Buchkritik

26. Juni 2023

Planspiele und Horrorszenarien

Droht ein Krieg zwischen Amerika und China und, wenn ja, wie wäre er zu verhindern? Und welche Rolle spielt die Chipindustrie in diesem Konflikt? Zwei Neuerscheinungen.

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Bild: Illustration eines Buches auf einem Seziertisch
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Alles beginnt damit, dass die chinesische Kriegsmarine in kürzester Zeit den Zugang zur Insel Taiwan abriegelt. Anschließend startet sie gemeinsam mit der Luftwaffe und auf dem Festland stationierten Raketenwerfern die Bombardierung einer der am dichtesten bevölkerten Regionen der Welt. Kritische Infrastruktur wird gezielt zerstört; es folgt die Landung von bis zu 200 000 Soldaten der Volksbefreiungs­armee an 20 verschiedenen Brückenköpfen entlang der 1500 Kilometer langen Küstenlinie.



Wie im Sommer 1914

Was das chinesische Militär Anfang April in Reaktion auf das Treffen zwischen Taiwans Präsidentin Tsai Ing-wen und dem Sprecher des US-Repräsentantenhauses Kevin McCarthy als Planspiel durchexerzierte, dürfte in der Praxis den Auftakt zu einem verlustreichen Konflikt zwischen den Großmächten China und Amerika bilden.



Dieser Meinung zumindest ist der ehemalige australische Premierminister und langjährige China-Beobachter Kevin Rudd, der in seinem 2022 veröffentlichten Buch „Avoidable War“ eine deutliche Parallele zwischen der sich zuspitzenden Taiwan-Frage und jenen Dynamiken zieht, die in den heißen Sommermonaten des Jahres 1914 die Welt in den Abgrund stürzten.



Damit teilt Rudd die Einschätzung vieler Experten, dass Washington im Falle eines chinesischen Angriffs auf Taiwan zugunsten des Inselstaats intervenieren würde, vielleicht mit der Unterstützung Japans, Australiens und Südkoreas. Die Folge wäre eine militärische Konfrontation zwischen gleich mehreren hochmodernen Ar­meen, die in kürzester Zeit zu Zigtausenden Toten und einer dramatischen Rezession der Weltwirtschaft führen würde. Es wäre das „Horrorszenario“, vor dem Bundesaußenministerin Annalena Baerbock bei ihrem Besuch in Peking Mitte April so eindringlich warnte.



Mann in Eile

Tatsächlich hält Rudd die Konsequenzen eines direkten chinesisch-amerikanischen Konflikts für so schwerwiegend, dass er dessen Verhinderung zum Imperativ internationaler Politik erhebt. Sein Buch soll eine Art Gebrauchsanweisung zur Erfüllung dieses Auftrags sein. Dabei richtet er sich in erster Linie an westliche Staatenlenker, insbesondere an den in Washington. Denn er glaubt, dass die Politik Chinas, wie sie seit 2012 unter der Führung Xi Jinpings praktiziert wird, im Westen nicht ausreichend verstanden wird.



Rudd, der fließend Mandarin spricht und somit vermutlich der bisher einzige westliche Staatschef war, der sich mit dem chinesischen Staatspräsidenten über mehrere Stunden hinweg in dessen Muttersprache unterhalten konnte – an einem Kaminfeuer in Canberra, wie Rudd in seinem Buch berichtet –, betont die Bedeutung der Persönlichkeit Xi Jinpings.



Xi, der seit Herbst 2022 als „Präsident auf Lebenszeit“ offiziell eine Machtfülle innehat, die nur mit jener Mao Tsetungs vergleichbar ist, beschreibt Rudd als einen „Mann in Eile“, vor allem mit Blick auf Taiwan. Xi erachte „den graduellen Ansatz“ seiner Vorgänger als falsch und glaube, „dass die Zeit reif für eine grundsätzliche Veränderung der internationalen Ordnung“ sei – eine Einschätzung, die er mit Wladimir Putin teilt.



Rudd zeichnet zehn „konzentrische Interessenskreise“, die seiner Meinung nach Xis Weltbild bestimmen. Neben dem eigenen Machterhalt und Prioritäten wie einem möglichst umweltfreundlichen Wirtschaftswachstum geht es Xi laut Rudd darum, über eine auch nukleare Aufrüstung zunächst eine regionale Hegemonialstellung zu erreichen und diese anschließend über eine aktivistische Außenpolitik auszubauen.



Dabei breche Xi dezidiert mit der zurückhaltenden Attitüde seiner Vorgänger, die im Wesentlichen nach dem berühmten Diktum Deng Xiaopings „Verstecke deine Stärken und warte, bis die Zeit gekommen ist“ handelten.



Dass Xi die Zeit für gekommen hält, in der China seine wiedererlangte Stärke offen zur Schau stellen kann, liegt für Rudd auf der Hand. China versuche systematisch, die liberale internationale Ordnung auszuhöhlen, indem es seinen Einfluss in bestehenden Institutionen ausbaue, um diese gezielt zu untergraben, und gleichzeitig eigene konkurrierende Organisationen gründe.



Einen noch deutlicheren Ausweis der Ambitionen Chinas biete neben dem spektakulären Infrastrukturprogramm „Seidenstraßen-Initiative“ die Errichtung strategischer Militärbasen in Ländern wie Dschibuti, die deutlich außerhalb von Chinas unmittelbarer Nachbarschaft liegen.



Kompetitiv koexistieren

Vieles von dem, was Rudd schildert, dürfte denen, die sich schon länger mit China und der Person Xi Jinping beschäftigen, bekannt sein. Doch so detailliert, fundiert und dank des Bildes der konzen­trischen Kreise auch verständlich hat man das Weltbild der chinesischen Führung lange nicht präsentiert bekommen. Dabei geht es Rudd nicht darum, die Ziele und Motive chinesischer Politik zu rechtfertigen, sondern darum, Chinas unverrückbare Interessen aufzuzeigen, von deren Verfolgung es sich weder durch Dialog noch durch Konfrontation werde abbringen lassen.



Unter diesen Umständen ist Rudd überzeugt, dass die beste und vielleicht einzige Chance, einen Krieg zu vermeiden, darin besteht, „das strategische Denken der anderen Seite zu verstehen und eine Weltordnung zu konzeptualisieren, in der China und die USA kompetitiv koexistieren können, auch im Kontext einer andauernden Rivalität, die durch gegenseitige Abschreckung stabilisiert ist“.



Hang zum Irrationalen

„Managed strategic competition“ nennt Rudd seinen Ansatz, mit dem der Rivalität zwischen China und der USA gewisse „Leitplanken“ gesetzt werden, die ein Hineinschliddern in den Abgrund eines direkten militärischen Konflikts verhindern sollen. Der Ansatz erinnert an das Konzept der „Co-Evolution“, das Henry Kissinger 2011 in seinem Buch „On China“ beschrieb. Danach sollten China und die USA trotz aller unterschiedlicher Interessen graduell in eine neue Weltordnung auf kooperativer Basis hineinwachsen; eine Weltordnung, der das gemeinsame Interesse an einer Aufrechterhaltung des Weltfriedens zugrunde liegen würde.



Wie Kissingers damaliger Vorschlag setzt auch Rudds Konzept voraus, dass auf beiden Seiten die Rationalität überwiegt und Risiken, die den Frieden gefährden könnten, vermieden werden. Doch am Vorhandensein dieser notwendigen Vernunft darf gezweifelt werden.



Und so wohnt dem insgesamt sehr lesenswerten Buch von Rudd in dieser Hinsicht ein ungelöster Widerspruch inne: Er liefert eine Lösung, die auf rationaler Risikoabwägung basiert, und zeichnet aber zugleich über weite Strecken des Buches das Bild eines chinesischen Staats­präsidenten, der in immer stärker werdendem Maße ideologiegetrieben zu sein scheint und einen ausgeprägten Hang zum Irrationalen haben könnte.



Ringen um den besten Chip

Während Rudd dem Leser eine Gesamtdarstellung des Interessenkonflikts zwischen den USA und China sowie einen Vorschlag zu dessen Einhegung präsentiert, bietet das neueste Buch des amerikanischen Wirtschafts­historikers Chris Miller mit dem Titel „Chip War“ eine tiefgehende Analyse eines zentralen Aspekts dieser Rivalität: des Ringens der beiden Großmächte um den besten Mikrochip.



Auch wenn sie meist nicht größer als ein paar Millimeter sind, so lässt sich doch die Bedeutung moderner Mikrochips für die Welt des 21. Jahrhunderts kaum überschätzen. Nahezu alle erdenklichen elektronischen Geräte, von gewöhnlichen Alltagsprodukten wie dem Smartphone bis hin zu modernen Hightech-Waffensystemen, könnten ohne Mikrochips nicht betrieben werden. Miller schildert die Entwicklungsgeschichte dieser Technologie von ihren Anfängen in den 1950er Jahren im Silicon Valley bis heute.



Dabei betont Miller, dass der Mikrochip schon immer eine militärstrategische und somit geopolitische Dimension hatte. So erkannte die amerikanische Regierung sehr früh das Potenzial, das Mikrochips mit Blick auf die Entwicklung hochpräziser Raketensysteme boten, und steckte enorme Summen in die Förderung der im Entstehen begriffenen heimischen Mikrochip­-Industrie.



Auch die Sowjetunion versuchte, sich die „Kraft des Mikrochips“ zu eigen zu machen, scheiterte jedoch laut Miller an der Planungswut ihres zentralisierten Staats- und Wirtschaftssystems. Die Tatsache, dass die Sowjetunion den Vereinigten Staaten in der Mikrochip-Produktion konstant hinterherhinkte und mit dem Versuch, das Defizit zu schließen, horrende Summen verschleuderte, gehört für Miller zu einem der wichtigsten, aber häufig übersehenen Faktoren des sowjetischen Kollapses am Ende des Kalten Krieges.



Peking unter Druck

Die Bedeutung des Mikrochips ist in den Jahrzehnten seit Ende des Kalten Krieges noch weiter gestiegen, gerade mit Blick auf militärische Anwendungen. So verwundert es nicht, dass die Technologie in den Mittelpunkt heutiger Großmachtrivalitäten gerückt ist und die USA und China sich seit geraumer Zeit einen harten Wettlauf um die Vorherrschaft im Mikrochip-Bereich liefern.



Doch trotz der beachtlichen Fortschritte, die China in den vergangenen Jahren gemacht hat, wird es dem Land nach Millers Überzeugung kaum gelingen, die Lücke zu den USA zu schließen. Für ihn liegen die Gründe dafür auf der Hand: Wie schon die Sowjetunion schafft es auch die staatlich gesteuerte Wirtschaft Chinas einfach nicht, das Innovationstempo freier Märkte zu entfalten.



Erschwerend hinzu kommen die Sanktionen, die die Vereinigten Staaten im Oktober vergangenen Jahres erlassen haben, um China den Zugang zu wichtigen Bauteilen für die Produktion von Hightech-Chips zu verwehren.



Annektieren und einverleiben

Derart in die Enge getrieben, könnte Pekings Blick nach Taiwan schweifen, wo 91 Prozent aller Hightech-Chips weltweit produziert werden. Könnte China versucht sein, sich die hochkonzentrierte Mikrochip-Industrie Taiwans gewaltsam einzuverleiben? Es wäre eine grausame Ironie der Geschichte.



Denn ursprünglich erfolgte der Aufbau der taiwanesischen Mikrochip-Industrie laut Miller mit dem Hintergedanken, dass diese als Sicherheitsgarant dienen könnte. Zu bedeutend für die Weltwirtschaft würden Unternehmen wie die Taiwan Semiconductor Manufacturing Company (TSMC) sein, als dass die USA und andere westliche Staaten eine Annektierung der Insel durch die Volksrepublik China einfach zulassen könnten.



Diese Annahme könnte jedoch schon in absehbarer Zeit nicht mehr zutreffen, da die USA massive Anstrengungen unternehmen, um ihre Abhängigkeit von Taiwan im Chip­bereich abzubauen. So könnte Taiwans weltmarktführende Mikrochip-Industrie letztlich mehr Fluch als Segen sein, indem sie die Wahrscheinlichkeit einer chinesischen Invasion erhöht, statt sie zu mindern.



Miller glaubt jedoch, dass die USA auch im Falle einer erheblich reduzierten Abhängigkeit von Taiwan zu ihren Sicherheitsgarantien stehen würden. Außerdem sei sich Peking der Tatsache bewusst, dass es kaum mittels eines Frontalangriffs Zugang zu Taiwans Chiptechnologie bekäme. Schließlich würden die begehrten Chip­fabriken einen militärischen Konflikt wohl nicht überstehen. Und selbst wenn sie intakt blieben, erhielte China nur schwer den benötigten Nachschub an hochqualifizierten Arbeitskräften und komplexen Bauteilen, um sie weiterbetreiben zu können.



Realistischer erscheint Miller ein Szenario, in dem Peking langsam, aber stetig den Druck auf Taiwan erhöht. So könnte es seine Drohgebärden verschärfen und in einem nächsten Schritt nur begrenzt Territorium annektieren, etwa eine der Inseln in der Meerenge zwischen Taiwan und dem Festland, oder vorübergehend eine Blockade verhängen.



Sollten Taiwans Verbündete, allen voran die Vereinigten Staaten, in der Wahrnehmung Taipehs auf solche Aktionen nicht robust genug reagieren, schließt Miller nicht aus, dass Taiwan sich auf einen Kompromiss mit China einlassen könnte, der auch Konzessionen im Bereich der Mikrochip-Produktion einschlösse. Dies wäre ein gradueller Ansatz, der ein gewisses Maß an Geduld seitens der chinesischen Staatsführung voraussetzt.



Abhängig von Autokraten

Womit man wieder bei der Persönlichkeit Xi Jinpings wäre. Ist Xi tatsächlich der „Mann in Eile“, für den Rudd ihn hält, dürfte er sich mit einer solch langfristig angelegten Strategie nicht zufriedengeben. Sein Handeln in Hongkong, wo er den raschen Zugriff einem graduellen Prozess der Annäherung vorzog, legt diese Vermutung durchaus nahe.



Außerdem könnte es sein, dass in seinem Ideologiegebäude das nationalistische Ziel, Taiwan möglichst rasch – idealerweise bis zum 100-jährigen Jubiläum der Staatsgründung der Volksrepublik im Jahr 2049 – zu annektieren, jegliche anderen Überlegungen übertrumpft. Womöglich würde Peking eine Annexion sogar unter Inkaufnahme massiver Kosten und Risiken durchziehen. Die bedrückende Wahrheit ist, dass diese Fragen sich nicht abschließend beurteilen lassen – auch nicht in klug geschriebenen Büchern wie jenen von Rudd und Miller. Wir müssen uns damit abfinden, dass wir wieder in einer Welt leben, in der der Frieden in erheblichem Maße von einzelnen, mächtigen Autokraten abhängt.

 

Kevin Rudd: The Avoidable War: The Dangers of a Catastrophic Conflict between the US and Xi Jinping’s China. NYC: Public­Affairs 2022. 432 Seiten, 19,99 Dollar

Chris Miller: Chip War: The Fight for the World’s Most Critical Technology. NYC: Scribner 2022. 464 Seiten, 30,00 Dollar

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2023, S. 120-123

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Lukas Paul Schmelter ist Zeithistoriker und war zuletzt Ernest May Fellow am Belfer Center for Science and International Affairs der Har­vard Kennedy School (2021–2022).

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