Politik ohne Personal
die Spitzenpolitiker der Großen Koalition sind verantwortlich für deren Vertrauensverlust
Seit Jahren beklagt die Riege der Kulturkritiker in Deutschland eine immer stärkere Tendenz zur „Personalisierung“ der Politik. Unterstellt wird dabei, dass die inhaltlichen Aspekte der Politik zugunsten inszenierter Medienauf-tritte von Personen in den Hintergrund gedrängt werden. Entsprechend positiv wurde das Ende des „Medienkanzlers“ Gerhard Schröder und seines Grünen-Partners Joschka Fischer bei der Neuwahl des Bundestags im September 2005 gewertet. Der Politologe Hans-Rudolf Korte etwa sprach von einem Ende der Ära der „Darstellungspolitik“ und postulierte, dass nunmehr im Wesentlichen Sachthemen die politischen Entscheidungen und die Meinungsbildungsprozesse der Bürger bestimmen würden.
Doch schon ein Jahr nach der Propagierung dieser „neuen Sachlichkeit“ wird die Arbeit der Großen Koalition mit Kanzlerin Merkel und Vizekanzler Müntefering an der Spitze nicht nur wegen der Inhalte ihrer Politik und handwerklicher Mängel, sondern vor allem wegen fehlender Führungsstärke, Entscheidungsschwäche und menschlicher Kälte kritisiert – Aspekte also, die mit Sachthemen wenig, aber viel mit Eigenschaften von Personen zu tun haben. Von den Bürgern haben heute rund drei Viertel den Eindruck, dass das Gespann Schröder/Fischer besser und stärker gewesen ist als das Duo Merkel/Müntefering. Und eine forsa-Untersuchung zur Frage, welche Faktoren hauptsächlich für die Abwanderung so vieler Wähler der SPD und der Union (fast 40 Prozent der SPD- und CDU/CSU-Wähler der letzten Bundestagswahl würden derzeit die Stimme nicht mehr der SPD und der Union geben) verantwortlich sind, zeigt, dass diese Abwanderung von Wählern in erster Linie auf die mangelnde Bindekraft von Merkel, Müntefering und Beck zurückzuführen ist.
Für den großen Vertrauensverlust der gegenwärtigen Bundesregierung und der sie tragenden Parteien sind also in ganz starkem Maße die politischen Führungsfiguren von Union und SPD verantwortlich. Das zeigt, dass das personale Element in der Politik nicht unterschätzt oder – wie es von Wissenschaftlern häufig getan wird – als negative und der Qualität der Politik abträgliche Komponente gebrandmarkt werden darf. Dabei hat sich Politik auch in der Bundesrepublik nicht erst mit der zunehmenden Medialisierung von Wahlkämpfen, sondern immer schon in sehr starkem Maße über Personen vermittelt.
Das war von den Vätern (und wenigen Müttern) des Grundgesetzes durch die starke Stellung, die sie nach den Erfahrungen der Weimarer Republik dem Bundeskanzler zuwiesen, ausdrücklich so gewollt. Und Konrad Adenauer, der erste Kanzler im demokratischen Nachkriegsdeutschland, hat dann die Dominanz des Kanzlers in der Politik durch seine lange, 14-jährige Amtszeit auch in der politischen Realität etabliert. Während seiner Regierungszeit entwickelte sich das, was als Kanzler- oder Amtsbonus bezeichnet wird, nämlich, dass der Kanzler über die Anhängerschaft der eigenen Partei hinaus Sympathie genießt und Integrationskraft entwickelt. Nach den Übergangskanzlern Erhard und Kiesinger hatten auch Willy Brandt und Helmut Schmidt diesen Kanzlerbonus. Helmut Kohl hingegen hatte ihn nur einmal in seiner 16-jährigen Regierungszeit: Vor und nach der Bundestagswahl 1994, als sein sozialdemokratischer Gegenpol Rudolf Scharping die Sozialdemokratie in eine tiefe Lethargie fallen ließ. Die Union wurde trotz der geringen Sympathiewerte für Kohl bei Bundestagswahlen stärkste Kraft, weil die SPD – nach dem von Teilen der SPD durchaus befürworteten Sturz von Helmut Schmidt – kein von den Bürgern akzeptiertes personelles Gegengewicht zu Kohl aufbieten konnte. (Lediglich Johannes Rau hätte dies im Wahlkampf 1986/87 werden können; er wurde aber durch seine Partei, die ihm einen Programmwahlkampf aufzwang, daran gehindert.) Helmut Kohl hat die Wählersubstanz der Union zwischen 1983 (als 43 von 100 Wahlberechtigten CDU oder CSU wählten) und 1998 (da wählten nur noch 28 Prozent der Wahlberechtigten die Union) um ein Drittel reduziert. Allerdings hatte Kohl – anders als Angela Merkel heute – immer starken Rückhalt bei den der Union verbliebenen Anhängern.
Die SPD konnte dann 1998 und 2002 zum ersten Mal seit 1972 wieder stärkste Partei werden, weil sie mit Gerhard Schröder seit Helmut Schmidt wieder einen Kandidaten aufgestellt hatte, der im Urteil der Menschen Sympathie und Kompetenz hatte. Ohne den Kandidaten Schröder hätte die SPD auch die Wahlen 1998 und 2002 verloren (ein Kandidat Lafontaine hätte selbst gegen Kohl 1998 keine Chance gehabt).
Allein ein Blick auf die Wahlverläufe seit 1949 zeigt, wie entscheidend das jeweilige personale Angebot der Parteien für den Wahlausgang war. Die Personalisierung der Politik ist also keine negative Entwicklung, sondern eine fundamental wichtige Voraussetzung für die Akzeptanz von Politik. Fehlt – wie jetzt – die Bindekraft des politischen Spitzenpersonals, dann hat das auch negative Folgen für das gesamte politische System. Wenn bei der Frage nach der Kanzlerpräferenz derzeit fast 40 Prozent der CDU/CSU-Wähler vom September letzten Jahres und sogar fast 50 Prozent der SPD-Wähler sich nicht für Merkel bzw. Beck entscheiden, dann hat das – wie zurzeit sichtbar – nicht nur einen Vertrauensschwund für die Union und die SPD zur Folge, sondern untergräbt das Vertrauen in die Politik und deren Prägekraft generell.
Internationale Politik 12, Dezember 2006, S. 80‑81
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