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01. Juli 2019

Realität gegen Rhetorik

Warum mehr Syrer in ihr Heimatland zurückkehren und was das für Deutschland bedeutet – und was nicht. Ein Erfahrungsbericht aus dem Libanon

Die Regierung drückt sich klar aus: „Wir sind alle der Meinung, dass Syrer zurück nach Syrien gehen müssen … Einige sagen: Wartet auf die politische Lösung, aber unser Volk kann nicht länger warten.“ So der Tenor libanesischer Offizieller kürzlich zu einer deutschen Delega­tion aus Ministerien, Thinktanks und Bundestag.

Der Libanon ist müde, syrische Flüchtlinge zu beherbergen – und wen könnte das wundern? Jeder vierte Bewohner ist heute ein syrischer Flüchtling, ein höherer Flüchtlingsanteil als in jedem anderen Land der Welt. Laut UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) lebt eine knappe Million registrierter syrischer Flüchtlinge im Land. Die Regierung geht sogar von 1,7 Millionen aus. Die meisten Syrerinnen und Syrer leben im armen Norden und Osten des Landes. In einigen Ortschaften in der Grenzregion leben sogar vier Mal so viele Syrer wie Libanesen.

Die Versorgung mit grundlegenden Dienstleistungen – Strom, Wasser, Müllentsorgung – war schon ungenügend, bevor der Bürgerkrieg im Nachbarland das Leben im Libanon weiter verschlechterte. Strom gibt es nirgendwo 24 Stunden am Stück, auch in der Hauptstadt Beirut sind Stromausfälle mehrfach am Tag die Regel. Das Wasser an den Stränden ist mit Chemikalien und Metallen verseucht. Und die Müllkrise macht bereits seit Jahren internationale Schlagzeilen. Die Wirtschaft des Landes leidet, denn der Tourismus, eine der wichtigsten Einnahmequellen, brach mit dem Syrienkonflikt genauso ein wie Handel und Export.

Acht Jahre nach Kriegsbeginn sind die Felder der Grenzregion zu Syrien mit Tausenden von Flüchtlingszeltstädten übersät. Laut UNHCR lebt mehr als die Hälfte der Flüchtlingshaushalte in extremer Armut. Kinderarbeit ist die Norm. Die libanesische Regierung erteilt keine Arbeitserlaubnisse, sodass Syrer nur im informellen Sektor und oftmals in ausbeuterischen Verhältnissen arbeiten oder gänzlich von Hilfszahlungen internationaler Organisationen abhängig sind. Fast alle Haushalte sind verschuldet. Die meisten Lagerbewohner sind Kinder und Frauen.

Das Leben in den Lagern besteht aus Warten. Einige Frauen verlassen monate- oder jahrelang kaum die wenigen Quadratmeter ihres Zeltes, sei es aus Angst vor fremdenfeindlichen Übergriffen oder weil es außerhalb des Lagers kaum etwas zu tun gibt ohne Geld und ohne Arbeit. Mehr als die Hälfte der Kinder geht nicht zur Schule. „Wenn ich groß bin, will ich Tagelöhner werden wie mein Vater“, erzählt ein Junge. Die Generation, die Syrien wieder aufbauen soll, lernt schon frühzeitig, keine allzu großen Träume zu hegen.

Macht der Vergangenheit

Worte verraten viel über Einstellungen. So heißen im Libanon selbst die vom UNHCR offiziell registrierten Flüchtlinge „zeitweise vertriebene Individuen“. Flüchtlingslager sind „informelle Zeltstädte“. Und Integration? Die gibt es hier nicht.

Diese Ablehnung hat historische und politische Gründe. Seit der Gründung Israels 1948 kam eine knappe halbe Million Palästinenser in den Libanon. Die Erfahrung mit ihnen gilt als warnendes Beispiel, denn viele von ihnen sind auch 70 Jahre später noch im Land. Ein nationaler Zensus aus dem Jahr 2017 zählt etwa 170 000 Palästinenser, die jedoch nur teilweise integriert sind und nur beschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt haben. Ein großer Teil von ihnen lebt nach wie vor in einem der zwölf palästinensischen Flüchtlingslager des Landes und hängt in hohem Maße von der zuständigen UN-Agentur ­UNRWA ab.

Der zweite Grund für die Ablehnung von Integration ist das fragile Mächtegleichgewicht im Libanon. Das libanesische politische System basiert seit der Unabhängigkeit in den 1940er Jahren auf einem minutiös ausgehandelten Arrangement der Machtteilung zwischen Moslems, Christen und anderen religiösen Gruppen. So muss das Parlament je zur Hälfte mit Christen und Moslems besetzt sein und die muslimischen Sitze müssen anteilig an Sunniten und Schiiten verteilt werden. Kleineren Gruppen wie Drusen, Alawiten und armenischen Katholiken stehen ebenfalls feste Quoten zu. Eine echte Integration der überwiegend sunnitischen syrischen Flüchtlinge, so die Furcht im Libanon, würde das ohnehin zerbrechliche politische Gleichgewicht zum Einsturz bringen.

Gezerre um „sichere“ Rückkehr

In Anbetracht dieses Wusts an politischen, religiösen, wirtschaftlichen und historischen Stolpersteinen erscheint es wenig verwunderlich, dass der Libanon auf die vermeintlich logischste Lösung setzt: die Rückkehr der Syrer. „Sie setzen die Syrer nicht in Busse – noch nicht“, sagt ein libanesischer Experte, „aber sie erhöhen den Druck zur Rückkehr merklich.“

Der Druck ist teils subtil und teils gewaltsam. Die administrativen Hürden für Syrer, die ihren Aufenthaltsstatus verlängern wollen, sind gestiegen. Syrische Kleinunternehmen müssen höhere Auflagen erfüllen oder schließen. Auch offene Aggressionen gibt es, wie den plötzlichen Abriss von Zelten mithilfe von Armee-Bulldozern in der ­Bekaa-Ebene. Die offizielle Position der libanesischen Regierung ist, dass die Rückkehr nach Syrien sicher sein soll, aber nicht notwendigerweise freiwillig. „Wir können nicht darauf warten, dass die Syrer sich freiwillig entscheiden zu gehen“, unterstreicht ein libanesischer Offizieller.

Doch was eine ausreichende Sicherheit für Rückkehrer ausmacht, ist im Libanon genauso umstritten wie in Deutschland. Bomben und offene Kampfhandlungen sind heute ein geringeres Risiko als vor einigen Jahren, als noch mehr Gebiete umkämpft waren – aber es gibt sie in Syrien nach wie vor. Noch entscheidender ist jedoch, dass die politische Verfolgung durch das Assad-Regime weiterhin besteht. Eine deutsche Syrien­expertin verweist darauf, dass das syrische Regime eine Datenbank mit mehr als einer Million Oppositioneller, anderer unerwünschter Gruppen und ihrer Familienmitglieder führt. Sippenhaft ist verbreitet. Auch nach einem Ende der Kampfhandlungen, betonen Experten nahezu einstimmig, bleibt unter Assad politische Verfolgung die Regel.

Ein weiterer Hinderungsgrund für rückkehrende Männer zwischen 18 und 38 Jahren ist, dass sie damit rechnen müssen, in den Militärdienst eingezogen zu werden, wenn sie nicht belegen können, dass sie sich mindestens vier Jahre im Ausland aufgehalten haben und in der Lage sind, sich mit 8000 US-Dollar freizukaufen. Zu einer sicheren Rückkehr für Kinder, die mehr als die Hälfte der Flüchtlinge im Libanon ausmachen, gehören zudem nicht nur ein Dach über dem Kopf und Zugang zu Wasser und Nahrung, sondern auch die Möglichkeit, eine Schule zu besuchen.

Umstritten ist, wer die Sicherheit von Rückkehrern in Syrien gewährleisten könnte. Ein Monitoring durch internationale Organisationen ist kaum möglich, sagen deutsche Experten. Das UN-Flüchtlingshilfswerk ist zwar in Syrien aktiv, aber das Regime gewährt nicht überall im Land Zugang. Hier kommt Russland ins Spiel. Nach libanesischer Auffassung sollte Putin Druck auf Assad ausüben, damit dieser die politische Verfolgung von Rückkehrern beendet und ihre Sicherheit garantiert. Die sogenannte „russische Initiative“ im Jahr 2018 zielte darauf ab, mehr als eine Million Syrer aus den Nachbarländern und Europa zur Rückkehr zu bewegen, darunter etwa 150 000 aus dem Libanon. Dem Plan zufolge sollte Europa den Wiederaufbau finanzieren, der russischen Bauunternehmen gute Chancen auf lukrative Aufträge versprach.

Russlands Hilfe: eine Illusion

Doch Assad stellte sich quer, denn das Regime hat wenig Interesse da­ran, seine verarmten Bürger aus den Nachbarländern zurückzuholen und Wohnraum und Schulen zu bauen. Das Ziel scheint eher die Schaffung von Stadtvierteln, die Reiche und Investoren anziehen. Auch politische Aktive oder gar Oppositionelle zurückzuholen, ist nicht in Assads Interesse. Dass Russland also in absehbarer Zeit den Weg für eine sichere Rückkehr nach Syrien ebnet, erscheint eher ein frommer Wunsch der Libanesen. Wie also geht es weiter in dieser vertrackten Situation?

Voraussagen über die Entwicklung von Rückkehrzahlen sind notorisch fehleranfällig. Dies gilt für ­Syrien ­genauso wie für andere Länder. Allerdings sind die Rückkehrfaktoren im Falle Syriens noch vielfältiger. Erstens ist nach wie vor nicht klar, ob Assad tatsächlich an der Macht bleibt und in zwei Jahren das 50-jährige Jubiläum seiner Dynastie an der Spitze des Landes feiern wird. Solange die politische Verfolgung an der Tagesordnung ist, werden nur wenige Syrer eine Rückkehr wagen.

Zweitens ist ungewiss, ob und wann das Regime seine Haltung gegenüber Rückkehrern ändert und plötzlich bereit dazu ist, nicht nur seine Reichen, sondern auch seine Armen zurückzunehmen, vor allem die vielen Kinder und Frauen aus den Nachbarstaaten. Auch das Ende des zwangsweisen Einzugs zum Militär wäre sicherlich ein entscheidender Faktor bei der Rückkehrentscheidung junger Männer.

Drittens ist keine realistische Vorhersage möglich, ob und wie stark der Libanon den Druck auf Syrer zur Ausreise erhöhen wird und ob die anti­syrische Stimmung im Land und gewaltsame Aktionen zunehmen werden. Ebenso steht die Frage im Raum, ob auch die Türkei und Jordanien in Zukunft stärker auf die Rückkehr ihrer syrischen Diaspora pochen werden. Bereits seit einigen Monaten schließt die Türkei Flüchtlingslager in Grenznähe, weil sie diese als zu teuer ansieht. Da jedoch nur ein geringer Anteil der Syrer in der Türkei in Lagern leben, werden diese sich wohl eher in die türkischen Städte orientieren und nur wenige zurückkehren.

Realität und Rhetorik zum Thema Rückkehr werden auch in Zukunft weit auseinander liegen. Die von UNHCR bestätigten Rückkehrzahlen sprechen eine klare Sprache: Seit 2016 sind aus dem Libanon weniger als 40 000 Menschen nach Syrien zurückgekehrt. Die jährliche Zahl syrischer Rückkehrer aus allen Nachbarländern zusammen, also auch aus der Türkei, Jordanien, Irak und Ägypten, steigt zwar kontinuierlich, aber insgesamt in bescheidenem Maße. Seit 2016 sind gerade einmal 165 000 Syrer aus den umliegenden Ländern zurückgekehrt – das entspricht weniger als 3 Prozent der 5,6 Millionen registrierten Flüchtlinge in der Region. Die Zahl rückkehrender Syrer wird in diesem und dem kommenden Jahr voraussichtlich auch nur leicht steigen.

Die Rückkehrdebatte wird aber wohl wenig von der Realität dieser Zahlen beeinflusst werden, ist es doch innenpolitisch wichtig und gewollt, von höheren Zahlen zu sprechen. Bereits im vergangenen Jahr lagen die Schätzungen der libanesischen Regierung bei 100 000 Rückkehrern und damit etwa fünf Mal höher ist als die des UN-Flüchtlingshilfswerks. Nicht anders als in Europa belohnen viele Wähler Politiker dafür, sich hart gegenüber Migranten und Flüchtlingen zu profilieren, unabhängig davon, ob die propagierten Ideen realistisch sind.

Außerdem gibt es Gewinner des Status quo, die ihn daher bewahren wollen. Zwar konkurrieren die Armen des Libanon direkt mit den Flüchtlingen um sauberes Wasser, Arbeit und Wohnraum, doch einige libanesische Landbesitzer verdienen sich eine goldene Nase an den Flüchtlingszeltstädten. Hundert US-Dollar Miete bezahlt jede Familie im Schnitt pro Monat für ihr Zelt. Bei einem Lager mit 26 Familien, wie das von der Autorin besuchte, ergibt das 2600 US-Dollar monatliche Mieteinnahmen. So fruchtbar der Boden der Bekaa-Ebene auch sein mag: Kein Gemüse der Welt könnte den Landbesitzern Einnahmen in dieser Höhe und Verlässlichkeit bringen – sommers wie winters.

Was Deutschland tun sollte

Berlin sollte auch weiterhin in die Unterstützung der humanitären Akteure im Libanon und der Region investieren. Zurzeit ist Deutschland der zweitgrößte Geldgeber des ­UNHCR. Umgerechnet knapp 500 Millionen Dollar Steuergelder flossen 2017 an das UN-Flüchtlingshilfswerk. Im Vergleich: Die USA gaben etwa dreimal so viel, während Länder wie Japan, England, Schweden und Norwegen jeweils zwischen 100 und 150 Millionen zur Verfügung stellten.

Skeptiker internationaler Organisationen kritisieren diese Ausgaben gerne als zu hoch und ineffizient. Doch es ist genau dieses Geld, das Syrern im Libanon Zugang zu den grundlegenden Dingen des Lebens ermöglicht. Dies hilft dabei, die prekäre Situation im Libanon ansatzweise auszubalancieren. Investitionen in die Hilfe vor Ort sind eindeutig sinnvoll – übrigens unabhängig davon, ob man das menschenrechtliche Argument vorzieht („diese Menschen brauchen unsere Hilfe“) oder das der Abschottung („diese Menschen sollen nicht nach Europa kommen“).

Gleichzeitig sollte man in Deutschland aber auch öffentlich diskutieren, unter welchen Bedingungen die Rückkehr nach Syrien unterstützt werden sollte – zum Beispiel, wenn die sogenannten „Schutzschwellen“ erreicht werden. Diese vom UNHCR festgelegten Schwellen sind eine Liste konkreter Schritte, die das syrische Regime – über die bisherigen rhetorischen Nettigkeiten hinaus – unternehmen sollte, um die Rückkehr seiner Staatsbürger zu ermöglichen. Dazu gehört nicht nur eine Einstellung der Kriegshandlungen, sondern auch Straffreiheit für „illegal“ ausgereiste Syrer (nach syrischem Recht ist die Ausreise aus Syrien ohne offizielle Erlaubnis strafbar) und Männer, die sich der Wehrpflicht entzogen haben.

Die Zusammenarbeit mit ­UNHCR, um uneingeschränktes Monitoring von Rückkehrern zu ermöglichen, ist ein weiterer Kernpunkt, ebenso wie offizielle Rückkehrabkommen mit relevanten Gastländern sowie die Bereitschaft, legale Dokumente für Rückkehrer auszustellen, die ihren Status und ihre Rechte anerkennen. Das ist besonders wichtig für die mehr als eine Million im Exil geborenen und oft staatenlosen Kinder syrischer Eltern.

Angemessen wäre daher eine öffentliche Debatte über die notwendigen Rückkehrbedingungen. Sie würde zeigen, dass Deutschland und Europa den Wunsch der Gastländer nach Rückkehr ernst nehmen, und gleichzeitig selber aktiv das Rahmenwerk dafür entwickeln, anstatt diese Aufgabe Russland zu überlassen.

Was Deutschland lassen sollte

Möglicher Einwand: Wie sollen wir in Deutschland diese Rückkehrdebatte anstoßen, ohne dabei populistische Kräfte zu stärken? Populisten in Deutschland und Europa nutzen das Thema Rückkehr nach Syrien eindeutig strategisch. Eine Gruppe von AfD-Politikern sorgte im Frühjahr 2018 zu Recht für Verärgerung, als sie ohne Rücksprache mit dem Auswärtigen Amt nach Syrien fuhr, um sich dort von Verbündeten Assads empfangen zu lassen. In sozialen Medien posteten sie Fotos von bunten und fröhlichen Marktständen in Damaskus und versicherten ihren Followern: „Alles total entspannt hier.“ Solche Aussagen sind politisch motiviert, verantwortungslos und strohdumm. Sie dienen nicht dazu, reelle Lösungen in Syrien zu finden, sondern sich vor Wählern in Deutschland zu profilieren, die sich nach einfachen Lösungen sehnen.

In kommender Zeit werden Populisten und Politiker unterschiedlicher Couleur voraussichtlich eine Frage stellen: „Wenn andere Länder Syrien als sicher einschätzen und Syrer zurückschicken, warum sollte Deutschland das nicht auch dürfen?“ Die Frage mag verlockend logisch klingen, sie verkennt aber drei Tatsachen.

Erstens: Nur weil andere Länder ein Land als sicher einschätzen, muss Deutschland das nicht auch tun. Die Listen sicherer Herkunftsstaaten variieren innerhalb Europas stark und verändern sich je nach politischer Lage. Jedes Land hat das Recht, im Rahmen seiner eigenen Gesetze und Präferenzen über die Einstufung von Syrien als sicherem Herkunftsland zu entscheiden. Wäre es nicht seltsam, wenn gerade Nationalisten versuchen würden, diese nationale Souveränität infrage zu stellen?

Zweitens könnten Rückkehrer Syrien weiter destabilisieren, wenn ihre Rückkehr nicht vorbereitet ist und grundlegende Bedingungen zur Reintegration nicht gegeben sind. Sollten Deutschland oder andere Länder auf Rückkehr drängen, obwohl die oben genannten Schutzschwellen nicht erreicht worden sind, besteht die Gefahr, dass der Bürgerkrieg wieder aufflammt und die Region weiter destabilisiert. Dies wiederum könnte die Rückkehr der vielen Millionen Syrer, die unter verbesserten Bedingungen tatsächlich bereit wären zurückzukehren, weiter verzögern.

Drittens vermitteln einige Wortführer der deutschen Rückkehrdebatte den Eindruck, dass nach erfolgter Rückkehr eines Menschen sein Fall abgehakt sei. Doch diese Sicht ignoriert das sogenannte Drehtürphänomen, bei dem sich Rückkehrer erneut auf den Weg machen. Denn so sauber und ordentlich eine Rückkehr in der Theorie einiger Politiker scheint, so verschlungen und komplex ist sie in der Praxis. Genauso wie Migration ist auch Rückkehr oftmals kein einmaliger und klarer Umzug von A nach B, sondern ein gradueller Prozess. Häufig kehren Familienmitglieder nicht zeitgleich zurück, sondern um einige Jahre versetzt. Manche gehen auch nicht wieder an ihren Heimatort, sondern ziehen in der Hoffnung auf bessere Arbeitsmöglichkeiten in andere Regionen oder Städte. Manche bleiben langfristig dort, andere ziehen weiter innerhalb des Heimatlands um – und wieder andere verlassen ihr Land erneut. Reife Rückkehrpolitiken enden also nicht im Moment der Rückkehr, sondern ermöglichen die langfristige Reintegration von Menschen. Solch komplexe Sachverhalte stehen im Widerspruch zu populistischen Vereinfachungen.

Deutschland sollte sich davor hüten, seine Rückkehrpolitiken von Populisten treiben zu lassen. Kritiker zeigen auf das vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge aufgelegte Starthilfe-Programm, das – seitdem die IOM 2017 ihre Rückkehrhilfe in Syrien einstellte – die freiwillige Rückkehr von Syrern mit bis zu 4000 Euro pro ­Familie ­fördert und von dem bisher etwa 700 Syrer Gebrauch gemacht haben. Zwei der Rückkehrer sind laut Foreign Policy bereits verschwunden, einer von ihnen nach Befragung durch den syrischen Geheimdienst. Zwar zwingt Deutschland keine Syrer zur Rückkehr und das BAMF-Starthilfe-Programm existiert für viele andere Länder. Trotzdem stellt sich die Frage, ob für Deutschland der potenzielle finanzielle und politische Nutzen, die Rückkehr nach Syrien zu fördern, tatsächlich die potenziellen Kosten von Menschenleben und Reputationsverlust überwiegt.

Mehr Diskussion wagen

Die Zögerlichkeit, mit der einige Politiker und Experten das Thema Rückkehr nach Syrien anfassen, ist verständlich, aber langfristig nicht haltbar. Wenn es eine Lektion der Migrationsdebatte gibt, dann diese: Heikle Themen zu meiden, kann mehr Probleme schaffen, als sie auf den Tisch zu legen. Die Rückkehrdebatte in Deutschland wird uns erhalten bleiben. Es liegt in unserer Hand, ob wir sie nur hinter verschlossenen Türen anreißen oder ihr den nötigen Platz in der öffentlichen Debatte geben. Rückkehr ist ein zu wichtiges Thema für Deutschland, um es den Populisten zu überlassen. Führen wir die Diskussion nicht aktiv, tun es andere.

Victoria Rietig arbeitet als Senior ­Fellow für Migration, Asyl und Flucht in der DGAP. Sie dankt der Konrad-Adenauer-­Stiftung für die Organisation der Studienreise.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2019, S. 50-56

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