Die Zeit der Zäune
Besitz sichern, Zuwanderung verhindern, Gruppenidentitäten stärken: Zwei neue Bücher erklären den weltweiten Trend zur Abschottung
We need wall“, verkündete die amerikanische Heimatschutzministerin Kirstjen Nielsen kürzlich vor dem Kongress. Auch wenn Nielsen anschließend in den sozialen Netzwerken reichlich Spott wegen der fehlenden Präposition über sich ergehen lassen musste, so verdeutlicht ihr Ausspruch doch einen weltweiten Trend: die Normalisierung von Mauerbau und Abschottung.
Terror, Schmuggel, Migration
Woher kommt die weltweite Renaissance der Mauerbau-Mode seit der Jahrtausendwende? Wer sind die Gewinner und Verlierer? Wie sollen wir damit umgehen, dass Politiker auch im Westen in wachsendem Maße auf Abschottung und Ausgrenzung setzen?
Tim Marshall versucht Antworten auf diese Fragen zu geben. In seinem Buch „Abschottung – Die neue Macht der Mauern“ beschreibt der britische Journalist und Bestsellerautor eine weltweite Festungsmentalität: Mehr als ein Drittel aller Staaten weltweit haben Barrieren an ihren Grenzen errichtet. Der Trend ist nicht neu, aber er hat sich in den vergangenen Jahren stark beschleunigt: „Die Hälfte aller Grenzbefestigungen, die seit dem 2. Weltkrieg errichtet wurden, datieren aus dem Jahr 2000 und danach.“
Der Boom des Mauerbaus in diesem Jahrtausend hat drei Hauptgründe: Terror, Schmuggel und Migration. In Afrika und dem Nahen und Mittleren Osten ist der Schutz vor Terroranschlägen und anderer organisierter Kriminalität oft eine treibende Motivation hinter Grenzbefestigungen. Marokko will sich gegen Terror aus Algerien schützen, Tunesien gegen die Bedrohung aus Libyen, Kenia gegen islamistische Milizen aus Somalia, Saudi-Arabien gegen IS-Kämpfer aus dem Irak und der Iran gegen Schmuggel aus Pakistan.
Regierungen in Nord-, Südamerika und Europa begründen ihren Mauerbau primär mit der Eindämmung illegaler Migration. Die USA wollen Zuwanderung aus Mexiko stoppen, woraufhin Mexiko seine Südgrenze zu Guatemala stärker abschottet. Ungarn will sich gegen Migration aus Serbien und Kroatien schützen, Mazedonien gegen die aus Griechenland, Griechenland und Bulgarien gegen die aus der Türkei und die Türkei gegen die aus Syrien. Der Domino-Effekt findet auch weiter nördlich statt: Grenzkontrollen zwischen Schweden und Dänemark führten wenig später zu solchen zwischen Dänemark und Deutschland.
Migration, Schmuggel und Terror sind natürlich nicht die einzigen Gründe für Mauerbau. Marshall zufolge spielen auch sicherheitspolitische, geopolitische, wirtschaftliche, kulturelle, ethnische oder religiöse Faktoren eine Rolle. Doch am Ende geht es um eine zutiefst menschliche Verhaltensweise: Mauern bestärken Gruppenidentitäten. Sie schaffen ein „Wir“ und ein „Die Anderen“. Mauern sind daher auch ein Zeichen von Besitzstandswahrung – wobei Besitz nicht nur das Territorium selbst umfasst, sondern auch Errungenschaften wie Sozialleistungen, Sprache, Kultur. Politiker weltweit nutzen die wachsende Angst vor einem Verlust tatsächlicher oder wahrgenommener Schätze eines Landes, um Unterstützer für ihren Abschottungskurs zu gewinnen.
„Gute Zäune machen gute Nachbarn“, weiß der Volksmund. Marshall räumt ein, dass Mauern positiv wirken können, etwa wenn sie terroristische Anschläge oder Kriminalität reduzieren. Sie können auch durchaus effektiv darin sein, Migrationsströme kurzfristig und teilweise zu reduzieren oder umzuleiten. Zwar werden Mauern zuweilen als populistisches Möchtegern-Allheilmittel oder Symbolpolitik abgetan, doch auch Symbole können künftige Migranten abschrecken.
Marshalls Buch handelt von mehr als Mauern aus Beton oder Stahl. Wie der Originaltitel „Divided“ andeutet, spricht das Buch auch andere Trennlinien an, die unsere Gesellschaften durchziehen. Die Arm-Reich-Schere, der Stadt-Land-Unterschied, die digitale Great Firewall, religiöse Schismen oder die Gräben zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft und Hautfarbe, zwischen Alteingesessenen und Neuankömmlingen. Seine These: Je mehr Angst und Unsicherheit es gibt, umso höher wachsen die Mauern in den Köpfen.
Gewinner und Verlierer
Der von dem Journalisten Marc Engelhardt herausgegebene Band „Ausgeschlossen“ basiert auf der gleichen Prämisse wie Marshalls Buch. Er heißt seine Leser „willkommen in der Ära der Mauern“. Aneinandergereiht messen die Mauern der Welt rund 41 000 Kilometer; sie würden einmal um die Erde herum reichen. Anders als die Mauern des Kalten Krieges, die darauf abzielten, Menschen einzusperren, sollen die heutigen Mauern Menschen aussperren.
Mauern schaffen Gewinner und Verlierer, schreibt Engelhardt. Wie Donald Trump nur zu gut weiß, sind Mauern kostspielig. Industrie und Bauunternehmen, die den Zuschlag für die Mammutprojekte bekommen, sind daher offensichtliche Gewinner der Mauerbau-Mode. Doch nicht nur Zementmischer freuen sich über die Konjunktur, sondern auch Schmuggler. Je schwieriger die Überquerung einer Grenze, umso wahrscheinlicher, dass Menschen sich Hilfe bei Schmugglern suchen – und umso teurer die Hilfe. Andere Gewinner sind Politiker, die sich als scheinbar hart gegen Immigration profilieren und dadurch Stimmen gewinnen. Grenzschutz ist daneben eine willkommene Einnahmequelle für korrupte Grenzbeamte, die ihr Gehalt durch informelle Wegzölle und Schweigegeld aufbessern.
Zu den Verlierern des Zeitalters der Zäune zählen Migranten und Flüchtlinge, deren Wege erschwert werden. Sie müssen für Transport und Schmuggel tiefer in die Tasche greifen und überqueren Grenzen auf längeren und gefährlicheren Routen. Auch die Steuerzahler eines Landes leiden, wenn nicht nur der Bau selbst, sondern auch die Instandhaltung und Überwachung exorbitante Summen verschlingen. Bewohner von Grenzgebieten zählen ebenfalls zu den Verlierern, wenn ihre Bewegungsfreiheit und Geschäftsmöglichkeiten eingeschränkt werden.
Deutsche Leser von Engelhardt und Marshall werden viele Mauern wiedererkennen, die die Autoren beschreiben: Israel/Palästina, Nord- und Südkorea, (Nord-)Irland, USA/Mexiko. Das Wissen um diese Grenzen aufzufrischen ist ein hilfreicher Nebeneffekt der Lektüre. Doch ihr vielleicht größerer Nutzen besteht darin, die Aufmerksamkeit auf weniger bekannte Mauern zu lenken. Wer weiß schon aus der hohlen Hand, dass die längste Grenzbefestigung der Welt zwischen Indien und Bangladesch steht? Mehr als 4000 Kilometer lang ist der Bangladesch umschließende Zaun, den Indien seit Ende der 1980er Jahre kontinuierlich festigt, um Migration und Schmuggel einzudämmen. Eine Dimension, die Trumps Mauer nie erreichen wird, denn die US-mexikanische Grenze misst nur gut 3000 Kilometer.
Engelhardt appelliert an seine Leser, sich der eigenen Verantwortung in einem Klima wachsender Abschottung bewusst zu sein: „Mauern können jederzeit einstürzen. Es lohnt sich, dafür zu kämpfen.“ Marshalls Fazit prägen hingegen Zwischentöne. Menschen werden weiter Mauern bauen, um sich abzugrenzen und sich – vermeintlich oder tatsächlich – zu schützen. Doch Menschen können auch Brücken bauen. Gerade weil zurzeit Mauerbau und Nationalismus weltweit auf dem Vormarsch sind, benötigen die Versuche, Brücken zu bauen, Unterstützung – sei es im Rahmen von UN, NATO, EU, interkonfessionellen Initiativen oder anderen regionalen und internationalen Organisationen.
Mauern bekämpfen Symptome, keine Ursachen. Eine Lektion aus beiden Büchern ist, dass einer physischen Mauer immer eine Mauer im Kopf vorausgeht. Entsprechend muss dem Abbau einer Mauer ein Denkumschwung vorausgehen. Das Gegenmittel zur „Wir gegen die Anderen“-Mentalität ist der persönliche Kontakt mit den Anderen.
Der Weg von Ronald Reagans „Tear down this wall“ zu Donald Trumps „Build this wall“ war weit; er umfasste 30 Jahre und zahllose politische und gesellschaftliche Umbrüche. Falls ein Rückweg gelingen sollte, wird er mindestens ebenso weit sein. Marshall und Engelhardt ermutigen uns, den ersten Schritt zu gehen – und festes Schuhwerk mitzubringen.
Tim Marshall: Abschottung. Die neue Macht der Mauern. München: dtv 2018, 336 Seiten, 24 €
Marc Engelhardt (Hrsg.): Ausgeschlossen. Eine Weltreise entlang Mauern, Zäunen und Abgründen. München: DVA 2018, 288 Seiten, 18 €
Victoria Rietig ist Senior Fellow Migration bei der DGAP und leitet das Migration Messenger Projekt. Sie dankt Jerry Montonen von der Aalto-Universität in Helsinki für die Mitarbeit.
Internationale Politik 2, März-April 2019, S. 140-142