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01. Okt. 2007

Postsozialistische Sozialpolitik

Sozialistische Altlasten, finanzielle Defizite, Klientelpolitik: eine brisante Mischung

Wirtschaftsreformen haben die Ostmitteleuropäer in Hülle und Fülle hinter sich. Aber ihre sozialen Systeme hinken noch hinterher: Eine Mischung aus sozialistischen Altlasten, Reformmüdigkeit, finanziellen Defiziten und alter Klientelpolitik behindert den Aufbau moderner Sozialstaatsstrukturen – mit potenziell gefährlichen politischen Folgen.

Die fortschreitende Globalisierung ändert die Bedingungen für eine erfolgreiche Sozialpolitik. Das gilt auch für die neuen EU-Staaten in Ostmitteleuropa.1 Sie stehen vor einem weiteren Umbau ihrer sozialen Systeme, obwohl einige schon vor Jahren erhebliche Anstrengungen auf diesem Gebiet unternommen haben. Zu Recht hatte die deutsche EU-Ratspräsidentschaft die Debatte über ein europäisches Sozialmodell mit auf ihre Agenda gesetzt, wohl wissend, dass Sozialpolitik auch mittelfristig vor allem eine nationale Angelegenheit bleiben wird. Die Gemeinschaft kann nur Werte vorgeben, sozialpolitische Bestrebungen koordinieren und präventiv gegen Fehlentwicklungen wirken. Mit der Erweiterung hat der EU-interne Wettbewerb der Sozialsysteme zugenommen.

Zwei Ereignisse haben jüngst den Blick auf die soziale Realität in Ostmitteleuropa gelenkt: die Bilder von den gewaltsamen Demonstrationen in Budapest und anderen ungarischen Städten im September 2006 und der wochenlange Streik polnischer Ärzte und Krankenschwestern im Juni/Juli 2007. Wegen ihrer Radikalität waren diese Proteste auch eine Lehrstunde für den Westen. So richteten sich die Ausschreitungen in Ungarn, an denen neben Rechtsextremisten auch viele sozial schwache Bürger beteiligt waren, nicht nur gegen die berühmte „Lügenrede“ des Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsany, sondern auch gegen die von seiner sozialliberalen Regierung eingeleiteten Reformen, die auf eine Modernisierung des Gesundheitswesens und des Rentensystems zielen. Und der Protest der polnischen Mediziner wurde von den meisten Polen akzeptiert, obwohl er zeitweise die medizinische Versorgung lahmlegte.

Gerade Ungarn erlebt zurzeit sozialpolitische Veränderungen, die fast einer Revolution gleichkommen. Viele Bürger sind schockiert, weil seit Anfang Februar eine Grundgebühr für jeden Arztbesuch erhoben wird; bisher war die ärztliche Grundversorgung kostenlos. „Der Mythos der unentgeltlichen Versorgung hat bei den Menschen die Illusion erweckt, dass das Gesundheitswesen tatsächlich nichts kostet“, sagte der frühere Gesundheitsminister Lajos Molnar bei der Verabschiedung des entsprechenden Gesetzes. Geplant sind außerdem eine schrittweise Anhebung des Renteneintrittalters und die Änderung der Bemessungsgrenzen für die Rentenberechnung. Frühpensionären wird künftig die Rente gestrichen, wenn sie bei Nebeneinkünften mehr als den Mindestlohn von knapp 300 Euro verdienen. Diese Veränderungen sind Teil eines umfassenden Sanierungsplans, der auch neue Steuern sowie die Streichung von mindestens 30 000 Stellen im öffentlichen Dienst umfasst.

Wohltaten für den Wählerfang

Seit einigen Jahren ist zu beobachten, wie soziale Fragen verstärkt auf die öffentliche Agenda der neuen EU-Staaten gesetzt werden. Das gilt beispielsweise für Polen, wo die nationalkonservative Partei Prawo i Sprawiedliwosc (Recht und Gerechtigkeit, PiS) seit Herbst 2005 regiert. Ihre soziale Rhetorik findet bei Teilen der Gesellschaft Anklang, weil sich die Schere zwischen Gewinnern und Verlierern der Transformation seit 1989 stark geöffnet hat. Allerdings verfügt PiS trotz ihrer Rhetorik nicht über ein kohärentes Sozialprogramm, das sich in ein Konzept zur Modernisierung des polnischen Staates einbettet. Auf den Mediziner-Streik antwortete die Regierung Ende August mit Lohnerhöhungen im öffentlichen Dienst, auch für die Beschäftigten im Gesundheitswesen. Während des Streikes hatte KaczyÄski wiederholt betont, eine Lohnerhöhung komme nicht in Frage, weil sie die Staatsfinanzen gefährde. Als sich vorgezogene Neuwahlen abzeichneten, wollte der Premier von dieser Gefährdung allerdings nichts mehr wissen.

In der Slowakei hat die seit Mitte 2006 amtierende Links-Rechts-Regierung unter Premier Robert Fico vorsichtige sozialpolitische Korrekturen am wirtschaftsliberalen Reformprogramm des vorherigen Kabinetts unter Mikulas Dzurinda vorgenommen, die Ficos ohnehin schon große Popularität weiter gesteigert haben. Die am 1. September in Kraft getretene Novellierung des Arbeitsgesetzbuchs berücksichtigt diverse Forderungen der Gewerkschaften. Die im Januar 2007 gebildete tschechische Regierung von Premier Mirek Topolanek, die von den Bürgerlichen, den Christdemokraten und den Grünen getragen wird, folgte im August dieses Jahres dem Beispiel Ungarns und führte eine Grundgebühr für den Besuch von Arztpraxen und Krankenhäusern ein. Für sozialpolitischen Sprengstoff sorgen auch die von Topolaneks Koalition im Parlament durchgesetzten Änderungen des Steuersystems. So wurde die gestaffelte Einkommenssteuer durch einen einheitlichen Satz von 15 Prozent im kommenden Jahr und von 12,5 Prozent ab 2009 abgelöst.

Bisher galten vier Sätze zwischen zwölf und 32 Prozent. Bei der Mehrwertsteuer blieb der höhere Satz von 19 Prozent erhalten, während der ermäßigte Satz für Nahrungsmittel von fünf auf neun Prozent angehoben wurde. Bei all diesen Veränderungen zeigt sich, dass die neuen EU-Staaten nicht auf einen einheitlichen Weg nach dem Vorbild des angelsächsischen Modells in der Wirtschafts- und Sozialpolitik einschwenken, wie bislang im Westen angenommen. Vielmehr beziehen sie sich auch auf zentraleuropäische Vorbilder. Gar nicht „angelsächsisch“ klang eine Bemerkung des polnischen Ministerpräsidenten Jaroslaw Kaczynski, der in einer Kabinettssitzung sagte: „Es kann nicht angehen, dass bestimmte Patienten eines öffentlichen Krankenhauses nur deshalb besser als die übrigen Kranken behandelt werden, weil sie eine Zusatzversicherung abgeschlossen haben.“ Mitunter ist auch eine gewisse Reformmüdigkeit vieler Bürger spürbar, die nach 15 Jahren Transformation keinerlei weitere Veränderungen mehr hinnehmen wollen. Trotzdem wird die soziale Frage weiterhin für politischen Zündstoff sorgen.

Gebildeter, gesünder, reicher – und ärmer

Seit dem Systemwechsel 1989 hat sich die soziale Realität in den neuen EU-Staaten Ostmitteleuropas enorm gewandelt. So steigt die Lebenserwartung kontinuierlich an, hat sich der Gesundheitszustand schrittweise verbessert, die Kindersterblichkeit abgenommen. Allerdings gibt es zum Teil noch erhebliche Unterschiede zu den westlichen EU-Staaten. So ist Ungarn mit Abstand das EU-Schlusslicht bei der Sterberate von Männern im Vorrentenalter. Soziologen beobachten einen Anstieg des Bildungsniveaus: Der Anteil der Bürger mit höherem Schulabschluss wächst, auch die Angehörigen der wachsenden Mittelschicht achten inzwischen stark auf eine möglichst gute Ausbildung ihrer Kinder. Generell ist der Lebensstandard seit 1989 erheblich gestiegen.

Aber der Blick auf die Statistik zeigt auch, wo die Schattenseiten dieses Fortschritts liegen. So gibt es in den neuen EU-Staaten Ostmitteleuropas ein bemerkenswertes Zivilisationsgefälle zwischen städtischen Ballungsräumen und ländlichen Gebieten, zwischen dynamischen Regionen an den Grenzen zur „alten“ EU und rückständigen Gegenden an der neuen östlichen Außengrenze. Diese strukturellen Unterschiede haben sich nach dem Systemwechsel verfestigt. Insbesondere die Einkommensunterschiede in der Gesellschaft sind seit 1989 stark gewachsen. Die Differenzen sind in Ländern wie der Tschechischen Republik und Slowenien weniger ausgeprägt als in Polen oder Ungarn, wo zwei Drittel der ländlichen Bevölkerung am Rande des Existenzminimums oder gar unter der Armutsgrenze leben. Auch in der Slowakei haben sich die Einkommensunterschiede nach den Dzurinda-Reformen vertieft.

Ein Vergleich zwischen den neuen EU-Staaten zeigt ebenfalls ein uneinheitliches Bild: So differieren die Durchschnittslöhne zwischen 1200 Euro in Slowenien und 480 Euro in Lettland. Kein Wunder also, wenn die zunehmende soziale Polarisierung auch ihren Niederschlag in der Politik findet. Nationalkonservative Kräfte wie die PiS in Polen oder linkspopulistische Parteien wie Smer in der Slowakei führen soziale Probleme nicht selten auf das Engagement ausländischer Investoren in ihren Ländern zurück. Die Eliten in den neuen EU-Staaten spüren, dass die horrenden sozialen Unterschiede eine politisch-territoriale Spaltung ihrer Länder auslösen können und dass sie diese dämpfen müssen. So bemühen sich die polnischen Nationalkonservativen, möglichst viel Geld aus EU-Strukturhilfen in den Osten des Landes zu leiten.

Sozialpolitik im Schlepptau marktwirtschaftlicher Transformation

Eine erste Bilanz zeigt, dass die neuen EU-Staaten Ostmitteleuropas bislang sehr unterschiedliche Ergebnisse bei der Modernisierung ihrer sozialen Systeme erzielt haben. Auffallend ist auch die zeitliche Verschiebung, mit der solche Reformen angegangen wurden. Das gilt besonders für die Slowakei, die jahrelang als reformunfähig galt, bevor sie mit einer beispielhaften Kraftanstrengung viele wegweisende Erneuerungen auf den Weg brachte. Nach Lage der Dinge scheint die Rentenreform in den neuen EU-Staaten, von Ausnahmen abgesehen, am weitesten gediehen zu sein, während die Bereiche Arbeitsmarkt und Beschäftigungspolitik sowie das Gesundheitswesen und die Krankenversicherung immer noch mehr oder weniger erhebliche Defizite aufweisen.

Gerade in den ersten Jahren nach 1989 war die Sozialpolitik vielfach ein bloßes Korrektiv der Systemtransformation und späterer Reformen. Sie musste die Folgen der marktwirtschaftlichen Umgestaltung lindern, folgte aber keinem bestimmten Sozialstaatsmodell. Vermutlich war dies auch nicht anders möglich, da sich die neuen EU-Staaten wegen ihrer knappen Ressourcen zunächst auf den Aufbau der Marktwirtschaft konzentrieren mussten, bevor sie deren soziale Absicherung angehen konnten. Bei der Bewertung der sozialpolitischen Reformanstrengungen müssen auch die Ausgangsbedingungen in Rechnung gestellt werden, die das sozialistische System hinterlassen hatte. So wurden in Polen und der Slowakei überproportional Investitions- und Rüstungsgüter hergestellt, Polens Landwirtschaft war überdimensioniert. Zudem eigneten sich die sozialistischen Dienstleistungsstrukturen für die neuen marktwirtschaft-lichen Verhältnisse kaum. Der notwendige Strukturwandel war schmerzhaft, hunderttausende von Arbeitsplätzen gingen verloren.

Strukturelle Arbeitslosigkeit und Schattenwirtschaft

Wünschenswert wäre, wenn die neuen EU-Staaten ihr Arbeitskräftepotenzial möglichst umfassend für nachhaltiges Wachstum nutzen könnten. Doch die Realität sieht anders aus. Mit Ausnahme Estlands liegt die Erwerbsquote2 aller neuen EU-Länder unter dem Durchschnitt der 15 „Altmitglieder“ von 71,5 Prozent. Die Skala reicht von Ungarn mit 61,8 Prozent, Polen mit 62,9 Prozent über die Slowakei mit 68,6 Prozent und Tschechien mit 70,3 Prozent bis zu Estland mit 73,4 Prozent. In den meisten Ländern sind die Werte seit 2005 weitgehend stabil, nur in Polen ist die Tendenz rückläufig. Besonders betroffen sind die Slowakei und Polen mit Arbeitslosenquoten von je elf Prozent; Slowenien, Tschechien und Ungarn mit Werten zwischen 5,8 und 7,7 Prozent3 schneiden relativ gut ab. Auch hier ist Estland Spitzenreiter mit einer Quote von 4,4 Prozent.

Wo die größten Probleme liegen, erkennt man allerdings erst bei einem genaueren Blick auf die Arbeitslosenstatistik. Die Strukturschwächen der Arbeitsmärkte dieser Länder werden deutlich anhand der großen regionalen Unterschiede bei der Arbeitslosenquote, der überdurchschnittlich hohen Zahl von Langzeitarbeitslosen und der erschreckenden Jugendarbeitslosigkeit, die in einzelnen Regionen Quoten bis zu 50 Prozent erreicht. Allerdings ist die Statistik nur begrenzt aussagefähig, da in allen diesen Staaten ein großer Schwarzmarkt existiert, dessen Anteil an der wirtschaftlichen Gesamtleistung auf zehn bis 20 Prozent geschätzt wird. Wie widersprüchlich die Lage auf den östlichen Arbeitsmärkten ist, zeigt sich auch daran, dass in einzelnen Regionen, etwa in Niederschlesien, rund um Prag und in der westlichen Slowakei, inzwischen ein empfindlicher Fachkräftemangel herrscht. Das liegt unter anderem an der starken Arbeitsemigration in Richtung Deutschland, England, Irland und USA.

Erst in den letzten Jahren haben die neuen EU-Staaten begonnen, die Arbeitsmarktpolitik der verschiedenen staatlichen Ebenen zu modernisieren und die dafür notwendigen gesetzlichen Grundlagen zu schaffen. Ein Beispiel dafür ist das neue polnische Arbeitsförderungsgesetz vom April 2004, das die verschiedenen Instrumente der Arbeitsmarktpolitik genauer definiert. Ungarn ging mit dem Nationalen Aktionsprogramm für 2004 bis 2006 und dem Nationalen Reformprogramm für 2006 bis 2008 neue Wege in der Beschäftigungspolitik. Dazu zählen Fördermaßnahmen wie das so genannte Blaue Arbeitsbuch, das eine stärkere Beschäftigung von Arbeitslosen im Niedriglohnsektor ankurbeln soll. In Tschechien wurden das Arbeitsgesetzbuch und die staatliche Arbeitsinspektion reformiert. Die Slowakei entwickelte eine ganze Palette beschäftigungspolitischer Instrumente. In Slowenien diskutiert man Entwicklungspläne, die auch arbeitsmarktpolitische Maßnahmen enthalten.

Alle diese Initiativen können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Arbeitsmarktpolitik in Ostmitteleuropa noch großer Anstrengungen bedarf, um ein wirksames Instrument gegen die beschriebenen Defizite zu werden. So stehen die bereitgestellten finanziellen Mittel oft nicht in einem vernünftigen Verhältnis zum Bedarf. Während westliche EU-Staaten bis zu zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für ihre Arbeitsmarktpolitik ausgeben, sind es in Polen nur ganze 0,22 Prozent. Generell haben die neuen EU-Staaten immensen Aufholbedarf, wenn es um Investitionen in das Humankapital geht.

Gesundheitswesen als Achillesferse

Die strukturellen Defizite der sozialen Systeme in Ostmitteleuropa zeigen sich besonders auf dem Gebiet der medizinischen Versorgung. Gesundheitswesen und Krankenversicherung leiden darunter, dass es weder auf der Angebots- noch auf der Nachfrageseite ein klar gegliedertes System gibt. Immerhin hat Polen 1998 eine erste Reform des Gesundheitssektors eingeleitet, die aber noch nicht zum erhofften Durchbruch führte. Auch die später in der Slowakei vollzogene Reform, die in ihrer marktwirtschaftlichen Konsequenz weit über die Veränderungen in Polen hinausging, hat bis heute keine spürbare Verbesserung der Versorgung gebracht. Ungarn und Tschechien haben in diesem Jahr endlich erste Schritte eingeleitet, Slowenien dagegen immer noch nicht. Nach wie vor sorgen die Systemdefizite in allen diesen Ländern für eine überproportionale Belastung der Staatshaushalte.

So fehlt es neben den staatlichen Krankenhäusern an privat geführten Spitälern, die anspruchsvollere Leistungen gegen höhere Gebühren anbieten. Immerhin wächst die Zahl der privaten Kliniken in Ungarn und Polen relativ schnell, sehr langsam dagegen in Tschechien, der Slowakei und Slowenien. Andererseits müsste der Staat dringend mehr Geld für die Modernisierung der öffentlichen Krankenhäuser zur Verfügung stellen, da insbesondere die Kommunen und Kreise als Träger finanziell völlig überfordert sind. Chronische finanzielle Unterversorgung, Verschlechterung der baulichen Qualität vieler medizinischer Einrichtungen, Personalmangel und schlechte Bezahlung der Pflegekräfte sind charakteristisch.

Die Krankenversicherungssysteme in Ostmitteleuropa, so scheint es, müssten stärker solchen Strukturen angepasst werden, wie sie etwa in Deutschland existieren, wo öffentlich-rechtliche Krankenkassen, Ersatzkassen und Privatversicherungen für ein differenziertes Angebot sorgen. In den neuen EU-Staaten existieren hauptsächlich staatlich-öffentliche Träger neben wenigen privaten Anbietern. Verdeckte Handgelder an Ärzte und Pflegepersonal in staatlichen Krankenhäusern sind an der Tagesordnung. In der Regel kämpfen die staatlichen Krankenversicherungsträger mit großen Defiziten. Besonders in Ungarn wird die Situation noch dadurch verschärft, dass nur jeder dritte der zehn Millionen Ungarn regelmäßig Krankenversicherungsbeiträge zahlt.

Einige der neuen EU-Staaten haben schon vor einem Jahrzehnt erste Schritte zur Anpassung ihrer Rentensysteme an die neuen marktwirtschaftlichen Bedingungen unternommen. So trat 1998 in Ungarn ein zweigeteiltes System in Kraft, das aus der staatlichen und einer privaten, auf dem Kapitalmarkt finanzierten Rentenversicherung besteht. Polen zog 1999 mit einem dreigliedrigen System nach, zu dem die per Beiträge im Umlageverfahren finanzierte staatliche Rentenversicherung, die auf dem Kapitalmarkt finanzierten privaten Rentenfonds und die private Altersvorsorge gehören. Ein Jahr später folgte Slowenien mit einer Neugestaltung der Rentenberechnung, einer gestaffelten Anhebung des Renteneintrittsalters und ersten Anreizen für eine private Altersvorsorge. Anfang 2005 trat in der Slowakei ein System in Kraft, das dem polnischen vergleichbar ist. Die baltischen Staaten ergriffen ebenfalls ähnliche Initiativen. Die Renten wurden auch an die Ertragskraft des Kapitalmarkts, die Steigerung der persönlichen Einkommen und die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt gekoppelt, was zu einer Entlastung der staatlichen Haushalte führte.

Seither hat sich aber gezeigt, dass auch die reformierten Systeme nicht ausreichen, um die schon jetzt spürbaren gewaltigen Herausforderungen der Zukunft zu meistern. Denn in den neuen EU-Staaten sind die gleichen demographischen Tendenzen wie in nahezu allen Industriestaaten zu beobachten: relativ niedrige Geburtenraten, zunehmende Alterung der Gesellschaft, Trend zur Frühpensionierung. In fast allen neuen Mitgliedstaaten liegt das durchschnittliche Renteneintrittsalter noch unter dem mittleren Niveau der „alten“ EU. Viele ältere Menschen ziehen eine niedrige, aber sichere Rente der großen Unsicherheit auf dem Arbeitsmarkt vor. Daher plant Ungarn die Anhebung des Renteneintrittsalters, auch die tschechische Regierung denkt an einen solchen Schritt. Solche Maßnahmen sind brisant, weil die meisten Rentner ohnehin zu den Verlierern der marktwirtschaftlichen Wende gehören. Kein Wunder, dass viele alte Menschen zu jenen politischen Kräften tendieren, die einen patriarchalischen Obrigkeitsstaat auf ihre Fahnen geschrieben haben.

Für die neuen EU-Staaten ist es schwieriger als für den Westen, die Globalisierung zu bewältigen, weil sie von einem niedrigeren Niveau aus gestartet sind. Gerade sie stehen vor der Aufgabe, die verschiedenen Anforderungen in ein vernünftiges Verhältnis zueinander zu bringen. Die Debatte über die künftige soziale Dimension Europas sollte den neuen EU-Staaten in Ostmitteleuropa helfen, ihre Probleme in den Griff zu bekommen. Die Klassifizierung nach „angelsächsischen“ und „kontinentalen“ Modellen ist dabei nicht sehr hilfreich. Letztlich stehen die westlichen EU-Staaten vor ähnlichen Problemen – nur eben auf höherem Niveau.

REINHOLD VETTER, geb. 1946, Diplom-Ingenieur und Diplom-Politologe, ist seit 1994 Korrespondent des Handelsblatts für Ostmittel- und Südosteuropa und freier Journalist in Warschau und Budapest.

  • 1Dieser Aufsatz gilt hauptsächlich der Entwicklung in Polen, der Tschechischen Republik, der Slowakei, Ungarn und Slowenien. Der Schwerpunkt liegt dabei auf den Bereichen Arbeitsmarkt und Beschäftigungspolitik, Gesundheitswesen und Krankenversicherung sowie Altersstruktur und Rentenversicherung.
  • 2Anteil der Erwerbspersonen an der arbeitsfähigen Bevölkerung (15 bis 64 Jahre).
  • 3Prognosen des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche zum Jahresende 2007.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 10, Oktober 2007, S. 50 - 57.

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