Putins epochaler Irrweg
Seit der Krim-Annexion 2014 und dem Großangriff auf die Ukraine 2022 hat sich Russland immer weiter von Europa entfernt. Vier Neuerscheinungen zu den politischen, ökonomischen und historischen Entwicklungen hinter dieser Entfremdung.
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat grundlegende Folgen nicht nur für die Ukraine und Europas Sicherheit, sondern auch für Russland selbst. Es ist ein Epochenbruch, der das Verhältnis des Landes zu Europa und Deutschland grundlegend verändert hat. Damit endet die Post-Kalte-Kriegs-Phase von eher konstruktiven Beziehungen zu Russland; schwer gestört war das Verhältnis allerdings bereits seit der Annexion der Krim 2014.
Investoren und Abenteurer
Charles Hecker, Journalist und geopolitischer Risikoberater, der viele Jahre in Russland gelebt hat, hat mit „Zero Sum“ eine Geschichte der westlichen Investitionen in Russland mit Schwerpunkt auf den postsowjetischen Boomjahren geschrieben. Was das Buch so lesenswert macht, sind nicht nur seine persönlichen Erfahrungen in Russland, sondern auch Details aus Interviews mit europäischen und US-Investoren in Russland. Der Autor zeigt, dass es seit dem Zarenreich und selbst in den schwierigsten Phasen der Sowjetunion immer Wirtschaftsbeziehungen zwischen Russland und dem Westen gab. Sogar unter Stalin haben westliche Firmen Schlüsseltechnologien nach Russland geliefert. All das endet mit dem russischen Angriffskrieg im Februar 2022: Er ist der Epochenbruch, der eine über 200 Jahre gewachsene Wirtschaftsbeziehung plötzlich beendet.
Charles Hecker zeigt an konkreten Beispielen, wie die wilde Privatisierung in Russland verlief und wie nicht nur russische Geschäftsleute, sondern auch westliche Investoren und Abenteurer davon profitierten. Dabei war es vor allem der enorme Wirtschafts- und Investitionsboom in Putins ersten beiden Amtszeiten durch den steilen Anstieg der Rohstoffpreise auf den globalen Märkten, der Goldgräberstimmung auslöste. Das Land war Treiber und Nutznießer der Globalisierung; Wladimir Putins Politik garantierte westlichen Investoren die nötige Stabilität.
In strategischen Rohstoffsektoren hat Russland global über Jahrzehnte eine Schlüsselrolle gespielt. Wie wichtig das Land für die Weltwirtschaft war, ist erst mit der Unterbrechung der Rohstofflieferungen seit 2022 durch die westlichen Sanktionen deutlich geworden.
Russland war nie ein einfacher Wirtschaftspartner. Es hatte immer seine eigenen Regeln, aber letztlich hat es vielen westlichen Investoren enorme Renditen gebracht. Diese haben sich mit den russischen „Gepflogenheiten“ arrangiert und damit auch Korruption, informelle und kriminelle Strukturen gefördert.
Interessant sind Einblicke in bestimmte Firmenpolitiken und persönliche Kontakte in diesem System. So hatte Deutschland laut Hecker nach der Machtübernahme Putins eine Sonderrolle, wurde von der Präsidialverwaltung gefördert und zuvorkommend behandelt. Die deutsche Außenhandelskammer hatte immer eine Telefonnummer, die sie anrufen konnte, wenn deutsche Firmen unter Druck gerieten.
Auch diese Sonderbeziehung endet mit dem russischen Angriffskrieg und der Lieferung von Waffen an die Ukraine durch die Bundesregierung. Wenngleich viele Fakten bereits bekannt waren, so bietet dieses Buch doch tiefe Einblicke in Verknüpfungen und Kollaborationen zwischen westlichen Firmen und russischen Akteuren.
Schlüsselfigur der Opposition
In „Patriot: Meine Geschichte“ hat Alexej Nawalny seine Lebensgeschichte nachgezeichnet. Bis zu seinem Tod im Februar 2024 war Nawalny 20 Jahre lang der einflussreichste Kritiker Putins und die Schlüsselfigur der russischen Opposition. Er hat über seine Stiftung für Korruptionsbekämpfung wichtige Arbeit geleistet, um die mafiösen Praktiken sowie Verknüpfungen von staatlichen Institutionen mit Wirtschaftsinteressen nachzuweisen und einem breiten Publikum bekannt zu machen.
Nawalny stammt aus einer ukrainisch-russischen Familie; die Sommer seiner Kindheit verbrachte er bei der ukrainischen Großmutter in einem Dorf in der Nähe des Kernkraftwerks Tschernobyl. Der Umgang der Sowjetunion mit der Nuklearkatastrophe hat ihn geprägt.
Sein Vater machte Karriere in der sowjetischen Armee und zog später mit der Familie auf eine Militärbasis nahe Moskau. Nawalny lernte so von klein auf das Militär- und Sicherheitssystem, in dem er zu den Privilegierten gehörte, von innen kennen.
Seine Kindheit und Jugendzeit schildert Nawalny ausführlich, zuweilen etwas langatmig. Er beschreibt sich selbst als Außenseiter und Eigenbrötler, aber auch als kritischen Geist. Dabei hebt er hervor, dass er von Anfang an eine tiefe Abneigung gegen Putin hegte, der 2000 durch eine inszenierte Wahl an die Macht kam.
Nawalnys politisches Engagement begann in der liberalen Oppositionspartei Jabloko. Für ihn war die Arbeit in dieser aus seiner Sicht etwas verstaubten Partei frustrierend. Der Parteiführung fehlte der Kontakt zur Straße, sie wollte keine politischen Risiken eingehen, sie passte sich nicht den gesellschaftlichen Veränderungen an und versank letztlich in der Bedeutungslosigkeit. Am Ende wurde Nawalny wegen des Vorwurfs des Nationalismus ausgeschlossen – nach seiner Auffassung ein Vorwand, da er den Parteiführer offen kritisiert hatte.
Tatsächlich ist bekannt, dass Nawalny nationalistische und ausländerfeindliche Gruppen wie den Russischen Marsch unterstützt hat, eine seit 2005 jährlich stattfindende Demonstration von Monarchisten, konservativen Christen, aber auch Rechtsextremisten.
Er rechtfertigt seine Teilnahme an diesen Märschen mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung; zudem seien viele der Teilnehmer konservative Russen gewesen. Wirklich überzeugend sind Nawalnys Verweise auf Redefreiheit und ein Zugehen auf den konservativen Teil der Gesellschaft jedoch nicht. Nawalny dürfte sich als Nationalist und Konservativer verstanden haben, und im Zweifel war er schlicht auf der Suche nach relevanten politischen Gruppen, die Putin und dessen Politik infrage stellten.
Blogs, Videos, Mobilisierung
Spannend ist nachzuverfolgen, wie Nawalny, weil ihm der Zugang zu Massenmedien fehlte, das Internet als wichtigste Informationsquelle und Medium für seine politischen Aktivitäten entwickelte. Er war Vorreiter eines neuen Typus von popu-
lärem Politiker, der über Blogs und Videos eine breite Öffent-
lichkeit erreichen und mobilisieren kann.
Der Kreml unterschätzte anfangs das Internet, was Nawalny die Chance bot, bekannt zu werden: Sein Blog im Livejournal war bereits 2012 der meistgelesene im Land, seine YouTube-Videos über Korruption im System Putin erreichten später Millionen. Geschickt nutzte Nawalny das Internet für Wahlkampagnen, die Mobilisierung von Unterstützern und die Finanzierung seiner Aktivitäten über Mikrospenden.
Der zweite Teil des Buches besteht aus Nawalnys Tagebuchaufzeichnungen aus dem Gefängnis nach seiner Rückkehr nach Russland 2021. Es ist ein Dokument der staatlichen Willkür und des gesundheitlichen Niedergangs Nawalnys; es zeigt aber auch seinen ungebrochenen Widerstand, Humor und Lebenswillen.
Spalten und polarisieren
Den Themen Desinformation, Propaganda und Cyberattacken widmen sich Arndt Freytag von Loringhoven und Leon Erlenhorst in ihrem Buch „Putins Angriff auf Deutschland“. Diese Co-Autorenschaft ist ein Glücksfall: Freytag von Loringhoven bringt die Erfahrung eines ehemaligen deutschen Diplomaten unter anderem aus Moskau und als Vizepräsident des Bundesnachrichtendienstes mit, Erlenhorst beschäftigt sich mit technischen Fragen von Propaganda im Internet.
Von Loringhoven und Erlenhorst zeigen überzeugend, wie Russlands Führung den Informationskrieg im Netz als zentrales Instrument ihres hybriden Krieges gegen Europa und den Westen ausgebaut hat. Alles, was in liberalen Gesellschaften zu Zersetzung und Verunsicherung führt, wird dabei angewandt. Deutschland und Frankreich sind die Hauptziele, da sie besonders wichtig für den Zusammenhalt Europas sind. Gerade in Deutschland hat man lange unterschätzt, mit welchen Methoden Moskau versucht, das Land zu spalten, zu polarisieren und handlungsunfähig zu machen.
Die Autoren beschreiben, wie der KGB bereits im Kalten Krieg Lügen und wahre Informationen vermengte und so Debatten in der Bundesrepublik und im Westen beeinflusste; auch die systematische Unterwanderung der deutschen Friedensbewegung durch den sowjetischen Geheimdienst erhält aktuelle Relevanz. Es gab in Russland nie einen Bruch mit Blick auf die Arbeit der Geheimdienste, sondern eher eine Kontinuität von Personal und Methoden des KGB zum Nachfolger FSB. Wladimir Putin hat für beide gearbeitet.
Besonders interessant sind die technischen Details im Buch: wie Suchmaschinen und soziale Medien funktionieren und wie russische Geheimdienste und Propagandainstitutionen systematisch deren Mechanismen manipulieren, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Der Dreiklang aus revanchistischer Großmachtpolitik, Erfahrung mit Subversion und Manipulation sowie dem virtuosen Einsatz digitaler Technologien macht Russland zu einem Vorreiter in der Manipulation von Öffentlichkeit.
Das Buch ist ein wichtiger Beitrag, um zu verstehen, dass Russland den Krieg mit anderen Mitteln seit vielen Jahren in Europa praktiziert, weil es früh erkannt hat, welches Potenzial hier liegt, um seine Gegner zu schwächen.
Verordnete Entfremdung
Mit „Eisiges Schweigen flussabwärts“ legt Michael Thumann, außenpolitischer Korrespondent der ZEIT, sein fünftes Buch vor. Thumann ist einer der wenigen deutschen Journalisten, die noch in Moskau leben und arbeiten. In diesem Buch geht es um die vom Kreml „staatlich verordnete Entfremdung“ von Europa und vom Westen insgesamt. Es sind persönliche Reiseberichte aus Russland, aus Kasachstan, Georgien und dem Baltikum. Die vielen kleinen Geschichten sind teils kurios, teils berührend oder traurig; all das macht das Buch sehr anschaulich und authentisch.
Das besonders Wertvolle an Thumanns Buch ist, dass der Autor seine Reisen schon in den 1980er Jahren begonnen hat. So kann er vergleichen, kann den Wandel im Großen wie im Kleinen beschreiben. Besonders bedrückend ist die Entfremdung von Europa, die Russland wegen Putins Krieg gegen die Ukraine seit 2014 und insbesondere seit 2022 erlebt hat.
Mit feiner Ironie hält der Autor eine gewisse Distanz zu einem Russland, das in seine totalitäre Vergangenheit zurückzukehren scheint, wo Journalisten systematisch Schikanen ausgesetzt sind – das er aber über Jahrzehnte in sein Herz geschlossen hat. Kurze politische Analysen unterfüttern die Reiseberichte mit Fakten über den gesellschaftlichen und politischen Wandel, die Zivilgesellschaft, unabhängige Medien, kritische Stimmen in der Öffentlichkeit und den Mord an Alexej Nawalny.
Der Krieg in der Ukraine verändert die russische Gesellschaft dauerhaft. Und auch nach Putin werden Trauma, Anpassung, imperiales Erbe dieses Land prägen. Thumanns zentrale These: Der russische Machtapparat macht den Konflikt mit dem Westen zu seiner zentralen Legitimationsressource. Dabei zeigt der Autor auch die innenpolitischen Ursachen dieser Politik und damit ein selten differenziertes Bild dieses tragischen Verhältnisses zwischen Russland und Europa. Historisch betrachtet gibt es für Russland Fortschritt nur mit Europa, nicht mit China oder Asien. Der Irrweg Putins ist eine Anomalie in einer jahrhundertelangen Beziehungsgeschichte.
Charles Hecker: Zero Sum. The Arc of International Business in Russia. New York: Oxford University Press 2025. 352 Seiten, 34,99 US-Dollar
Alexej Nawalny: Patriot. Meine Geschichte. Frankfurt am Main: S. Fischer 2024. 560 Seiten, 28 Euro
Arndt Freytag von Loringhoven und Leon Erlenhorst: Putins Angriff auf Deutschland. Desinformation, Propaganda, Cyberattacken. Berlin: Econ 2024. 336 Seiten, 24,99 Euro
Michael Thumann: Eisiges Schweigen flussabwärts. Eine Reise von Moskau nach Berlin. München: C.H. Beck 2025. 284 Seiten, 26 Euro
Internationale Politik 4, Juli/August 2025, S. 124-127