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01. Jan. 2008

Raus aus dem Ortsverein!

Wer regieren will, muss führen: Die SPD und die Außenpolitik

Global? Egal. Provinziell und selbstgenügsam gibt sich die SPD ausgerechnet in einer Zeit, da die internationalen Anforderungen an Deutschland steigen. Keine dankbare Aufgabe für den Außenminister, der als einer der letzten Sicherheitspolitiker von Rang seine Partei mit der Realität konfrontiert – und die Genossen mühsam an die notwendigen Einsichten heranführt.

Frank-Walter Steinmeier ist in seiner Rolle als Bundesaußenminister, Vizekanzler und stellvertretender Parteivorsitzender der SPD nicht zu beneiden. In seinem Wahlkreis in Brandenburg wie im Rest der Republik trifft er in aller Regel auf Parteifreunde, die für eine international aktive Rolle Deutschlands wenig Verständnis haben. Die pazifistische Grundströmung in der SPD nimmt an Stärke zu und wird zusätzlich durch die ablehnende Haltung der Linkspartei befeuert. Wie in den deutschen Parteien insgesamt ist auch in der SPD die Zahl von außen- und sicherheitspolitischen Experten besorgniserregend klein. Junge Abgeordnete – ohne nennenswerte berufliche, geschweige denn internationale Erfahrung – werden Mitglieder im Auswärtigen bzw. im Verteidigungsausschuss.

Mit Kopfschütteln liest man den Beitrag des Bundestagsabgeordneten Niels Annen in der IP zum Afghanistan-Einsatz.1 Nirgendwo kann sich der Parlamentarier zu Klarheit in der Formulierung geschweige denn in der politischen Position durchringen, auch wenn er in Wirklichkeit couragierter als die Masse seiner Parteifreunde denkt. Symptomatisch für seinen Beitrag wie für die Partei insgesamt ist am Ende der Satz: „Die grundsätzliche Skepsis der Deutschen gegenüber militärischen Interventionen im Ausland ist das Ergebnis eines langen Prozesses der Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit, auf den wir stolz sein können.“

Annen, dies sei konzediert, steht mit seiner Auffassung nicht allein. Ältere Genossen denken ähnlich, überraschenderweise auch Altbundeskanzler Helmut Schmidt, der in letzter Zeit in zahlreichen Interviews die Grenzen für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik denkbar eng zog. Schmidt bewertet die Last der deutschen Vergangenheit, die zentral-europäische Lage des Landes mit vielen Nachbarn sehr hoch und benutzt dabei Formulierungen und Bilder der frühen achtziger Jahre. Im Grunde genommen lehnt er eine selbst im Kontext von UN, NATO oder EU vorgetragene aktive deutsche Außenpolitik ab. Er ist gegen die deutsche Bewerbung für einen ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat und verwirft die Interventionen im Kosovo und in -Afghanistan unter deutscher Beteiligung aus humanitären Gründen wie auch aus Gründen des nationalen Interesses. Erhard Eppler, im Gegensatz zu Schmidt in der Partei durchaus noch aktiv und beteiligt an der Ausarbeitung des Grundsatzprogramms, würde Schmidt vermutlich beipflichten.

Die Berührungsängste der SPD bei Themen der Außen- und Sicherheitspolitik sind uralt, sie liegen weiter zurück als der fundamentale Einschnitt infolge des Dritten Reiches. Dafür gibt es einen Grund, der tief im Innern der ältesten deutschen Partei schlummert. Ihre Anhänger waren in der Frühphase der SPD gesellschaftliche Außenseiter, Marxisten, die von ihrem Weltbild ausgehend Außenpolitik und internationale Beziehungen als nachrangige Themen ansahen. Dann kam der Erste Weltkrieg, in dessen Verlauf die deutsche Arbeiterklasse – wie in anderen Ländern auch – die militärische Hauptlast trug. Alle Appelle, über die Grenzen der Nationalstaaten hinweg Klassensolidarität zu zeigen, scheiterten im Sommer 1914.

Die außenpolitischen Berührungsängste der SPD hielten in der Weimarer Republik an, obwohl sich in der Entscheidungssituation des Jahres 1918/19 die Pragmatiker gegen die Pazifisten durchsetzten. Gustav Noske war der erste in einer langen Reihe, die gut 60 Jahre später beim NATO-Doppelbeschluss und bei Helmut Schmidt endete. Doch das Paradigma war schon sichtbar: das Ringen einer Minderheit in der SPD, um regieren zu können, gegen eine Mehrheit, die zu allen Zeiten pazifistisch gesinnt war. Dieses Ringen um die höhere Moral, die Suche nach einer Welt, in der man trotz Regierungshandelns keine Schuld auf sich lädt, hält bis zum heutigen Tage an. Es prägte die späten siebziger und frühen achtziger Jahre, als der Parteivorsitzende Willy Brandt gegen den amtierenden Kanzler Helmut Schmidt in der Nachrüstungsdebatte Stellung bezog und sich die SPD aus der Regierungsverantwortung zurückzog.

Für ihre Situation als Regierungspartei, als Juniorpartner in der Großen Koalition kommt verschärfend hinzu, dass die Gruppe der außenpolitischen „Realisten“ aufgrund des Einflusses der 68er Generation, die 20 Jahre lang die Partei dominierte, stark geschrumpft ist. Sie hatte es ihrerseits in den sechziger und siebziger Jahren mit der Generation der Leutnants, Flakhelfer und Emigranten zu tun, die aufgrund der alliierten Besatzungszeit eine für SPD-Verhältnisse ungewöhnlich internationale Orientierung aufwies. Hinzu kam die Chance, in der großen sozialdemokratischen Hochburg, im geteilten Berlin, als Regierender Bürgermeister oder als Berater wie Egon Bahr das außenpolitische Handwerk zu erlernen. Aber diese Chance zur Prägung und Profilierung ging nach dem Berlin-Abkommen und im Zuge der Ostpolitik allmählich verloren.

Heute gibt es nur noch wenige international gut vernetzte Außen- und Sicherheitspolitiker in den Reihen der Sozialdemokratie. Zumeist haben sie wie Hans-Ulrich Klose, Karsten Voigt oder Gernot Erler schon das Pensionsalter erreicht. Dies hatte auch zur Folge, dass mit Frank-Walter Steinmeier ein Beamter zum Bundesaußenminister berufen wurde. Noch vor 20 Jahren wäre das undenkbar gewesen – die Partei hätte die Wahl zwischen mehreren ausgewiesenen Kandidaten gehabt.

Statt auf jüngere Abgeordnete mit internationaler Erfahrung zurückgreifen zu können, wie es CDU/CSU oder FDP tun, verharrt die SPD in einer erstaunlichen Provinzialität. Ihre Politiker durchlaufen lange Zeit Lokal- oder Regionalkarrieren. Frühestens im Alter von 40 Jahren, wenn die prägenden Jahre bereits zurückliegen, kommen sie in der Bundespolitik mit globalen Themen in Berührung. Die ersten Jahre im Amt werden dann sehr oft zu Lehrjahren, die für die Bundesrepublik Deutschland kostspielig werden können. Schröder und Fischer reisten zum EU-Gipfel von Nizza, auf dem sie dem fintenreichen Chirac gegenübertraten, der ihre -Unerfahrenheit prompt ausnutzte. Schröder hatte die vergleichsweise ruhigen Jahre als Ministerpräsident von Niedersachsen nicht genutzt, um sich unter außenpolitischen Gesichtspunkten auf das Kanzleramt vorzubereiten. Er reiste viel zu wenig und hatte – genereller Mangel in der deutschen Politik – keine Fremdsprachenkenntnisse. Vorrang der Innenpolitik

In Deutschland reicht die formale Ausbildung der politischen Klasse in Zeiten der Globalisierung nicht aus. Vor allem der SPD fehlt die internationale Komponente. Steinmeier kämpft auf diesem Feld einen zähen, äußerst umsichtig geführten Kampf, um seine Partei zentimeterweise an die erforderlichen Einsichten heranzuführen. Er braucht dabei die Unterstützung des Parteivorsitzenden, eines Pragmatikers, der seine beruflichen Anfänge bei der Bundeswehr hatte. Beck hat die notwendigen Einsichten, aber ihm fehlen formale Kenntnisse. Ein deutscher Regierungschef muss jedoch in Zeiten der Globalisierung 50 bis 60 Prozent seiner Arbeitszeit für außen- und sicherheitspolitische Themen aufwenden; ein Umstand, welcher der deutschen Öffentlichkeit nicht bekannt ist. Stattdessen nimmt der Primat der Innenpolitik zu, wozu auch die enger und provinzieller werdende Berichterstattung der elektronischen Medien beiträgt.

Die Geschichte der Partei, ihre Erfahrungen und verspätete Lehrjahre beim Einrücken in hohe Staatsämter haben auch zur Folge, dass die SPD Außenpolitik stärker strukturell betrachtet als es eine konservative oder liberale Partei tun würde; die Rolle des Individuums, die Bewegungsspielräume von Gruppen in der Außenpolitik werden unterschätzt. Der Ablauf des Prozesses der Wiedervereinigung sollte ausreichen, um sich klar zu machen, wie stark damals die Rolle der handelnden Persönlichkeiten war – zugespitzt auf Gorbatschow, Bush sen., Kohl und Genscher, aber auch die Beraterebene, darunter Bob Zoellick, Condoleezza Rice, Robert Kimmitt oder Horst Teltschik. Ebenso wenig können die sechs Jahre seit dem 11. September 2001 ohne die Person des amtierenden US-Präsidenten adäquat beschrieben werden.

Das größte Problem für die SPD in der Außen- und Sicherheitspolitik, jedenfalls für das normale Parteimitglied, liegt am Ende wohl darin, die Welt so zu akzeptieren wie sie ist. Man möchte ein wenig besser als die anderen, „Friedenspartei“ schlechthin sein. Schröder hat auf dieser Klaviatur in den Hochzeiten des Irak-Konflikts meisterhaft gespielt. Demgegenüber hat die SPD nun das Glück, dass ein Intellektueller und Pragmatiker wie Steinmeier die undankbare Rolle übernommen hat, die Partei mit der Realität zu konfrontieren. Er muss dabei sehr umsichtig vorgehen, kann keinen abrupten Kurswechsel vollziehen.

Mehr als 20 Jahre sind inzwischen vergangen, seitdem Helmut Schmidt, der brillante sozialdemokratische Außen- und Sicherheitspolitiker, dem die Geschichte in der Nachrüstungsdebatte Recht gab, von Bord ging. Bislang hat es die SPD vermieden, diese Zwischenzeit aufzuarbeiten, die man auch die Zeit außen- und sicherheitspolitischer Illusionen nennen könnte. Aber dazu ist es nie zu spät. Wer regieren will – und hier hat die Partei aus Fehlern der Vergangenheit gelernt – muss sich trotz der jüngst vorgetragenen Bedenken Schmidts außenpolitisch engagieren, muss der Zukunftsfähigkeit des Landes vertrauen und sich an der Ordnung und Befriedung einer Welt beteiligen, die unruhiger denn je zu werden verspricht.

Dr. JOCHEN THIES, geb.1944, ist Sonderkorrespondent und Mitglied der Chefredaktion bei DeutschlandRadio Kultur. Von 1986 bis 1992 war er Chefredakteur dieser Zeitschrift.

  • 1Niels Annen: Keine Stabilität ohne Solidarität. Am Hindukusch wird unsere Glaubwürdigkeit verteidigt, Internationale Politik, Oktober 2007, S. 86–89.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar 2008, S. 102 - 105

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