Internationale Presse

01. Jan. 2013

Pakistans 1001 Krisen

... und ein Hoffnungszeichen: Erstmals stehen turnusgemäße Neuwahlen an

Pakistan ist ein Land, in dem immer alles mit allem in Verbindung zu stehen scheint. Wenn man zu einem beliebigen Zeitpunkt in Pakistan eine Zeitung aufschlägt, liest man stets über eine Reihe von Krisen, die ihren Ursprung weit in der Vergangenheit haben und nur aus dieser heraus verständlich sind.

Zugleich lassen sich alle Krisen als Variationen derselben Probleme beschreiben, die dem südasiatischen Land quasi als Geburtsfehler anhaften und die auch mehr als 60 Jahre nach der Gründung noch immer einer Lösung harren.

Selbst positive Entwicklungen entpuppen sich bei genauerem Hinsehen als neue Varianten der alten Probleme. Wie eine tragische Scheherazade scheint Pakistan nur durch seine Krisen am Leben zu bleiben. Hier also eine weitere Episode.

Während die von der Pakistan People’s Party (PPP) geführte Regierung zur allgemeinen Verwunderung auf bestem Wege ist, als erste in der Geschichte des Landes im März kommenden Jahres ihre volle Amtszeit von fünf Jahren zu beenden, jagen seit Monaten wechselnde Gerüchte über den Zeitpunkt der Neuwahlen 2013 durch die Presse. Noch Anfang 2012 wurde regelmäßig über vorgezogene Neuwahlen spekuliert. Im November hieß es auf einmal, ganz im Gegenteil könnten diese wegen der schlechten Sicherheitslage verschoben werden.

Ende November bemühte sich die Wahlkommission (ECP), für Klarheit zu sorgen, und erklärte auf einer Pressekonferenz, dass die Wahlen planmäßig abgehalten werden. Die Express Tribune begrüßt diesen Schritt: „Das sind gute Nachrichten“, schrieb das liberale Blatt am 29. November. „Unsere Demokratie braucht Regelmäßigkeit, Ordnung und ein Ende der Instabilität.“

Stabilität: ein frommer Wunsch

Doch von all dem ist Pakistan nach wie vor weit entfernt. Obwohl das Militär unter Oberbefehlshaber General Ashfaq Kayani nicht die Absicht zu haben scheint, wie so oft in der Vergangenheit in den politischen Prozess einzugreifen oder gar durch einen Putsch für „Ordnung“ zu sorgen, ist Stabilität wenig mehr als ein frommer Wunsch.

Dies wurde besonders durch das Taliban-Attentat auf die 15-jährige Schülerin Malala Yousufzai aus Mingora im Swat-Tal deutlich, das auch in den westlichen Medien viel Aufmerksamkeit fand. Stellvertretend für viele in Pakistan veröffentlichte das Centre for Research and Security Studies (CRSS), ein unabhängiger Think-Tank in Islamabad, folgende Stellungnahme: „Das CRSS hofft, dass dieses Ereignis zu einer umfassenden und unmissverständlichen Änderung der Verteidigungsspolitik führen wird, die der Sicherheitsapparat bis vor Kurzem verfolgt hat. Ohne eine eindeutige Position zu den verschiedenen radikalen militanten Gruppen, die unter dem Namen Taliban firmieren, wird es sehr schwer, der monströsen Militanz Einhalt zu gebieten.“

Doch der Wunsch, dass ein einzelnes Ereignis eine problematische Entwicklung von mehreren Jahrzehnten ungeschehen machen kann, hat sich als illusorisch erwiesen. In den Aufschrei über den Mordversuch an dem Schulmädchen mischten sich schnell auch wieder Relativierungen.

„Das Nachspiel des Angriffs auf Malala erinnert uns daran, dass große Teile der pakistanischen Bevölkerung Sympathie für die Sache der Taliban hegen“, schreibt Sehar Tariq im Oktober für das Jinnah Institute, einen linksliberalen Think-Tank. „Sie mögen es befürworten, dass Malalas Attentäter bestraft werden, aber sie unterstützen kein weiteres Vorgehen gegen die Ideologie, die den Angriff auf ein unbewaffnetes Schulmädchen rechtfertigt, weil sie sich der verdrehten Interpretation religiöser Erlasse widersetzt.“

Die Instrumentalisierung militanter Kräfte durch das Militär und die daraus resultierende Radikalisierung der Bevölkerung haben dazu beigetragen, dass weite Teile des Landes der Kontrolle durch die Regierung entglitten sind. Malalas Heimat Swat und die Provinz Khyber Pakhtunkhwa an der Grenze zu Afghanistan sind teilweise in die Hände der Taliban gefallen; die Wirtschaftsmetropole Karatschi wird von endloser Gewalt heimgesucht; Mafiagruppen und politische Parteien sind sich dabei einander zum Verwechseln ähnlich. Auch die Provinz Balutschistan wird allem Anschein nach von niemandem mehr regiert.

„Jede politische Partei (in Karatschi) hat einen militanten Flügel, mit dem sie Stärke durch Waffen und Straßenkriminalität zur Schau stellt. Auftragsmorde sind zur täglichen Routine geworden. Niemand fühlt sich sicher in dieser Stadt mit 23 Millionen Einwohnern“, schrieb der Blogger Sami Qureshi am 28. November 2012. Doch es könnte genauso gut mit Bezug auf eine der anderen Krisen gesagt werden, die Karatschi, Pakistans Wirtschaftsmetropole und Hauptstadt der Provinz Sindh, seit den siebziger Jahren periodisch heimsuchen.

Begrenzte Handlungsspielräume

Dabei gibt die PPP-geführte Regierung kein gutes Bild ab. Ihr Handlungsspielraum in Karatschi ist begrenzt, da der Bandenkampf derzeit zwischen Parteien tobt, die sie zur Aufrechterhaltung ihrer Regierungskoalition braucht: der paschtunisch dominierten Awami National Party (ANP), einem Koalitionspartner, und dem Muttahida Quami Movement (MQM), das noch bis vor Kurzem der Koalition angehörte und für die Bildung zukünftiger Regierungen eine Schlüsselrolle spielen könnte.

Nicht zuletzt aus diesem Grund fiel es Armeechef Kayani kürzlich leicht, den Ruf nach einer Militärintervention in Karatschi zurückzuweisen. Warum auch sollte er der ungeliebten Regierung eine schwer lösbare Aufgabe abnehmen?

Doch das Problem ist damit natürlich noch nicht komplex genug. Das MQM ist nicht nur der politische Platzhirsch in Karatschi, sondern wird auch von „Mohajirs“ dominiert, jenen Muslimen, die bei der blutigen Teilung Indiens 1947 vom heutigen Nordindien nach Pakistan einwanderten – womit der Konflikt eine dezidiert ethnische Dimension bekommt. In Karatschi herrschen Spannungen zwischen eingewanderten Paschtunen und Mohajirs sowie heimischen Sindhern, die das Gefühl haben, aus „ihrer“ Stadt verdrängt zu werden.

Ungerechte Verteilung

Auch der Balutschistan-Konflikt, der derzeit einen neuerlichen Höhepunkt erreicht hat, ist Ergebnis einer misslungenen Staatsbildung, bei der sich nicht nur ethnische Gruppen, sondern eine ganze Provinz vom pakistanischen Staat nicht ausreichend vertreten fühlt. „Bei dem Konflikt in Balu-tschistan geht es im Kern um die ungerechte Verteilung von Vermögen und den Einkünften aus Ressourcen – und um Autonomiebestrebungen. Als Resultat hat sich bei einer breiten Masse von Balutschen das Gefühl eingestellt, enteignet worden zu sein. Zahllose Auftragsmorde und eine Serie von Entführungen haben vielen Menschen in Balutschistan weiteres Leid zugefügt“, fasste die Tageszeitung The News im November das Problem zusammen. Dabei sei die derzeitige balutschische Provinzregierung unter Ministerpräsident Nawab Aslam Raisani (PPP) „völlig unfähig“. Die Regierungskrise habe die bestehenden Probleme durch wuchernde Korruption und eklatante Missachtung von Recht und Gesetz verschärft.

Hier kommt nun das Oberste Gericht ins Spiel – und das ist tatsächlich eine neuere Entwicklung. Während dieses lange Zeit wenig mehr war als ein Handlanger des Militärs, hat es sich unter dem Obersten Richter Iftikhar Chaudhury zu einem eigenständigen politischen Spieler entwickelt, der immer öfter durch spektakuläre Urteile in den politischen Prozess eingreift. Dabei ist noch unklar, was dies für das Institutionengefüge in Pakistan bedeutet, das sich infolge der verhältnismäßigen Schwäche des Militärs und Chaudhurys Aktivismus derzeit neu arrangiert.

Im Fall von Balutschistan kam das Oberste Gericht kürzlich zu der Einschätzung, dass die Provinzregierung von Ministerpräsident Raisani ihre Macht verloren habe und nicht mehr in der Lage sei, ihre verfassungsmäßige Aufgabe wahrzunehmen und Menschenrechtsverletzungen, Auftragsmorde und Entführungen einzudämmen. Noch höhere Wellen schlug das Urteil im so genannten „Asghar-Khan-Prozess“. Darin stellte das Gericht fest, dass der pakistanische Geheimdienst Inter-Services Intelligence (ISI) die Wahlen von 1990 durch massive Bestechung beeinflusst hat. Das Gericht wies die Regierung an, den früheren Armeechef Aslam Beg und Ex-ISI-Chef Asad Durrani dafür zur Verantwortung zu ziehen. Durrani ist hierzulande kein Unbekannter, er war bis 1997 Pakistans Botschafter in Deutschland.

Machtspiele

Während das Urteil in den Medien fast einstimmig begrüßt wurde, warnte I. A. Rehman, der Vorsitzende der pakistanischen Menschenrechtskommission (HRCP), in einem Artikel für die linksliberale Tageszeitung Dawn: „Objektiv hätte das Gerichtsurteil zu einer Stärkung der demokratischen Institutionen gegenüber allen außer-verfassungsmäßigen Anfeindungen führen sollen. Aber es ist unwahrscheinlich, dass dies passiert, weil die relevanten politischen Parteien mehr an ihren Machtspielen interessiert sind als daran, eine geeinte Front gegen die Usurpatoren der Volksrechte zu bilden“ (25. Oktober).

Doch das mag nicht das einzige Problem sein. Denn Chaudhury, der Oberste Richter, setzte im Zuge des Urteils auch seinen Privatkrieg gegen Pakistans Präsidenten Asif Ali Zardari fort – mit dem Versuch, diesen bei den bevorstehenden Wahlen auf eine neu-trale Rolle zu beschränken, was im Rahmen der pakistanischen Verfassung eine problematische Interpreta-tion des Präsidentenamts ist.

Die Frage, wie viel Macht das Oberste Gericht in Pakistan haben kann und soll, ist derzeit noch offen. Dabei besteht kaum ein Zweifel daran, dass Zardari sich die meisten Schwierigkeiten selbst eingebrockt hat. Najam Sethi, einer der profiliertesten Journalisten Pakistans, bezeichnete den Präsidenten kürzlich als den „am meisten kritisierten Mann im Land“. Zardari, der Witwer der ehemaligen Premierministerin Benazir Bhutto, war 2008 nach dem Mord an seiner Frau auf einer Welle der Sympathie ins Amt gewählt worden, hat es jedoch nicht vermocht, auch nur eines der drängenden politischen Probleme des Landes annäherungsweise zu lösen.

„Bedauerlicherweise ist Zardari selbst Schuld an seinen Problemen“, schreibt Sethi in der Friday Times am 23. November. „Er hat es zugelassen, dass Karatschi, Balutschistan und die paschtunischen Stammesgebiete ins Chaos abgeglitten sind, ohne seine Koalitionspartner dazu zu bringen, sich zu einigen und sich auf die dringend benötigte gute Regierungsführung zu konzen-trieren. Auf diese Weise hat er zwar im Amt überlebt, aber die Macht verloren. Das Ergebnis ist ein Übermaß an Korruption und schlechter Regierungsführung, die ihn am Vorabend der Wahlen zum am meisten kritisierten Mann in Pakistan gemacht haben.“

Britta Petersen  leitet das Büro der  Heinrich Böll Stiftung in Islamabad.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/ Februar 2013, Seite 132-135

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