich die Chance haben, in freien und fairen Wahlen über ihre Repräsentanten abzustimmen. Berechtigte Skepsis gegenüber islamistischen Parteien sollte uns nicht davon abhalten, Siegern solcher Wahlen erst einmal zu gratulieren, bevor wir – durchaus auch harte – Bedingungen für die Zusammenarbeit mit ihnen formulieren. Ohne eine Einbeziehung des modernen politischen Islams werden Reformen in der arabischen Welt jedenfalls kaum durchzusetzen sein.5
Ganz essenziell ist es drittens, die Komplexität politischen Wandels zu akzeptieren. Demokratisierung und politischer Wandel sind nie lineare Prozesse. Sie beinhalten politische und gesellschaftliche Auseinandersetzungen um Macht und materielle Ressourcen. Widersprüche, Umwege und Rückschläge sind eher die Regel als die Ausnahme. Wenn Europa die Demokratisierung arabischer und mittelöstlicher Staaten vorantreiben will, dürfte es gut beraten sein, das Konzept „Demokratie“ operational in seine konstituierenden Elemente aufzubrechen: also Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit, die Wahrung der Menschenrechte, eine unabhängige Justiz, Meinungs- und Pressefreiheit, die Freiheit, Parteien und andere politische Gruppierungen zu bilden sowie natürlich, aber nicht unbedingt zuerst, auch regelmäßige und freie Wahlen. Europäische Akteure sollten dabei deutlich machen, dass die grundlegenden Menschenrechte für uns nicht verhandelbar sind. Andere Elemente von Demokratisierung lassen sich durchaus schrittweise auf den Weg bringen – auch in der europäischen Demokratiegeschichte ist Rechtsstaatlichkeit regelmäßigen Wahlen vorangegangen. Auf diese Weise lassen sich auch sehr viel leichter Allianzen mit lokalen Akteuren bilden, die notwendig sind, wenn ein Programm, das in Richtung Demokratie zielt, nicht als Oktroi Europas oder Amerikas verstanden werden soll.
So kann man in vielen arabischen Staaten Programme zur Stärkung der Justiz durchführen, dafür die Unterstützung lokaler Richter und Anwälte gewinnen und so tatsächlich etwas für mehr Rechtssicherheit tun, können Stiftungen mit Journalisten zusammenarbeiten und eine Entwicklung unabhängiger Medien fördern. Die EU kann in ihren Aktionsplänen Programme zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit vorschlagen und dabei die Unterstützung auch jener administrativen Eliten gewinnen, die erkannt haben, dass der Mangel an Rechtsstaatlichkeit nicht nur ausländische, sondern auch inländische Investoren von – für Wachstum und soziale Stabilität in ihren Ländern so wichtigen – langfristigen Engagements abhält. Dieselben Eliten, die sich der Defizite ihrer politischen Systeme meist durchaus bewusst sind, fürchten jedoch einen Sprung ins potenziell sehr unruhige Wasser freier Wahlen. Tatsächlich, das gilt keineswegs nur für den Nahen Osten, begünstigen vorschnelle Wahlen in Staaten, deren partizipative Strukturen (Parteien, freie Presse) noch ungefestigt sind, oft das Erstarken populistischer Kräfte. Die Forderung nach Wahrung der Menschenrechte ist mittlerweile Allgemeingut bei fast allen säkularen und islamistischen Kräften in der arabischen Welt, die sich um eine friedliche Entwicklung ihrer eigenen Gesellschaften bemühen.
Viertens gilt es, die sozioökonomischen Grundlagen politischer Reformen nicht aus den Augen zu verlieren. Die klassische Modernisierungstheorie, die, stark vereinfacht, den Übergang zur Demokratie an ein bestimmtes Pro-Kopf-Einkommen bindet, ist zu Recht aus der Mode geraten. Es lässt sich nicht ignorieren, dass es eine nichtmechanische Beziehung zwischen wirtschaftlichem Fortschritt, Bildungsstand und dem Wachstum der Mittelschichten auf der einen und der Chance zur Verankerung von Pluralismus und demokratischer Praxis auf der anderen Seite gibt. Dies gibt Maßnahmen wie der Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen, der Investition in Berufs- und Fachschulen, der Universitätskooperation, dem Studentenaustausch und der Einladung von Trainees in europäische Länder eine über ihre unmittelbare Wirkung hinausgehende demokratiepolitische Bedeutung. Es verweist aber auch darauf, dass politische Reformen nicht allein über den Dialog mit Regierungen und Zivilgesellschaften zustande gebracht werden, sondern kontinuierliches, auch materielles Engagement erfordern.
Selbstverständlich darf fünftens, auch wenn das in den Debatten über „arabische Reform“ und „mittelöstliche Reformhindernisse“ gelegentlich untergeht oder sogar bestritten wird, die Relevanz des arabisch-israelischen Kon-flikts und neuerdings auch des Krieges im Irak für die politische Entwicklung der Gesamtregion nicht ignoriert werden. Die autoritären Herrschaftseliten, aber auch bestimmte arabisch-nationalistische Gruppierungen haben sich über Jahrzehnte des Nahost-Konflikts bedient, um Reformforderungen abzuwehren. Das fiel ihnen leicht und wird ihnen weiter leicht fallen, solange bei einer Mehrheit der Bevölkerung in der Region der Eindruck besteht, dass weder die USA noch Europa an einer fairen Beilegung dieses Konflikts inte-ressiert sind und dass die amerikanisch geführte Invasion des Iraks nichts als ein Ausdruck sinistrer amerikanischer Dominanzinteressen ist. Der ungelöste Konflikt ist die stärkste ideologische Quelle militant-islamistischer Gruppen. Krieg, Besetzung und Aufstand im Irak drohen diesen Kräften den gleichen Dienst zu erweisen. Die politischen Führer in der arabischen Welt, oppositionelle genauso wie regierende, mögen sich für das Schicksal der Palästinenser und der Iraker praktisch kaum interessieren – die Bevölkerung tut es sehr wohl. Westliche, nicht zuletzt auch europäische Glaubwürdigkeit in der Region misst sich deshalb ganz wesentlich an unserer Bereitschaft, ernsthaft an einer friedlichen Regelung des Nahost-Konfliktes mitzuarbeiten.6
Sechstens gilt es, sich nicht in Frontstellungen hineinzumanövrieren, die den tatsächlichen Konflikten nicht entsprechen: Auch wenn islamistische Dschihadisten und einige Vertreter abendländischer Überlegenheitsideologien bewusst auf Konfrontation setzen, stehen wir nicht vor einem Kultur- oder Zivilisationskonflikt, der „den Westen“ gegen „den Islam“ positionieren würde, sondern erleben einen tiefen, viele Sicherheiten erschütternden Konflikt innerhalb der arabisch-nahöstlichen Gesellschaften. Modernisierungs- und Herrschaftskonflikte mischen sich dabei vor dem Hintergrund geopolitischer Turbulenzen. Viele der gewalttätigen wie auch der nur verbalen Auseinandersetzungen – von konfessionalistischen Mordanschlägen im Irak über die Inhaftierung von Regimegegnern im Iran, in Syrien oder Saudi-Arabien bis hin zu Attentaten, die in Ägypten und anderen Staaten gegen muslimische Freidenker verübt wurden – lassen sich als Teil eines stellenweise akuten, überwiegend aber latenten und wahrscheinlich noch länger andauernden innerislamischen Bürgerkriegs in Zeitlupe verstehen: einer noch unentschiedenen Auseinandersetzung zwischen denen, die für friedliche Veränderung in Richtung politischer Modernität eintreten und die Kooperation ihrer Länder mit dem Rest der Welt suchen, und jenen, die ihren eigenen Gesellschaften eine totalitäre Zwangsjacke verordnen wollen und sie international in einer ewig währenden Auseinandersetzung sehen, bei denen die Kreuzzüge, die Politik der Kolonialmächte gegenüber dem Osmanischen Reich, der arabisch-israelische Konflikt, die sowjetische Besetzung Afghanistans, die Anschläge des 11. September und der Kampf gegen die US-Truppen im Irak zu einem wahrhaft zeitlosen Krieg verschmelzen. Die Auseinandersetzung mit dem islamistischen Terrorismus muss dort, in den Gesellschaften der Region, gewonnen werden.
Amerikaner und Europäer werden den Reformkräften in der arabischen Welt und im weiteren Nahen Osten ihrerseits verdeutlichen müssen, dass sie nicht den Konflikt, sondern das Engagement mit den muslimischen Gesellschaften suchen. Kleine, aber wichtige Symbole wie Visaregelungen oder Hochschulzugänge spielen dabei durchaus eine Rolle. In vielen Bereichen, wo westliche Glaubwürdigkeit angemahnt werden wird, sollten die USA und die EU ihre Energien bündeln. Das gilt nicht zuletzt für den Umgang mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt. Immerhin gibt es eine „Roadmap“ des Nahost-Quartetts, auf die die lokalen Parteien sich verpflichtet haben. Ohne demonstrative Gemeinsamkeit und, wo nötig, demonstrativen Druck der Quartett-Mitglieder werden lokale Parteien immer wieder versuchen, sich ihren Verpflichtungen zu entziehen. Die transatlantische Zusammenarbeit hat sich als hilfreich auch im Umgang mit Syrien erwiesen, das im Frühjahr 2005 nur durch eine Kombination aus libanesischem Bürgerprotest und internationalem Druck dazu bewegt werden konnte, seine Sicherheitskräfte aus dem Libanon abzuziehen. Genauso wichtig – wobei hier Erfolg nur eine Möglichkeit ist – ist die Zusammenarbeit bei der Suche nach einer diplomatischen Lösung im Atomstreit mit dem Iran.
Wenn es um „weichere“ Politikfelder geht, bei denen vieles mit der Überzeugungskraft der eigenen politischen und gesellschaftlichen Modelle zu tun hat, sind ähnliche Synergien nicht in jedem Fall zu erwarten: Beispielsweise haben die Staaten der EU, was die Integration und die Chancen von Migranten aus dem arabisch-islamischen Raum angeht, wenig zu bieten. Hier bleiben die USA trotz aller Verschärfungen von Visa- und Aufenthaltsbestimmungen das attraktivere Modell. Umgekehrt machen Guantánamo und Abu Ghraib es nahezu unmöglich, mit amerikanischen Regierungsstellen gemeinsam überzeugend für die Verankerung von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit in der arabischen Welt zu werben. Europa ist hier glaubwürdiger, wenn es seine eigenen Programme mit Partnern aus den lokalen Gesellschaften entwickelt. Transatlantische Kooperation im Nahen und Mittleren Osten misst sich letztlich nicht am Grad der Übereinstimmung, den europäische und amerikanische Akteure erzielen können, sondern am Grad des Erfolgs bei der Förderung von Frieden, Sicherheit und politischer wie wirtschaftlicher Reform.
Dr. VOLKER PERTHES, geb. 1958, ist Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Sein jüngstes Buch „Orientalische Promenaden. Der Nahe und Mittlere Osten im Umbruch“ erschien im Siedler Verlag, München 2006.
- 1Mehr aus meiner eigenen Feder dazu in: Orientalische Promenaden. Der Nahe und Mittlere Osten im Umbruch, München 2006.
- 2 Beide Problemlagen werden gern mit dem Phänomen des Rentierstaats erklärt: Damit, dass Ölexporteinkünfte als klassische „Renten“-einkommen, die nicht auf eigener Produktionsleistung beruhen, den herrschenden Eliten zur quasi freien Verfügung stehen, diese sich damit – in Umkehrung des „no taxation without representation“-Prinzips – von ihren Bürgern unabhängig machen, zudem Ineffizienz und Patronagestrukturen fördern (vgl. unter vielen etwa Martin Beck und Oliver Schlumberger: Der Vordere Orient – ein entwicklungspolitischer Sonderfall? Rentenö- konomie, Macht und wirtschaftliche Liberalisierung, in: Peter Pawelka und Hans-Georg Wehling (Hrsg.): Der Vordere Orient an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, Opladen 1999, S. 57–80). Völlig zufriedenstellend ist dieser theoretische Zugang nicht – allein der Verweis auf das Öleinkommen und seine Konzentration in den Händen der politischen Hauptentscheidungsträger, so wichtig er ist, erklärt eben noch nicht, wieso die meisten arabischen Regime sich letztlich auch in Zeiten fal- lender Öleinkünfte gut halten bzw. sich mittels selektiver politischer und ökonomischer Liberali- sierungsschritte als „liberale Autokratien“ neu erfinden konnten (vgl. etwa David Brumberg: The Trap of Liberalized Autocracy, Journal of Democracy, Oktober 2002, S. 56–68).
- 3 Wir sprechen hier also von der Generation Bashar al-Assads, von König Abdullah II. von Jorda- nien, König Muhammad VI. von Marokko. Zum Elitenwandel in der arabischen Welt vgl. aus- führlich: Volker Perthes (Hrsg.) Arab Elites. Negotiating the Politics of Change, Boulder 2004.
- 4 Vgl. Peter Baker: Democracy in Iraq not a Priority in US Budget, Washington Post, 5.4.2006.
- 5 Vgl. Amr Hamzawy: The Key to Arab Reform: Moderate Islamists, Policy Brief, Nr. 40, Juli 2005, Carnegie Endowment for International Peace, Washington DC.
- 6 Insofern bleibt auch die Aussage in der im Dezember 2003 verabschiedeten Europäischen Sicherheitsstrategie richtig, dass es ohne eine Beilegung des arabisch-israelischen Konflikts wenig Chancen geben werde, mit anderen Problemen im Nahen und Mittleren Osten fertig zu werden.
Internationale Politik 6, Juni 2006, S. 6‑13