Nichts war unvermeidlich
... auch nicht der Zerfall Jugoslawiens: Neuerscheinungen zu Geschichte und Gegenwart Südosteuropas
Über ein Jahrzehnt nach Ende der Jugoslawien- Kriege schlägt die Debatte über Geschichte und Zerfall des Vielvölkerstaats weiter emotional hohe Wellen, auch in Deutschland. Eine Historikerin und ein Journalist suchen nach neuen Zugängen zur Entwicklung Jugoslawiens im 20. Jahrhundert und zum Konflikt im Kosovo.
War der Untergang Jugoslawiens das absehbare Ende einer Fehlentwicklung? Wer sich die Literatur anschaut, die seit der Auflösung des Vielvölkerstaats erschienen ist, könnte zu diesem Schluss kommen. Statt Gesamtschau und Analyse dominieren Nationalgeschichten, die im Stil des 19. Jahrhunderts das Eigene gegen das Andere abgrenzen und die Nation als naturgegebene Größe setzen.
Dass Geschichte jedoch offen ist und der Zerfall Jugoslawiens nicht unvermeidbar war, zeigt Marie-Janine Calic in ihrer „Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert“. Dabei räumt sie mit dem Vorurteil der „Andersartigkeit“ des Balkans auf. Die südslawischen Länder wurden, zeitversetzt und regional ungleichmäßig, von denselben Dynamiken erfasst, die im übrigen Europa Wirtschaft, Politik und Gesellschaft seit Mitte des 19. Jahrhunderts fundamental veränderten.
Die Idee einer jugoslawischen Nation – geeint durch Sprache, getrennt nur durch konfessionelle Zugehörigkeit – verblasste bereits im „ersten“ Jugoslawien, dem Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen, das 1918 aus dem Königreich Serbien und der slawisch geprägten „Konkursmasse“ im Süden des Habsburger Reiches entstanden war. Dennoch überlebte die Idee des gemeinsamen Staates für alle Südslawen auch die Zeitenschwelle des Zweiten Weltkriegs. Nach Besatzung, Zerstückelung, Kollaboration, Partisanenkampf und Bürgerkrieg entstand Jugoslawien als Föderative Volksrepublik unter Josip Broz Tito wieder.
Auf beeindruckende Weise gelingt es der Münchner Historikerin, die DNA der Tito-Ära zu entschlüsseln. Neben den Standards über den jugoslawischen Sonderweg in der internationalen Politik wie im Staats- und Wirtschaftsaufbau bietet sie etliche wichtige Einblicke in die sich vor allem ab den sechziger Jahren rasant verändernde Sozialstruktur, Kultur und Mentalität in Jugoslawien.
Auch wenn Calic die Offenheit der Geschichte betont, identifiziert sie vier Grundprobleme, die das Projekt Jugoslawien schließlich scheitern ließen: 1. die nationale Problematik, die die Fragen nach einem Interessenausgleich zwischen den Ethnien und nach der Legitimität des politischen Systems wach hielt; 2. eine soziale und wirtschaftliche Rückständigkeit gegenüber West- und Mitteleuropa – nicht trotz, sondern wegen des Modells des selbstverwalteten Sozialismus; 3. sozioökonomische Unterschiede zwischen Norden und Süden, die Benachteiligungsgefühle auf der einen und den Unmut über ständige Transferleistungen auf der anderen Seite strukturell verankerten; 4. Abhängigkeiten von politisch-strategischen Großmachtinteressen.
Diese vier Faktoren, so Calic, führten zu einem latenten Zweifel an der Legitimität des Staates. Nach dem Tod Titos, der die Spannungen noch kraft seiner persönlichen Autorität kontrollierte, und bedrängt durch die Wirtschaftskrise der achtziger Jahre verlor ein Großteil der Bevölkerung den Glauben an das Fortschrittsversprechen der Partisanengeneration. Das Scheitern des sozialistischen Ideals und die Delegitimierung des Ausgleichssystems zwischen Republiken und Völkern führten in eine Endzeitstimmung, aus der nur die gewaltsame Emanzipation der eigenen Nation einen Ausweg zu weisen schien.
Calic weiß, dass so manches ihrer Urteile kontrovers diskutiert werden wird. War die deutsche Anerkennung Sloweniens und Kroatiens verfrüht? Verbaute die Politik von Hans-Dietrich Genscher die (wenngleich geringe) Chance auf eine friedliche Auflösung Jugoslawiens? Sicher scheint, dass die Anerkennung beider Länder die politischen Akteure in Bosnien unter Handlungszwang brachte. Jetzt stellte sich auch hier nur noch die Frage: Unabhängigkeit ja oder nein? Von hier ab gab es kein Zurück mehr.
Der Versuch, die Geschichte des 20. Jahrhunderts auf 415 Seiten zu reduzieren, verlangt Mut zur Verdichtung. Die Synthese gelingt Calic gut, auch wenn einige Ungleichgewichte auffallen. So wird der Entwicklung der Partisanenbewegung viel Raum gewidmet, der für die Zerfallskriege der neunziger Jahre fehlt. Auch die von Calic beklagte regionale Disparität bildet sie selbst ab: Die Entwicklungen in den „Kernländern“ Serbien, Kroatien, Slowenien und Bosnien stehen im Vordergrund. Montenegro, Mazedonien und der Kosovo bleiben vielfach unbeachtet. Dennoch sei das Buch jedem, der sich mit Südosteuropa beschäftigt, wärmstens zur Lektüre empfohlen.
Dass das Thema auch im deutschsprachigen Raum hoch emotional besetzt ist, kann man an Reaktionen auf das Buch ablesen. Etwa im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Calic changiere „zwischen zeitgeistig überhöhten theoretischen Anforderungen und einer unreflektierten ‚Jugostalgie‘“, heißt es da polemisch, bevor das sinnlose Gedankenspiel unternommen wird, ob nicht doch „Hass“ als entscheidende Kategorie der Analyse im Falle Jugoslawiens angemessen sei.
Auch der Autor des Buches „Kosovo. Geschichte eines Konflikts“ weiß aus eigener Erfahrung, dass die Wogen hoch schlagen, wenn man aus und über Südosteuropa schreibt. In Internetforen eilt Rathfelder der Ruf eines „lügenden Serbenfressers“ voraus, seit der taz-Korrespondent im August 1998 verfrüht und ohne hinreichende Prüfung von einem vermeintlichen Massenmord an Zivilisten im kosovarischen Rahovec berichtete. Die Lage war aufgeheizt, die NATO-Staaten rangen um eine Entscheidung für oder gegen eine Intervention. Gerade in Deutschland wurde hart debattiert, ging es doch um einen Paradigmenwechsel ohnegleichen in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Sollte Deutschland in einen Krieg gegen Serbien eintreten? Kein Wunder, dass Meldungen wie die von Rathfelder höchste Brisanz besaßen.
Mit diesem Buch legt der langjährige Berichterstatter seine Sicht der Dinge zur Entwicklung des Kosovo-Konflikts von 1987 bis 2009 vor. Anders als Calic geht es ihm nicht um eine wissenschaftliche Analyse. Der Text ist im Reportagestil gehalten, Personen und konkrete Ereignisse stehen im Mittelpunkt. Interviews mit den Beteiligten runden das gut lesbare Werk ab, das ein nützliches Zeitdokument darstellt.
Dabei hat Rathfelder mitnichten „Schaum vor dem Mund“, wie es ihm seine Kritiker einst vorwarfen. Er geht selbstkritisch mit den Möglichkeiten seines Berufsstands um, gesteht auch Fehler bei der Recherche in Rahovec 1998 ein. Und er lässt klar erkennen, dass er nicht von gänzlich neutralem Standpunkt aus schreibt. So sieht er die Emanzipationsbewegung der Kosovo-Albaner in einem Zusammenhang mit den demokratischen Erhebungen der achtziger Jahre in Mittelosteuropa. Doch ist er auch nicht stumpf antiserbisch. Er beklagt, wie die von ihm als Aufbruchstimmung wahrgenommene Unrast im Belgrad der späten Achtziger nicht zu einem demokratischen Wandel führte, sondern Slobodan Milošević und andere skrupellose Nationalisten an die Macht brachte.
Drastisch schildert Rathfelder seine Kriegserlebnisse und die lebensgefährliche Arbeit der internationalen Journalisten, die sich 1998 und 1999 auch noch gegen die Instrumentalisierung durch alle Kriegsparteien wehren mussten.
Besonders verdienstvoll ist Rathfelders Aufarbeitung der Entwicklungen im Kosovo seit 1999. Ein schier unlösbares Geflecht von internen und externen Akteuren zerrt um die Zukunft des kleinen Landes. Die UNMIK und auch die sie später teilweise ablösenden EU-Missionen sind im Gestrüpp von widersprüchlichen Mandaten und bürokratischen Hemmnissen gefangen. Derweilen werden Claims zwischen den Führern der Gruppen abgesteckt, die aus dem bewaffneten Widerstand entstanden sind und oft mehr kriminellen Netzwerken als Parteien gleichen. Serbien und mit ihm einige EU-Staaten wehren sich dagegen, ein unabhängiges Kosovo anzuerkennen. So fällt die Prognose Rathfelders für die Zukunft gemischt aus. Nur eine langfristige und prinzipienfeste Strategie vor allem der EU könne dem Kosovo noch Perspektiven eröffnen.
ARMANDO GARCIA SCHMIDT ist Projektmanager im Europaprogramm der Bertelsmann Stiftung.
Internationale Politik 2, April 2011, S. 137-139