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01. Nov. 2020

Plädoyer 
gegen die Wahrheit

Zum Sylke-Tempel-Fellowship-Programm

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Bild: Gezeichnetes Porträt von Sylke Tempel
Dr. Sylke Tempel (1963–2017) war von 2008 an bis zu ihrem Tode Chefredakteurin der IP. Neben dem Fellowship, dessen Arbeiten des Jahrgangs 2021 diese Ausgabe versammelt, erinnert auch ein jährlich ausgelobter Essaypreis in ihrem Namen 
an Leben und Werk dieser herausragenden Journalistin, Autorin, Publizistin und Mentorin. Sie fehlt.
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Na gut, ich gebe zu, der Titel ist provokant gewählt. Provokant war auch Sylke Tempel, der zu Ehren die Stiftung Deutsch-Israelisches Zukunftsforum das Sylke-Tempel-Fellowship-Programm eingerichtet hat. In einer ihrer scharfsinnigen Ausführungen zur „Methode Trump“ erklärte sie – ganz im Sinne von Hannah Arendt –, dass wir den Begriff der Wahrheit lieber aus den medialen politischen Diskussionen heraushalten und den Philosophen oder Propheten überlassen sollten. Recht hatte sie. Der Begriff der Wahrheit wird im politischen Diskurs nur im Plural demokratischen Ansprüchen gerecht.



Dennoch erfreut sich zurzeit kaum ein anderer Begriff der öffentlichen politischen Debatte so großer Beliebtheit – eng umschlungen von seinem Antonym. Joe Biden schimpfte Donald Trump im ersten Duell der Präsidentschaftskandidaten einen Lügner, dieser verwies auf gegen ihn gerichtete „Fake News“. Israels Premier Benjamin Netanjahu sicherte im Vorfeld der dritten Parlamentswahlen innerhalb von anderthalb Jahren der israelischen Öffentlichkeit zu, dass das gegen ihn laufende Gerichtsverfahren „die ganze Wahrheit“ ans Licht bringen werde. In Deutschland demonstrieren im Rahmen sogenannter Hygienedemos Zehntausende Menschen mit Verschwörungstheoretiker*innen, die entgegen jeder Faktizität „die Wahrheit“ erkannt haben und deren abstruse, partiell menschenverachtende und wenig erleuchtende Mythen sich wie mit Lichtgeschwindigkeit im digitalen Raum ausbreiten. Wer mit wenig Wissen und Skrupel bepackt ist, läuft einfach schneller.



Hinter der Proklamation der Wahrheit verbirgt sich häufig nicht das Ergebnis eines Erkenntnisprozesses, sondern der Anspruch auf die alleinige Deutungshoheit über einen Sachverhalt, das Erheben der eigenen Perspektive zur obersten Legitimationsinstanz, der allein Wahrheitsgehalt zugesprochen wird. Journalismus sucht nicht nach der einen Wahrheit, sondern nach den vielen unerzählten Geschichten, nach Perspektivenvielfalt auf einen Sachverhalt. Genau das erwarten wir von unseren Sylke-Tempel-Fellows, die ihre Stimmen auch künftig über Ländergrenzen hinweg als junge Expert*innen, Journalist*innen und medial Aktive in gesellschafts- und außenpolitische Debatten in Deutschland und in Israel einbringen.



Es waren drei Länder – Deutschland, Israel und die USA –, die Sylke Tempel besonders am Herzen lagen. In allen drei Ländern hat sie gelebt und gearbeitet. Gemeinsam mit unseren Kooperationspartnern (siehe S. 51) und unter der Schirmherrschaft des Vorsitzenden der Atlantik-Brücke, Bundesminister a.D. Sigmar Gabriel, haben unsere Fellows in diesem Jahr einzelne Aspekte des übergeordneten Jahrgangsthemas „Israel und Deutschland im US-Wahljahr. Nationale Narrative, Identitäten und Außenpolitik“ miteinander und mit ihren Mentor*innen Raphael Ahren, Dr. Nicola Albrecht, Dr. Max Czollek, Kerstin Müller, Christina Pohl und Adar Primor diskutiert. In ihren Beiträgen zeigen sie aktuelle Grenzverschiebungen und neue Legitimationsdebatten in allen drei Ländern und in ihren Beziehungen zueinander auf.



Das Plädoyer gegen die Wahrheit ist ein Plädoyer für Perspektivenvielfalt im Rahmen der Rechtsstaatlichkeit und für eine demokratische Kultur der Balance, in der es nicht um die eine Wahrheit geht, sondern um ein bestmögliches Miteinander – Werte, für die das Fellowship-Programm steht und für die auch Sylke Tempel gestritten und gelebt hat.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik Special 2, November 2020, S. 2

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