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01. Febr. 2004

Parasiten des Zorns

Wie Al Khaïda neue Akteure rekrutiert

Selbstmordanschläge, bei denen sich der Täter selbst opfert, sind besonders spektakuläre Formen
des Terrorismus. Der Islamwissenschaftler und Journalist Christoph Reuter untersucht Genese
und Weiterentwicklung dieser Kampfform und kommt zu dem Schluss, dass vor allem die USA
das Phänomen bisher nicht verstanden haben und daher eine falsche Gegenstrategie anwenden.

Absolut entschlossene Selbstmordattentäter sind selten für ein mehrstündiges Interview zu bekommen. Schon gar nicht, nachdem sie ihren Willen zur Tat unter Beweis gestellt haben. Insofern war es eine seltene Gelegenheit, im März vergangenen Jahres in Nordirak auf Qais Ibrahim Qadir zu stoßen: einen Mann Ende 20, der mit glühender Begeisterung schwor, Mitglied von Al Khaïda zu sein, unbedingt und sofort töten sowie sterben zu wollen. Was ihm beides zu der Zeit nicht möglich war, da er als einziger einen Selbstmordanschlag auf den Premier der kurdischen Provinzregierung im Ostteil der einstigen Autonomiezone überlebte und seither im schwer bewachten „Sicherheitsgefängnis“ von Suleimaniye einsitzt.

Qadir ist ein überaus höflicher, belesener Mensch. Er hat Zeit, also nahm er sich fünf Stunden, seinem Besucher zu erklären, warum er nicht nur sich, sondern auch weite Teile der Menschheit umbringen möchte: „Es geht nicht nur ums Paradies für mich. Wir müssen die Welt reinigen!“ Ausführlich erläuterte er die verschiedenen Kategorien von Ungläubigen, systematisiert nach A, B und C, die erklärten Feinde des Islams, die abgefallenen Muslime und die schlicht noch nicht Bekehrten, deren Tod nicht gewünscht, aber auch nicht allzu verwerflich sei. Jedes koranische Argument, dass es untersagt sei, Unschuldige zu töten, konterte er mit einem Gegenargument. Als die Unterredung zu Ende war, bedankte er sich dafür, sie auf arabisch geführt zu haben, „wirklich, es war mir eine Freude!“ Auf die Frage aber, wieso er dann auch seinem Gegenüber immer noch nach dem Leben trachte, lächelte er freundlich, öffnete in einer Geste des Bedauerns die Arme und entschuldigte sich: „Es tut mir Leid, aber du musst verstehen: Wir sind im Krieg!“

Es geht um die Reinigung der Welt, um die Vernichtung der Verderbnis, denn nur auf reinem Grund könne Gottes Reich neu auferstehen, errichtet von den wahrhaft Gläubigen. Nur selten sagt das einer der Täter so offen, zumal in Irak. Dort, mitten hinein in den ohnehin diffusen Kampf diverser Milizen gegeneinander und gegen die amerikanischen Besatzer sowie ihre Hilfstruppen, scheint seit August vergangenen Jahres das Grauen hereingebrochen zu sein: erst die zwei Selbstmordattentate auf das UN-Hauptquartier, im September jenes auf Schiitenführer Hakim vor dem Schrein des Imam Ali in Nadschaf, Ende Oktober dann eine konzertierte Anschlagswelle auf das Hauptquartier des Roten Kreuzes sowie fünf Polizeistationen in Bagdad, im November auf das Hauptquartier der italienischen Carabinieri im südirakischen Nassriya und seither rund ein Dutzend weitere auf Polizeistationen und zivile Ziele im ganzen Land. Die Attentäter schießen nicht und legen keine ferngezündeten Bomben, sondern wollen sich partout selbst mit umbringen, rasen mit sprengstoffbepackten Lieferwagen direkt in die Gebäude. Und das nicht allein, sondern zu zweit, zu dritt.

Nur wenig allerdings ist über die Männer bekannt, außer dass es sich um radikale Sunniten und oft um in Irak eingesickerte Ausländer wie Jemeniten, Ägypter, Syrer handelt, die der Ideologie Osama Bin Ladens folgen – ohne, dass eine organisatorische Verbindung zu Al Khaïda zu belegen wäre.1

Vorbeugende Invasion

Den Terror der Gefolgsleute Bin Ladens wollten die Amerikaner mit ihrer „vorbeugenden“ Invasion in Irak im Keim ersticken. Stattdessen haben sie ihn erst entfesselt. Nicht mit Absicht, auch wenn ihnen viele Iraker mit Hang zu Verschwörungstheorien dies unterstellen, sondern, weil sie durch ihren Einmarsch perfekte Bedingungen geschaffen haben: ungläubige Besatzer auf islamischer Erde, offene Grenzen, Anarchie im Landesinnern. Ein großartiger Nährboden für die Sektennomaden Bin Ladens.

Die amerikanische Regierung hatte schon nach dem 11. September 2001 die Natur ihres Gegners nicht begriffen – oder nicht begreifen wollen, denn wie soll man gegen „das Böse“ (George W. Bush) kämpfen, wenn das Böse keine Adresse, kein Hauptquartier und kein Interesse an der offenen Feldschlacht besitzt? Wenn sich die Erkenntnis durchsetzt, dass eine kleine Gruppe zum Selbstmordattentat Entschlossener lediglich ein, zwei Jahre Durchhaltewillen und eine Summe zwischen 100 000 und einer halben Million Dollar benötigt, um den größten Terroranschlag der Geschichte zu verüben?

Krieg kann man Nationen erklären – klar umrissenen Gegnern. All das stand aber höchstens bedingt zur Verfügung, sofern man die Gewaltherrschaft der Taliban und der Al-Khaïda-Freischärler über weite Teile Afghanistans überhaupt als Nation ansieht. Der darauf folgende Feldzug der USA gegen Saddam Hussein im Frühjahr 2003 wiederum war zwar eine konventionelle Begegnung nach den gültig geglaubten Regeln des Krieges: Staat gegen Staat, Armee gegen Armee. Nur Al Khaïda, der eigentlich ursprünglich gesuchte Gegner, war in Irak gar nicht zu treffen: Weder Osama Bin Laden noch Saddam Hussein hatten ein Interesse an einer Kooperation – allen gegenteiligen Behauptungen der amerikanischen Regierung zum Trotz.2

Nun hingegen hat Bin Laden selbst bereits über den arabischen Fernsehsender Al Dschasiradie Seinen aufgefordert: „Zieht los und zeigt eure Muskeln!“ Irak ist zum neuen Mekka der nihilistischen Glaubenskämpfer geworden, hat im Dschihad-Ranking Tschetschenien und Kaschmir überholt. Selbst aus Frankreich und Großbritannien melden Geheimdienste einen Exodus in Richtung Bagdad. Auch vor der Berliner Al-Nur-Moschee, wo früher für den Kampf in Tschetschenien und Palästina gesammelt wurde, wird die Kollekte mittlerweile im Namen des irakischen Dschihad erhoben.3 George W. Bush möchte den Krieg gegen die Terrorsektierer in Irak führen? Er kann ihn haben, ist ihre Botschaft. Sie kommen gern.

Eine ganze Schar von Mohammed Attas scheint auf dem Weg zu sein: Mehrere hundert bis mehrere tausend ausländische Dschihadisten vermuten amerikanische Regierungsexperten und irakische Ermittler im Land. Aus Iran sickern angeblich die Überlebenden des Al-Khaïda-Ablegers Ansar al-Islam ein, die im Krieg aus ihrem kurdischen Refugium vertrieben wurden. Allein aus Saudi-Arabien sollen mehr als tausend Radikale bereits durch die Wüste gekommen sein – über eine Grenze, die kaum zu kontrollieren ist, denn auf beiden Seiten leben die Clans vom mächtigen Stamm der Shammar. Seit saudische Geheimdienste und Militärs auch noch den Druck auf die eigenen Extremisten erhöhen, fliehen viele von ihnen ins besetzte, aber nicht beherrschte Nachbarland, finden Unterschlupf in kleinen Städten oder lagern wie Nomaden in der Wüste.

Vorbilder statt Chefs

In Irak, aber längst nicht nur dort, zeigt sich, wie wenig Al Khaïda mit militärischen Feldzügen beizukommen ist. Die Dschihadisten sind längst weiter als ihre Verfolger und jene, die Osama Bin Laden immer noch als „Chef des Terrornetzwerks Al Khaïda“ bezeichnen. Denn dieser Terror braucht kein Netz mehr und schon gar keinen Chef. Er braucht einen Glauben, eine Mission und Vorbilder – alles im Übermaß vorhanden. Einer ihrer Theoretiker, der Libyer Numan Bin Uthman, schrieb es unlängst selbst: „Die Dschihad-Bewegungen in aller Welt brauchen Bin Laden nicht mehr. Er hat seine Rolle erfüllt, die Ideologie der zweiten Generation zu festigen!“4

Dies würde auch jenes „Al-Khaïda-Paradoxon“ erklären, vor dem amerikanische und europäische Geheimdienste stehen: „Wir unterbinden fortwährend Al-Khaïda-Aktivitäten und nehmen mehr und mehr ihrer Führer fest, aber die Anschläge nehmen trotzdem zu“, stellte ein Terrorismusexperte vergangenen November fest: „Es gibt immer weniger Anführer – aber immer mehr Gefolgsleute.“5 Vor allem mit ihren militärischen Kampagnen gegen echte oder vermeintliche Islamisten, angereichert mit dem Vokabular christlicher Missionare, schaffen die USA erst jenes Potenzial gewaltbereiter Gegner, die sie doch bekämpfen wollen.

Ihre – zumindest zeitweilige – Vertreibung aus Afghanistan hat die Gefolgsleute Bin Ladens eben nicht besiegt, sondern in den Untergrund getrieben und die Gefahr weltweit verteilt. Was dieses Netzwerk so gefährlich macht, ist seine Fähigkeit, zwei Existenzformen militanter Gruppierungen auf brillante, diabolische Art und Weise miteinander zu kombinieren: denn einerseits ist Al Khaïda in der Art ihrer vollkommen realitätsabgewandten Weltsicht, ihrer Ergebenheit und Losgelöstheit von realen Konflikten eine Sekte. Andererseits bezieht sie immer neues Personal und Mobilisierungspotenzial aus ganz realen Konfliktherden. Wie ein Parasit bewegt sie sich zwischen den Konflikten in der islamischen Welt und besiedelt diese wie ein Wirtstier.

McDonald’s des Terrors

Dabei funktioniert Al Khaïda im Grunde nicht anders als McDonald’s: nach dem Franchise-System. Wo immer (sunnitische) Muslime sich in kämpfenden Gruppen organisieren, ob gegen ausländische, „ungläubige“ Besatzungsmächte, ob gegen muslimische Regierungen oder sogar nur gegen ihre schiitischen Nachbarn, infiltrieren Al-Khaïda-Männer und tauschen ihr Know-how in Sachen Bombenbau, Giftherstellung, Kriegsführung, ihre finanzielle Hilfe gegen Gefolgschaft. Dies hat in der Vergangenheit bereits in Kaschmir und Tschetschenien funktioniert, wo dieser Prozess allerdings noch Jahre brauchte. Doch seither sind – außer Irak – noch mehrere Fälle hinzugekommen, an denen sich exemplarisch die rasante Ausbreitung weniger der Organisation als der Handlungsmaxime von Al Khaïda zeigt: in Karatschi, Kurdistan, Marokko und der Türkei.

Dass Menschen in Karatschi für ihren Glauben ermordet werden, ist nichts Neues – aber es hat den Westen jahrelang nicht interessiert, denn bis zum Herbst 2001 beschränkten sich die lokalen Gruppen darauf, Muslime der jeweils anderen Glaubensrichtung zu massakrieren. Doch seit Oktober 2001 hat sich die Situation verändert: Erst wurden 16 Menschen in der „Amerikanischen Kirche“ im zentralpakistanischen Bahawalpur ermordet, dann starb der entführte amerikanische Journalist Daniel Pearl unter dem Messer seiner Kidnapper, und im Mai und Juni 2002 schließlich erschütterten zwei Selbstmordanschläge Karatschi: erst auf einen Bus voller französischer Ingenieure vor dem Sheraton-Hotel, einen Monat später auf das amerikanische Konsulat. Eine bislang unbekannte Gruppe namens „Al-Qanun“, das Gesetz, bekannte sich dazu.

Im Juli 2002 haben, so ein pakistanischer Geheimdienstler,6 ISI-Offiziere in einer bislang geheim gehaltenen Operation Scheich Ahmed Salim festgenommen, einen kenianischen Al-Khaïda-Offizier, der in New York angeklagt ist, weil er jenen Lastwagen gekauft haben soll, mit dem Selbstmordbomber 1998 den Anschlag auf die amerikanische Botschaft in Nairobi verübten. Salim war aus Afghanistan nach Karatschi geflohen und erzählte seinen Vernehmern, dass es Al Khaïda gelungen sei, Asif Ramzi, den Führer von Lashkar-e-Jhangvi, zu ihrem Werkzeug zu machen. Was ihnen dabei entgegenkam, war Ramzis dringende Suche nach Sponsoren, da er sich in einem internen Machtkampf durchsetzen wollte.7 Seine Gruppe, bislang berüchtigt für Todesschüsse aus fahrenden Autos, sei mit Selbstmordanschlägen vertraut gemacht, er selbst überredet worden, anstatt Schiiten fortan Ausländer umzubringen. Asif Ramzi stecke hinter den Anschlägen in Karatschi, so pakistanische Ermittler.

Ansar al-Islam in Irak

Weit stärker ins Interesse der Weltöffentlichkeit geriet ein anderer Brückenkopf von Al Khaïda: das kleine, äußerst abgelegene und unzugängliche Bergrefugium einer einstmals rein kurdischen Islamistengruppe im bis zum letzten Irak-Krieg autonomen Nordirak. Dort, direkt an der Grenze zu Iran in den Hawraman-Bergen, hatte sich die radikalste Gruppierung der kurdischen Islamisten unter dem Namen Jund al-Islam, die Armee des Islams, niedergelassen und lieferte sich gelegentliche Scharmützel mit den kurdischen Peshmerga-Kämpfern der in Ostkurdistan herrschenden Patriotischen Union Kurdistans (PUK).

Bis zum Oktober 2001: zeitgleich mit der Flucht Dutzender arabischer Afghanistan-Veteranen vor den amerikanischen Streitkräften ins kurdische Bergland änderte die Gruppe ihren Namen in den harmloser klingenden Namen Ansar al-Islam, Helfer des Islams – und begann einen mörderischen Kleinkrieg gegen die PUK. Zugleich errichteten sie wie in Afghanistan ihr rigides Gottesreich, verboten Alkohol, Musik und Amulette, stellten Mahnschilder zur Gottesfurcht auf und ließen Regelbrecher öffentlich auspeitschen. Anfang 2002 schließlich verübte Ansar nacheinander vier Selbstmordanschläge – was es in Irak noch nie gegeben hatte. Weitere Anschläge waren geplant, scheiterten aber an der mangelnden Entschlossenheit der jugendlichen Täter, die – anders als zum Beispiel bei Palästinensern – mit massivem Druck, Paradiesverheißungen und Drogen gefügig gemacht worden waren.

Recherchen des Autors in den Tagen nach der Eroberung des Ansar-Refugiums durch amerikanische Special Forces und kurdische Einheiten bestätigten, was zuvor gefangen genommene Ansar-Mitglieder8 bereits ausgesagt hatten: dass Ansar al-Islam von eingesickerten Afghanistan-Veteranen regelrecht geschaffen worden war. Schriften wie die Predigtensammlung von Ayman az-Zawahiri, der Nummer Zwei und Cheftheoretiker von Al Khaïda, Anleitungen zur Herstellung von biologischen und chemischen Giften sowie Sprengstoffen (nebst Funden der hergestellten Stoffe) waren zum Teil wortgleich mit in Afghanistan gefundenen9 , und Videos mit Kampfszenen aus Tschetschenien und Afghanistan hatten für Inspiration gesorgt. Dass Ansar sich dem Kampf gegen das „Weltjudentum“ verschworen, aber mit ihren Anschlägen nie über ihre feindlichen, muslimischen Nachbarn hinausgekommen war, bildete sozusagen die lokale Mutation der Neugründung. Sinn und Ziel der Bewegung waren weniger die Massenproduktion von Kampfstoffen als vielmehr Ausbildungskurse für Dschihadisten aus aller Welt: Die wurden hier in den eklektizistisch zusammengesuchten religiösen Grundlagen des Welt-Dschihads unterrichtet sowie darin, aus einfach erhältlichen Substanzen Sprengstoffe und Gifte herzustellen. Nur eine enge Verbindung zu Saddam Husseins Regime in Bagdad war entgegen amerikanischen Vorwürfen nicht zu belegen.

Von Pakistan bis Marokko

Als im Mai 2003 eine globale Anschlagsserie Ziele in Saudi-Arabien, Pakistan und Tschetschenien traf, griffen Attentäter am 12.Mai auch die marokkanische Wirtschaftskapitale Casablanca, ein Hotel, zwei jüdische Einrichtungen, das belgische Konsulat und die „Casa de España“ an, einen beliebten Treffpunkt für die etwa 2000 dort lebenden Spanier. Insgesamt starben 42 Menschen, darunter 13 Attentäter. König Mohammed VI. verurteilte die Anschläge sofort als „Werk eines internationalen Netzwerks des blinden Terrorismus“,10 und ideologisch gesehen werden die Täter ihre Ideologie aus dem Umfeld von Al Khaïda bezogen haben.

Was die Ermittlungen allerdings ergaben, zeigte vor allem, wie leicht es fällt, zum Terroristen zu werden: Alle Attentäter stammten aus Casablancas Slum Sidi Moumen; der Sprengstoff, Triaceton-Peroxid, ist leicht herzustellen aus handelsüblichen Ingredienzen wie u.a. Nagellackentferner. Die Anleitung dafür kursiert in Handbüchern, die sowohl in Afghanistan wie in der Ansar-Enklave in Irakisch-Kurdistan gefunden wurden und zwischenzeitlich sogar im Internet gestanden haben sollen.11 Die Attentäter kamen zu Fuß und sprengten sich, bis auf den Fall der Casa de España, am Eingang der angegriffenen Gebäude in die Luft, sobald ein Türsteher sich in den Weg stellte. Dass das jüdische Clubhaus am Freitagabend, dem beginnenden Sabbat, leer sein würde, haben sie offenbar nicht gewusst. Und auch der selbst ernannte „Emir“ der Gruppe, Miloudi Sakaria, hatte keine Terrorkarriere in Afghanistan oder Tschetschenien hinter sich, sondern sein Slum nie verlassen und als Lokalprediger eine kleine Gruppe von Jüngern um sich geschart – aber er war nachhaltig beeinflusst worden von einem Mann, der sich als Emissär Bin Ladens ausgegeben hatte.12

Im Herbst 2003 schließlich erschütterten zwei Doppelanschläge Istanbul, trafen erst zwei Synagogen und fünf Tage später das britische Konsulat und eine Bank. Als Hintermänner wurden mehrere Türken festgenommen, die zwar ideologisch ins Raster von Al Khaïda passen, deren tatsächliche Verbindungen aber vor allem damit belegt wurden, dass sich eine Art Ableger von Al Khaïda zu den letzten beiden Anschlägen bekannt habe: die „Abu-Hafiz-al-Masri-Brigaden“.13 Abu Hafiz war der „nom de guerre“ von Mohammed Atif, dem ehemaligen Militärchef der ersten Al-Khaïda-Generation, der während des Afghanistan-Krieges im November 2001 in einem Bombardement der amerikanischen Luftwaffe umgekommen war. Ein angebliches Mitglied der Brigaden erklärte: „Wir haben uns die britischen Interessen in der Türkei zum Angriffsziel genommen, um den Engländern zu schaden, die sich mit dem Islam im Krieg befinden.“14 Unwidersprochen kursierte die Bekennermeldung eine Weile in den Nachrichten, ungeachtet des Umstands, dass es keinerlei Belege für die tatsächliche Existenz dieser Gruppe gibt außer ihrer Bekenntnisfreude: So hatten sie auch schon im August 2003 die Verantwortung übernommen für die „Operation Quick Lighting in the Land of the Tyrants of this Generation“ – die Stromausfälle im Nordosten der USA und in Teilen Kanadas. Die Lahmlegung der Stromversorgung sei ein „Geschenk ans irakische Volk“, ausgeführt „auf Befehl Bin Ladens, um die Säulen der US-Wirtschaft zu treffen“.15 Pech nur, dass die maroden Netze von ganz allein kollabiert waren – was der Glaubwürdigkeit ihrer Bekennermails aber offensichtlich keinen Abbruch getan hat.

Als ob eine Flüssigkeit in den gasförmigen Aggregatzustand übergeht, immer schwerer fassbar und zugleich allgegenwärtiger wird, hat sich das, was als eine halbwegs fest gefügte, internationale Gruppierung unter Bin Ladens Führung seinen Stammsitz in Afghanistan hatte, heute über die islamische Welt verbreitet. Indem die Vernichtungsprediger und -praktiker von Al Khaïda bestehende Konfliktgegenden besiedeln, werden sie zu Parasiten des Zorns, der echt und begründet sein mag – aber der gar nicht aufgehoben, gelöst, sondern nur genutzt werden soll. Im nächsten Schritt bedarf die Verbreitung ihrer Ideologie gar keiner Emissäre mehr, sondern pflanzt sich selbsttätig fort – und verändert dabei den Charakter der Selbstmordanschläge, die ein gleichermaßen grausiger wie verlässlicher Indikator des globalen Dschihad sind.

Terror als Selbstzweck

Ging es (und geht es) den Hisbollah-Kommandos, Palästinensern und Tschetschenen noch um konkrete Ziele, einen Rückhalt in der eigenen Bevölkerung und ein klares Bekenntnis zu ihren Anschlägen, so ist Al Khaïda in den neunziger Jahren zum wahllosen Terror gegen Zivilisten sowohl in westlichen wie in islamischen Ländern übergegangen. Und hat nun im Irak das Selbstmordattentat geradezu zur „raison d’être“ ihrer Anhänger werden lassen: Es gibt keine – glaubwürdigen – Bekennerschreiben, niemand weiß, wer genau hinter den mittlerweile Dutzenden Selbstmordanschlägen steckt, und erst recht gibt es keine erklärten Programme. Summiert man die Anschlagsorte – UN-Hauptquartier, schiitischer Schrein, Rotes Kreuz, Polizeistationen –, so ergibt sich folgendes Bild: Zerstört werden soll alles, was einer neuen irakischen Ordnung auch und gerade jenseits der amerikanischen Besatzung Legitimität geben könnte.

Denn angegriffen werden gerade nicht die Amerikaner, sondern jene Institutionen, die den Rahmen für eine friedliche und autonome Stabilisierung böten. Damit unterscheiden sich die Selbstmordanschläge nicht nur von den Anschlägen der alten Saddam-Loyalisten und neuen Nationalisten auf die Amerikaner – sie laufen deren Zielen zuwider, verlagern das Ressentiment der Bevölkerung von den amerikanischen Truppen auf die Islamisten.

Diese Unterscheidung geht leicht unter in der medialen Wahrnehmung Iraks als Mutter aller Anschläge, wo tagtäglich irgendwer irgendwen in die Luft sprengt. Von den Irakern hingegen wird sehr genau unterschieden und ausländischen Arabern mittlerweile mit größtem Misstrauen begegnet. Plausible Intention der Selbstmordanschläge ist kein friedlicher, irakischer Staat ohne Besatzer, sondern sind Bürgerkrieg und Anarchie. Jener Zustand, der Bin Ladens Jüngern den günstigsten Nährboden bietet für ihren globalen Dschihad, der sich weder in einem demokratischen Umfeld durchsetzen könnte noch unter einer Diktatur mit ihren Überwachungsmechanismen gedeihen kann.

Was dabei die Perspektiven der einzelnen Attentäter betrifft, so zeichnet sich ebenfalls ein gravierender Wandel ab: Während palästinensische Selbstmordbomber wissen, dass sie binnen Stunden von der PR-Maschinerie ihrer Bewegung zu weltweit bekannten und daheim verehrten Helden gemacht werden, ihr Videotestament im Fernsehen ausgestrahlt wird, ihr Bild als Poster an den Mauern klebt, ihr Namenszug als Graffito gesprüht wird und ihr Angedenken bewahrt wird, so verschwinden die Attentäter, die sich in Irak selbst sprengen, im Nichts. Ebenso wenig wie von ihrem Körper bleibt etwas von ihrer Identität; niemand preist ihre Namen, und oft gewährt nicht einmal das Ausmaß ihrer Tat die Aussicht auf öffentliches Erinnern. Bis heute ist der Anschlag auf das Hauptquartier der US-Marines in Beirut im Oktober 1983 im kollektiven Weltgedächtnis präsent, als 241 Soldaten starben. Aber wer erinnert sich, so er überhaupt davon erfahren hat, an den Anschlag auf eine Straßenkreuzung in Kirkuk oder eine dörfliche Polizeiwache nahe dem Ort Baquba im November 2003?

Dass das Ziel eines größtmöglichen Anschlags den Weg der Selbstopferung rechtfertigt, wie es für den 11.September noch nahe liegt, scheint sich schrittweise umzukehren: Hauptsache, man sprengt sich und irgendwen anders in die Luft, egal wen, egal wofür. Aus dem Kampf für ein Ziel ist ein Kult geworden, der sich selbst nährt: Selbstmordanschläge sind nicht mehr Mittel zum Zweck, sondern Selbstzweck geworden, Freifahrtscheine ins Paradies, aber vor allem die Erfüllung des eigenen Lebens – so absurd dies auch klingen mag. Aber es funktioniert mit Qais Ibrahim Qadir, dem gefangenen Kurden, es hat funktioniert mit den Slumbewohnern von Casablanca und Tausenden anderen, deren Zugehörigkeit zum Sektenwesen von Al Khaïda für ihr Leben zwar ein rasches Ende, zuvor aber eine enorme Aufwertung bedeutet: von einem Niemand zum Mitglied in der Eliteeinheit Gottes zu werden, einem der Erwählten, der sich im Besitz des wahren Islams weiß.

„Gewinnen oder verlieren wir den globalen Kampf gegen den Terror?“, fragte unlängst der amerikanische Verteidigungsminister Donald Rumsfeld in einem Memorandum und hat immer noch nicht begriffen, dass diese Frage ihm auch von Bin Laden hätte souffliert sein können. Denn jene, die den eigenen Tod als Teil ihrer Operation verstehen, denken und handeln nicht in den Kategorien von Sieg oder Niederlage. Einen Sieg wird es für sie nicht geben – aber auch keine Niederlage im herkömmlichen Sinn. Denn wo jeder eigene Märtyrer als Erfolg gefeiert wird, lässt es sich schwerlich verlieren. Goldene Zeiten also für eine Ausweitung der Kampfzone.

Anmerkungen

1 Bei mehreren Anschlägen auf Polizeistationen in Bagdad wurden einer der Attentäter lebendig gefasst, ein Jemenit mit syrischen Papieren, sowie Ausweispapiere eines Ägypters und eines Syrers gefunden. Zu einem der Anschläge auf das UN-Hauptquartier bekannten sich die Abu-Hafiz-al-Masri-Brigaden, deren Urheberschaft unbewiesen und zweifelhaft ist. Auch die Vermutung vieler Geheimdienstler, die im März 2003 aus ihrem Refugium im Norden des vormals autonomen kurdischen Nordirak vertriebene Gruppe Ansar al-Islam stecke hinter den Anschlägen, ist nicht erwiesen.

2 Vollends ad absurdum geführt wurden die amerikanischen Anschuldigungen einer engen Kooperation Saddam Husseins mit Al Khaïda Mitte Januar 2004, als nach der Festnahme Husseins ein von ihm geschriebenes Dokument ausgerechnet in seinem Besitz auftauchte, in dem er seine Anhänger ausdrücklich vor einer Zusammenarbeit mit den Dschihadisten warnte, da diese den Kampf in Irak nur für ihren globalen Dschihad nützen würden, während es doch sein Ziel sei, die Macht in Bagdad zurückzugewinnen, vgl. New York Times (NYT), 15.1.2004. Schon zuvor hatte der festgenommene Ramzi Binalshib, einer der Chefplaner der Anschläge vom 11.9.2001, seinen Vernehmern gegenüber ausgesagt, dass Osama Bin Laden alle Ansinnen seiner Militärführer zurückgewiesen hatte, die ihrerseits enger mit dem irakischen Regime Saddam Husseins kooperieren wollten.

3 Vgl. Don Van Natta jr. und Desmond Butler, „Calls to Jihad are Said to Lure Hundreds of Militants into Iraq“, in: NYT, 1.11.2003.

4 Bin Uthmans Zitat, das zuvor in den Moscheen von Khost in Ostafghanistan kursierte, wurde im islamistischen Web-Forum „Ushag al-Dschihad“ (die Verehrer des Dschihad) veröffentlicht, zitiert aus: Reuven Paz (Hrsg.), The Endless Global Jihad: Are They Looking for the Post-Bin-Laden Ära?“, Project for the Research of Islamist Movements (PRISM), Nr. 3, März 2003, S.5, Global Research in International Affairs (GLORIA), Herzliya, Israel.

5 Vgl. Douglas Jehl und Don Van Natta jr., A Weaker Al Khaida Despite Attacks, in: NYT, 22.11.2003.

6 Vgl. The Guardian, 4.9.2002.

7 Vgl. Pepe Escobar, Pakistan in the Shadow of Terror, zitiert nach The Guardian, 4.9.2002.

8 Im Verlauf mehrerer Wochen konnte der Autor mehrstündige Interviews im Geheimdienstgefängnis der PUK in Suleimaniye führen, darunter mit dem bekennenden Al-Khaïda-Kader Qais Ibrahim Qadir, mit dem ehemaligen irakischen Geheimdienstmitarbeiter Abderrahman asch-Schammari, der jahrelang bei Ansar gelebt hatte, sowie mit zwei ausgesandten Selbstmordattentätern, die sich kurz vor Ausführung ihrer Mission aus Furcht stellten, aber ihre Namen nicht nennen wollten.

9 Interview mit Al-Khaïda-Experten eines westlichen Nachrichtendienstes.

10 Vgl. Süddeutsche Zeitung, 19.5.2003.

11 Eigenfund im Ansar-Gebiet sowie Interviews mit deutschen Al-Khaïda-Ermittlern.

12 Vgl. Reinhard Schulze, „Ein Leben für den Dschihad“, in: die tageszeitung, 2.12.2003.

13 Vgl. Turkey Update (Center for Strategic and International Studies, Washington, DC), 3.12.2003.

14 Vgl. Der fromme Weltkrieg, in: Der Spiegel, Nr.48/2003, 24.11.2003, S. 128 ff., hier S. 132.

15 Vgl. Al-Qa’ida Claims Responsibility for Last Week’s Blackout, Special Dispatch Series, Nr. 553, 19.8.2003, The Middle East Media Research Institute (Memri).

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, Februar 2004, S. 12‑20

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