Plädoyer für ein Weißbuch zur Rüstungsindustrie
Im Zuge der Debatte über die neue Ausrichtung der Bundeswehr sei, so Rüdiger Moniac, ein nationales Sicherheitskonzept erforderlich, zu dessen wesentlichen Elementen die Rüstungsindustrie gehöre. Und deren Grundlagen müssten in einem „Weißbuch“ zusammengefasst werden.
Unter deutschen Politikern ist die Auffassung weit verbreitet, das Unterhalten von Streitkräften sei zwar eine staatliche Aufgabe, nicht aber ihre Ausrüstung mit Waffen und anderem Gerät. Dafür, so hört man allenthalben aus allen politischen Lagern und nicht nur aus dem linken Spektrum, hätten nicht der Staat und die Regierung die Verantwortung, sondern allein die Wirtschaft, die Unternehmen, genauer eine Branche, die sich gezielt auf die Herstellung von Wehrmaterial und Rüstung spezialisiert.
Diese irrige Ansicht mag daher rühren, dass zwar Streitkräfte in der Verfassung erwähnt werden, an keiner Stelle des Grundgesetzes aber festgelegt wird, wie die Einzelheiten der „Aufstellung“ der Bundeswehr zu organisieren sind. Im Artikel 87a, Absatz 1 heißt es zwar: „Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf. Ihre zahlenmäßige Stärke und die Grundzüge ihrer Organisation müssen sich aus dem Haushaltsplan ergeben.“ Aus diesen beiden Sätzen lässt sich aber nichts über die Rolle, die Aufgaben, die Stellung und die Bedeutung der Rüstungsindustrie herauslesen.
Ein Mangel? Ja und nein. Einerseits deswegen nicht, weil darin ein wahrhaft marktwirtschaftlich orientiertes Verständnis von der Versorgung und Ausrüstung der deutschen Streitkräfte mit jedwedem Material erkennbar wird. Andererseits aber doch, denn über die Jahrzehnte und besonders in den jüngst vergangenen Jahren wurde immer klarer, dass die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der Armee als Bezieher von Gütern und Leistungen aus der Volkswirtschaft und der Industrie, der Wirtschaft ganz allgemein als Anbieter von Gütern und Leistungen, nur sehr beschränkt im Spiel von Angebot und Nachfrage sich regelt.
Diese für die Verfechter von Marktwirtschaft auch in den Beziehungen zwischen Bundeswehr und Wirtschaft sehr ernüchternde Erkenntnis hat sich allgemein noch nicht durchsetzen können. Das aber ist zwingend für eine völlig neue Beurteilung der Bedeutung der Rüstungsindustrie, die, wenn nicht prinzipiell Neues in der Politik zur Gestaltung deutscher Handlungsfähigkeit über die Staatsgrenzen hinweg sich anbahnt, immer schneller verkümmern müsste – womit der Staat eine wesentliche Handlungsoption verlöre.
Mit der schlagwortähnlichen Bemerkung von Verteidigungsminister Peter Struck, Deutschland werde auch am Hindukusch verteidigt, ist die politische Debatte über die neue Ausrichtung der Bundeswehr, die sogar mit weltweiten Einsätzen rechnen müsse, fast blitzartig in eine neue Dimension geraten. Ähnliches müsste geschehen, damit die Diskussion endlich darüber einsetzt, was Deutschland (solange Europa auf diesem Sektor noch handlungsunfähig ist) an Rüstungsindustrie braucht, um entsprechend souverän zu bleiben. Nach dem Erlass modernisierter „Verteidigungspolitischer Richtlinien“ (VPR) muss ein weiterer Schritt getan werden, der Schritt hin zu einem nationalen Sicherheitskonzept, einem allumfassenden staatlichen Dokument, in dem alle Bereiche der Sicherheitsvorsorge für Bürger, Gesellschaft und Wirtschaft in einem sinnvollen Miteinander verzahnt sind. Dies fehlt.
Als ein ganz wesentliches Element darin ist die Wehrwirtschaft zu sehen. Es liegt eigentlich auf der Hand, dass sich die zuständigen Ministerien der Bundesregierung darauf einigen, bald als einen weiteren Schritt hin zu einem nationalen Sicherheitskonzept – gewissermaßen als eine zweite Vorstufe zusätzlich zu den VPR – ein „Weißbuch zur Rüstungsindustrie“ zu verfassen. Das Projekt zwingt nicht nur zur Klärung einschlägiger „regierungsamtlicher“ Gedanken, es würde auch – endlich – eine öffentliche Debatte darüber auslösen, was staatliche Fürsorge nötig macht, um die Sicherheit und das Wohlergehen der Bürger (auch und vor allem mit Hilfe einer neu definierten Bedeutung der Rüstungsindustrie) zu garantieren.
Denn: Soldaten, Streitkräfte, Waffen, die Rüstungsindustrie – Begriffe wie diese gehören ganz selbstverständlich in das politische Vokabular eines souveränen Staates. Dessen Aufgabe ist es schließlich, seinen Bürgern Schutz und Sicherheit zu garantieren. Dazu braucht der Staat funktionstüchtige Streitkräfte und eine die Armee ausrüstende industrielle Basis. Nicht nur die Bundeswehr braucht den Rückhalt der Politik und der Bürger; auch die Rüstungsindustrie braucht das. Denn die Rüstungsindustrie versorgt nicht nur die Armee mit dem erforderlichen Material – und das zu angemessenen Preisen. Die Rüstungsindustrie kann und soll auch als Motor für technologische Innovation und wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt wirken. Diese Form der industriellen Basis treibt in Teilbereichen nicht nur die technologische Innovation an. Von der Rüstungsindustrie werden auch Güter oder Technologien entwickelt, die nicht nur für die Streitkräfte von Nutzen sind, sondern ebenso für die zivile Wirtschaft (der so genannte „dual use“). Eine zweifache Bedeutung also auch volkswirtschaftlich.
In diese Richtung muss der neue Denkansatz in der deutschen Politik gehen. Der Erhalt einer funktionstüchtigen Rüstungsindustrie ist eine staatliche Aufgabe. Diese Aufgabe kann nicht unter marktwirtschaftlichen Prinzipien von Angebot und Nachfrage geregelt werden. Denn auf dem „Markt der Sicherheitspolitik“ existiert als alleiniger Nachfrager der Staat. Er allein rüstet seine Streitkräfte aus. Er ist der Monopolist. Die Rüstungsindustrie kann nicht konjunkturellen wirtschaftlichen Zyklen folgen; sie ist als ein Element staatlicher Sicherheitsvorsorge zu begreifen. Deshalb muss sie vom Staat, ihrem Auftraggeber, wissen, was er von ihr erwartet. Sie braucht für unternehmerisches Handeln Planungssicherheit. Das muss die Politik beachten.
Internationale Politik 7, Juli 2003, S. 42 - 44