Wie China Geschichte schreibt
Zum Sylke-Tempel- Fellowship-Programm
Wofür stehen wir eigentlich? Mit dieser Frage begann Sylke Tempel 2013 einen Beitrag zur Ausrichtung der deutschen Außenpolitik. Sie kritisierte scharf die Haltung derer, die plädierten, Ländern wie dem Iran oder China mit Verweis auf deren lange Geschichte mehr Entgegenkommen und Verständnis zu zeigen.
Die Bedeutung der langen Geschichte unterstrich auch die sogenannte Historische Resolution, die die Kommunistische Partei Chinas anlässlich ihres 100jährigen Jubiläums im November 2021 verabschiedete. Die Resolution diente nicht der Rekonstruktion historischer Fakten. Sie verfolgte vor allem das Ziel, die Machtposition von Staatspräsident Xi Jinping ideologisch zu legitimieren und auszuweiten. Im November 2022 will er seine dritte Amtszeit antreten.
Auch dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine ging eine geschichtspolitische Neuverortung des Verhältnisses von Russland und der Ukraine voraus, die in Putins Essay „Zur historischen Einheit von Russen und Ukrainern“ deutlich zum Ausdruck kam.
Geschichte schreibt, wer sich die Deutungshoheit über einen Sachverhalt aneignet. Autoritäre Regime bedienen sich der Geschichtsschreibung, um ausschließlich ihre eigene Deutung legitim erscheinen zu lassen. Diese Art der Geschichtsschreibung ist nicht rückwärtsgewandt. Im Gegenteil: Der Rückgriff auf die Geschichte dient vor allem der Legitimation gegenwärtiger und neuer Machtansprüche. Die Deutung der Geschichte durch autoritäre Regime verortet weniger historische Fakten als vielmehr ideologische Positionen der Gegenwart, und sie ist vor allem nicht in Bezug auf die Geschichte, sondern in Bezug auf die Zukunftsvisionen ihrer Autoren aussagekräftig.
Wir streiten nicht nur über einen geopolitischen Raum und die territoriale Integrität von Staaten, sondern führen auch eine ideologische Auseinandersetzung, die eng mit unterschiedlichen Werte- und Interessenslagen verbunden ist. Das zeigt sich auch in den Freiräumen für journalistische Arbeit. Faktenbasierter Journalismus dient in demokratischen Rechtsstaaten nicht der Legitimierung, sondern der Kontrolle der Macht. Qualitätsjournalismus macht sich nicht das eine Narrativ, sondern die Perspektivenvielfalt zur Aufgabe.
Im Rahmen des Sylke-Tempel-Fellowship-Programms fördern wir in diesem Sinne gemeinsam mit unseren Partnern junge Menschen in Deutschland undIsrael, die sich 2022 aus unterschiedlichen Perspektiven mit Chinas Einfluss auf Israel und den Nahen Osten auseinandergesetzt haben.
Sylke Tempel hat die Frage beantwortet, wie wir uns außenpolitisch aufstellen müssen, um einen angemessenen Umgang mit autoritären Regimen zu finden. Sie hat sich deutlich für eine werteorientierte Außenpolitik ausgesprochen, die eine klare Haltung in Menschenrechtsfragen einnimmt.
Menschenrechtspolitik ist kein Zusatz zu interessengeleiteter Außenpolitik. Die Verteidigung unserer Rechtsordnung und unserer Wertevorstellungen sollte vielmehr den Kern unserer außenpolitischen Interessen darstellen. Autoritäre Regime mögen durchsetzungsstark erscheinen. Die gewaltsame Unterdrückung unterschiedlicher Perspektiven auf einen Sachverhalt ist jedoch kein Zeichen von Stärke, sondern von Schwäche – auch wenn die lange Geschichte manchmal etwas Anderes zu suggerieren scheint.
Internationale Politik Special 07, November 2022, S.2