Notizen aus der Hölle
Buchkritik
Auch 14 Jahre nach Srebenica ringen die Kontrahenten noch um die Deutung der Ereignisse. Lässt sich das Unvorstellbare literarisch erfassen, juristisch aufarbeiten, wahrheitsgemäß deuten? Sechs Neuerscheinungen zu Ursachen und Folgen von Krieg und Völkermord im ehemaligen Jugoslawien – und zum schmerzhaften Aufarbeitungsprozess.
Im Juli 1995 rücken Soldaten der bosnisch-serbischen Armee unter dem Kommando von Ratko MladiŤ in die UN-Schutzzone Srebrenica vor. Sie sind gekommen, um zu töten. 8000 Jungen und Männer werden in den folgenden Tagen umgebracht. Ein Fanal maßloser Gewalt, ohne Beispiel in der Geschichte Europas seit dem Zweiten Weltkrieg; das Ende muslimischer Kultur im Osten Bosniens; ein Mahnmal des völligen Versagens der internationalen Gemeinschaft und ein Wendepunkt in der Geschichte des Völkerrechts. Zwei aktuelle Erfahrungsberichte beschäftigen sich mit Srebrenica und den Folgen. Die Bücher könnten nicht unterschiedlicher sein. Gerade deswegen lohnt es sich, sie parallel zu lesen.
Der Srebrenica-Überlebende Emir Suljagic verarbeitet in seinem Buch das während der Belagerung Erlebte. Suljagic war mit seiner Familie im Sommer 1992 wie viele Bosniaken aus dem östlichen Bosnien nach Srebrenica geflohen. Das Leben in den Dörfern war für die Muslime zum Albtraum geworden. Was folgt, sind drei nicht weniger albtraumhafte Jahre in Srebrenica. Früh wurde Suljagic von den Blauhelmen als Dolmetscher angestellt. Das macht ihn zu einem Augenzeugen, der nicht nur das immer bedrückendere Leben mit den übrigen Belagerten teilte, sondern der auch Zugang zu den obersten Entscheidungsebenen der Verteidiger und der in der Stadt stationierten Blauhelme hatte.
In weiten Teilen will das Buch nicht mehr und nicht weniger sein als ein Memento mori für Freunde und Nahestehende des Autors, dicht und auf literarisch anspruchsvollem Niveau erzählt. Gleichzeitig seziert Suljagic detailliert das Innenleben der belagerten Stadt und schildert die Verelendung und Verrohung der Eingeschlossenen. Er stellt nicht in Frage, dass es bei den verzweifelten Versuchen, an Lebensmittel zu gelangen, zu Verbrechen in der Stadt, aber auch gegen die Einwohner umliegender serbischer Ortschaften kam. Schwer erträglich sind die Beschreibungen der Alltäglichkeit des Todes und der unsäglichen, zum Teil grotesken Grausamkeiten der serbischen Belagerer – oftmals ehemalige Nachbarn und Bekannte.
Er zeichnet ein beängstigendes Psychogramm der zwischen Hoffen und Bangen eingekeilten Stadtoberen, die immer paranoider auf ihre Umwelt reagieren. Minutiös beschreibt er die Ereignisse vom Juli 1995: Die sich um die Blauhelmbasis in Potocari drängenden Menschen, die völlig kopflos und unmenschlich bürokratisch agierende Führung der niederländischen Blauhelme, zuletzt eine wie im Delirium erlebte Begegnung mit dem sich zum Herr über Leben und Tod aufspielenden Ratko Mladic.
Suljagics Buch ist ein wertvolles Zeitdokument. Lesenswert ist aber auch der ihm beigestellte Essay von Michael Martens, Berichterstatter der FAZ in der Region. Martens zeigt, dass Srebrenica auch heute noch umkämpft ist. Nach wie vor ringen die Kontrahenten um die Deutung des Geschehens. Noch gibt es die, die nicht wahr haben wollen, dass in Srebrenica ein von langer Hand vorbereitetes Völkermordverbrechen stattfand. Dümmliche Aufrechnungen und falsche Tatsachenbehauptungen werden auch heute noch von angeblichen Freunden des serbischen Volkes ins Feld geführt. Sie täten besser daran, sich der Wahrheit zu stellen.
Der Kampf um Tatsachen ist auch Leitmotiv von Carla del Ponte. Acht Jahre diente die schweizerische Juristin als Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien und des Ruanda-Tribunals. Auch sie legt einen subjektiven Bericht vor. Wer jedoch bedeutungsschwangere Einblicke in das Seelenleben der Juristin erwartet, ist fehl am Platz. Minutiös und in unzähligen detailversessenen Gesprächsprotokollen berichtet del Ponte von ihrem Bemühen, Angeklagte vor Gericht zu bringen. Ihre Gesprächspartner sind dabei nicht nur widerständige Staatschefs und Regierungsmitglieder Serbiens und anderer Überbleibsel Jugoslawiens. Es sind auch und vor allem die Führer der westlichen Staaten, die ihr Steine in den Weg legen oder sie nur zögerlich unterstützen. Realpolitik ist del Pontes Sache nicht. Meinungsstark sortiert sie die politischen Akteure, denen sie im Laufe ihrer Arbeit begegnet, nach Gut und Böse. Auf der Seite der Gerechten stehen Ivo Sanader und Zoran Gingic, aber auch Olli Rehn und Colin Powell. Auf der Gegenseite stehen Vojislav Kostunica, Jacques Chirac und George Tenet.
Das Buch del Pontes ist eine unmissverständliche Anklageschrift: Soll das internationale Recht sich auf dem einmal eingeschlagenen Weg fortentwickeln und in Zukunft politischen und militärischen Irrläufern schon im Vorhinein signalisieren, dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit persönlich zur Rechenschaft gezogen werden, müssen beide Tribunale erfolgreich sein. Gerade die demokratischen Staaten müssen die Tribunale daher ohne Wenn und Aber unterstützen. Das taten sie allerdings während del Pontes Amtszeit oft nicht.
Vieles bleibt aufgrund der Zuspitzung auf die Frage nach der Kooperationsbereitschaft mit dem Tribunal holzschnittartig. Dennoch legt del Ponte etliche Spuren aus, die auch heute noch zu Nachfragen anregen sollten: irritierend das ständige Lavieren der EU gegenüber Kroatien und Serbien in der Kooperationsfrage mit dem Tribunal; haarsträubend die rechtsfreie Situation, die nach dem Einmarsch der von der NATO geführten Truppen im Kosovo herrschte; skandalös die Obstruktionspolitik der UNMIK unter Søren Jessen-Petersen gegen die Ermittlungen des Tribunals gegen führende Köpfe der UÇK.
Will man mehr über die politischen und sozialen Entwicklungen in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens erfahren, muss man jedoch zu anderer Literatur greifen. Zwei aktuelle Aufsatzsammlungen rücken Serbien ins Blickfeld. Der von Jens Becker und Achim Engelberg herausgegebene Band „Serbien nach den Kriegen“ bietet elf Analysen aus vorwiegend serbischer Feder. Den Titel des Bandes mag man getrost als irreführend bezeichnen. Denn die durchweg starken Beiträge von Sonja Biserko, Boris Buden, Aleksa Djilas, Latinka Perovic, Nenad Stefanov, Holm Sundhaussen und Dragan Velikic beschäftigen sich mit den langfristigen Dispositionen und Trends der serbischen Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert und dem Machtsystem von Slobodan Milosevic.
Lesenswert sind vor allem die Beiträge von Biserko und Stefanov. Gekonnt analysiert Letzterer das Verdunsten der jugoslawischen Staatsidee und die Entstehung einer neuen Führungsgeneration in den achtziger Jahren. Das seltsame Amalgam aus nationalistischem Wiedererweckungsglauben und Rückständen sozialistischer Verbalakrobatik, zusammengebraut von Machtfunktionären der Nachpartisanengeneration, wird so erklärbar. Biserko gibt Einblick in die Befindlichkeiten der schwachen und in Teilen bis heute einer kruden Staatsidee ergebenen Zivilgesellschaft. Tatsächlich erfährt man in dem Band aber auch einiges über die Zeit nach den Kriegen. Hervorzuheben sind hier die Analysen von Norbert Mappes-Niediek über die Revolution des Jahres 2000 und die Hintergründe des Mordes an Zoran Gingic (gut recherchiert und mit all den Verschwörungstheorien abrechnend) und von Andreij Ivanji über die serbische Parteienlandschaft.
Der Band „Serbia Matters: Domestic Reforms and European Integration“, mit dem Wolfgang Petritsch, Goran Svilanovic und Christophe Solioz die neue Serie „Southeast European Integration Perspectives“ bei Nomos eröffnen, ist eine Art Leistungsschau der aktuellen Südosteuropa-Forschung. Auf knapp 200 Seiten drängen sich Beiträge von nicht weniger als 31 Autoren. Viel Platz bleibt da nicht für die extensive Ausbreitung von Argumenten, doch die Mehrzahl der Autoren weiß ausgezeichnet mit dem knappen Gut umzugehen. Es gibt einige Ausreißer, die mit Allgemeinplätzen zu punkten versuchen. Auch lassen sich bei einer solchen Menge an Beiträgen Redundanzen nicht vermeiden.
Dennoch kann man den Band allen ans Herz legen, die schnell erfahren möchten, wie Serbiens gesellschaftliche und politische Befindlichkeiten acht Jahre nach der Revolution aussehen (Empfehlung: Biserko, Colovic, Judah, Vuletic) und wie sich die Beziehungen zwischen Serbien und der EU gestalten (Empfehlung: Altmann, Delevic, Swoboda). Zum Nachdenken regt Ivan Krastev an: Gibt es Analogien zwischen Jugoslawien und der EU? Fünf durchweg gute Beiträge zur wirtschaftlichen Lage Serbiens beschließen den Band.
Eine kompakte Einführung in die Hintergründe der Konflikte um das Kosovo bietet die Publikation „Kosovo: What everyone needs to know“ von Tim Judah. Judah, langjähriger Korrespondent des Economist in der Region, problematisiert vorurteilsfrei die serbischen und albanischen Geschichtsbilder und deren Folgen für die Gegenwart. Zugleich bietet er einen flüssig geschriebenen ereignisgeschichtlichen Aufriss, der in vorjugoslawischer Zeit beginnt und bis zur Unabhängigkeit 2008 führt. Beachtenswert sind die letzten Kapitel, in denen Judah die Argumente für und gegen die Unabhängigkeit abwägt und schließlich die gegenwärtige Situation und ihre möglichen Folgen diskutiert.
Eine ebenfalls knappe Handreichung legt Norbert Mappes-Niediek über Kroatien vor. Mappes-Niediek erhebt nicht den Anspruch der Wissenschaftlichkeit. Vielmehr kommt er in einem Plauderton daher, der die Zuneigung des Autors zum Gegenstand nicht verhehlt. Und tatsächlich lässt sich das Buch streckenweise unbeschwert wie ein Reiseführer lesen. Mappes-Niediek ist sich nicht zu schade, jedes Stereotyp, das die Kroaten von sich und die Welt von den Kroaten hat, zu beleuchten. Der Autor wäre aber nicht der für seine sonst so scharfen Analysen bekannte Journalist, wenn er es dabei bewenden ließe. Und tatsächlich führt Mappes-Niediek den Leser ohne viele Umschweife auch zu den schmerzenden Punkten in jüngster Vergangenheit und Gegenwart: Krieg und nationalistisch-autoritäre Versuchung unter Franjo Tudjman, Diskriminierung des serbischen Bevölkerungsteils, Verstrickung von Politik und organisiertem Verbrechen in den neunziger Jahren, die zwielichtige Rolle der Medien und der Mord an Ivo Pukanic. Ein aufschlussreicher Band, nicht nur für diejenigen, die eine intelligente Reiselektüre suchen.
Emir Suljagic: Srebrenica. Notizen aus der Hölle. Wien: Zsolnay Verlag, 2008, 240 Seiten, 17,90 €
Carla del Ponte: Im Namen der Anklage. Meine Jagd auf Kriegs-verbrecher und die Suche nach Gerechtigkeit. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 2009, 528 Seiten, 22,95 €
Jens Becker, Achim Engelberg (Hrsg.): Serbien nach den Kriegen. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2008, 350 Seiten, 13,00 €
Wolfgang Petritsch, Goran Svilanovic, Christophe Solioz (Hrsg.): Serbia Matters: Domestic Reforms and European Integration. Baden-Baden: Nomos, 2009, 200 Seiten, 29,00 €
Tim Judah: Kosovo: What Everyone Needs to Know. Oxford University Press, USA, 2008, 208 Seiten, 12,30 €
Norbert Mappes-Niediek: Kroatien. Das Land hinter der Adria-Kulisse. Berlin: Ch. Links Verlag, 2009, 176 Seiten, 16,90 €
Internationale Politik 9/10, September/Oktober 2009, S. 130 - 133.