Nordkoreas neues Selbstbewusstsein
Das Regime in Pjöngjang war bis vor Kurzem das diplomatisch am stärksten isolierte der Welt. Doch Russlands Angriff auf die Ukraine hat das verändert. Diktator Kim Jong-un tritt mit auffallend breiter Brust auf – und in Südkorea ist man nervös wie lange nicht.
Kim Jong-un will die Verfassung seines Staates ändern. Mit dieser Nachricht richtet sich der nordkoreanische Machthaber jedoch weniger an die eigene Bevölkerung, sondern vielmehr an den Rest der Welt. Ist die Verfassung nämlich erst umgeschrieben, sollen die Menschen aus dem politisch verfeindeten Südkorea darin nicht mehr als Landsleute bezeichnet werden, sondern als „unveränderlicher Hauptfeind“. Vor einer Versammlung in der nordkoreanischen Hauptstadt Pjöngjang erklärte Kim Jong-un außerdem: „Wir wollen keinen Krieg. Aber wir haben auch keine Absicht, ihn zu vermeiden.“
Die Lage auf der koreanischen Halbinsel ist so angespannt wie seit Jahrzehnten nicht. In den vergangenen drei Jahren hat Nordkorea mehr Raketentests gemacht als je zuvor, darunter neue Kurzstreckengeschosse und Interkontinentalraketen mit Tausenden Kilometern Reichweite. Mal überflogen sie japanisches Territorium, mal näherten sie sich Südkorea. Bei den Vereinten Nationen wird offen über die Befürchtung gesprochen, bald folge ein Atomtest. In einer vorigen Verfassungsänderung 2023 erklärte sich Nordkorea zur Atommacht. Dieser Schritt sei „irreversibel“.
Bis vor Kurzem schienen solche Entwicklungen kaum bedrohlich. International verstand man Nordkoreas Raketensignale lange Zeit als eine Art Schrei nach Liebe, mit dem der „Oberste Führer“ Kim Jong-un die verfeindeten USA und Südkorea an den Verhandlungstisch zerren wollte. Schließlich ist über die letzten Jahre kein Staat diplomatisch derart isoliert gewesen wie Nordkorea. Nicht einmal China, lange Zeit der einzige wichtige Partner, bekannte sich offen zu Nordkoreas Auftreten. Waffentests aus Pjöngjang galten daher immer auch als Zeichen der Schwäche.
Ohnehin sind die Schwächen Nordkoreas offensichtlich. Die Vereinten Nationen gehen davon aus, dass bereits kurz vor der Pandemie rund 40 Prozent der Bevölkerung unterernährt waren – ein Anteil, der seither gestiegen sein dürfte. Im Land gibt es weder offen zugängliches Internet noch eine freie Presse, geschweige denn freie Wahlen. Weil der diktatorisch regierte Staat schon lange mit Raketen zündelt, beschloss die internationale Staatengemeinschaft 2017 noch härtere Sanktionen als zuvor. Handel ist weitgehend verboten, Nordkorea ist allein.
Aber gilt diese Interpretationsweise Anfang 2024 noch? Zusehends entsteht der Eindruck: Nordkoreas Regierung ist selbstbewusst wie lange nicht. Und bei genauerer Betrachtung hat sie auch einigen Grund dazu. Choi Eun-ju, Nordkorea-Expertin beim Sejong-Institut in Seoul, dem ältesten unabhängigen Thinktank Südkoreas, sagt gar: „Nordkorea ist einer der großen Gewinner des Ukraine-Krieges.“ Denn während Kim vorher kaum Freunde hatte, sieht die Sache jetzt anders aus.
Dank Putin zurück auf der internationalen Bühne
Deutlichstes Beispiel: Im September 2023 reiste Kim über 20 Stunden in seinem abgesicherten Spezialzug über Nordkoreas Nordgrenze nach Russland, um dort seinen Amtskollegen Wladimir Putin zu treffen. Wie alte Kumpel begrüßten sie sich, ehe Russlands Präsident erklärte, mit Kim würde er „alle Themen“ besprechen. Es dürfte um technologische, wirtschaftliche und militärische Kooperation gegangen sein. Kim sagte: „Russland führt einen heiligen Kampf gegen den Westen“, bei dem Nordkorea helfen wolle, den „Kampf gegen den Imperialismus“ zu gewinnen.
Das Treffen mit Putin war eine Art Durchbruch für Kim; nach Jahren der Isolation, die durch die Grenzschließungen während der Pandemie auch wirtschaftlich besonders schmerzte, ist Nordkorea zurück in der internationalen Politik. Dabei war schon vor dem Treffen mit Putin unübersehbar, wie Nordkorea den neuerlichen Angriff Russlands auf die Ukraine ab Anfang 2022 schon früh als strategische Chance verstand.
Kaum ein Staatschef fiel seitdem so sehr durch Sympathiebekundungen gegenüber Wladimir Putin auf wie Kim Jong-un. Als die Vereinten Nationen im April 2022 über einen potenziellen Ausschluss Russlands aus dem Menschenrechtsrat abstimmten, gehörte Nordkorea zu den 24 Staaten, die dagegen votierten. Wenige Monate später zählte Nordkorea dann zu den ersten Ländern, die die von Russland unterstützten Separatistengebiete Donezk und Luhansk offiziell anerkannten.
Dass daraufhin die ukrainische Regierung die Beziehungen zu Nordkorea abbrach, dürfte einkalkuliert gewesen sein. Kim Jong-un hatte denn auch angedeutet, künftig nordkoreanische Arbeiter in die Separatistengebiete zu schicken, um durch den Krieg beschädigte Gebiete eines Tages wiederaufzubauen. Dies freute den russischen Präsidenten, der von weiten Teilen der internationalen Gemeinschaft für seine Aggression geächtet wird. Aber eben wegen dieser Ächtung kann sich Russland nun recht ungeniert mit einem Pariastaat wie Nordkorea vernetzen.
Das Treffen zwischen Kim und Putin im September 2023 scheint bereits Früchte zu tragen. Nachdem Kim und seine Entourage von Putin höchstpersönlich durch ein modernes russisches Raumfahrtzentrum geführt worden waren, beförderte Pjöngjang im November – nach vorigen Fehlversuchen – eigene Satelliten in die Erdumlaufbahn. Und mittlerweile ist Nordkorea offenbar ähnlich stark in den Krieg in der Ukraine involviert wie es westliche Staaten sind, nur auf der anderen Seite. Anfang des Jahres verkündete die US-Regierung, dass in der Ukraine nordkoreanische Raketen eingesetzt worden seien – angeblich von russischem Territorium aus abgeschossen. „Das ist eine signifikante und besorgniserregende Eskalation“, kommentierte John Kirby, Sprecher des US-Präsidenten Joe Biden. Wesentlich nüchterner beurteilt dies Vladimir Tikhonov, Professor für Koreanistik an der Universität Oslo und Experte für Nordkorea und die Sowjetunion: Nach seiner Auffassung ergibt die Kooperation zwischen Russland und Nordkorea schlicht Sinn für beide Seiten.
Denn seit dem Angriff auf die Ukraine habe das russische Militär enormen Verschleiß erlitten. Durch die internationalen Sanktionen gegen Russland sei es schwieriger geworden, Nachschub für diverse Teile zu erhalten. Als alter Partner aus Zeiten des Kalten Krieges könne Nordkorea, das seinerseits mit Sanktionen belegt ist, hier aushelfen. „Russland kann eine größere Zahl von Granaten und Teile sowjetischer Panzer gebrauchen“, so Tikhonov. „Nordkorea produziert all diese Dinge in großen Mengen.“
Auf ähnliche Weise hat Nordkorea schon seinen Kontakt nach Syrien ausgebaut, wo seit mehr als zehn Jahren ein Bürgerkrieg wütet. „Der Handel soll in Zukunft ausgeweitet werden“, beobachtet Choi Eun-ju vom Sejong-Institut. Und China, bisher Nordkoreas wichtigster Partner, solidarisiert sich zwar nicht offen mit der neuen Partnerschaft zwischen Russland und Nordkorea, sagt aber auch nichts dagegen. Denn als mögliches Gegengewicht zu den liberalen Staaten im Pazifik – wie etwa die USA, Japan und Südkorea – haben Nordkoreas Aktivitäten auch für Peking einigen Charme.
Kein koreanischer Frieden in Sicht
Es sind diplomatische Erfolge, die Nordkorea seit Jahrzehnten nicht erlebt hat – und nun auch zu einem grundsätzlichen Umdenken in dessen Politik gegenüber Südkorea geführt hat. Seit Ausbruch des Korea-Kriegs im Jahr 1950, der zum ersten Stellvertreterkonflikt im Kalten Krieg zwischen den USA und der Sowjetunion wurde, Millionen Todesopfer forderte und 1953 nur mit einem Waffenstillstand endete, verharren Nord und Süd formal im Kriegszustand. Bisher war es offizielles Ziel beider Koreas, einen Friedensvertrag zu erreichen. Kims neue Verfassung zieht hierunter einen Schlussstrich.
Das wiederum sorgt in Südkorea für Nervosität. Der mittlerweile deutlich wohlhabendere Bruderstaat auf der Südseite der hochbewaffneten Grenze hatte über die vergangenen Jahre immer wieder mit Wirtschaftshilfen geworben, die Nordkorea zweifelsohne hätte gebrauchen können. Allerdings scheiterten die Verhandlungen jedes Mal an Grundbedingungen. Während die mit Südkorea gemeinsam auftretenden USA stets forderten, dass Nordkorea zuerst sein nukleares Waffenarsenal verschrotte, verlangte Nordkorea den Abzug des US-Militärs aus Südkorea.
Den letzten Annäherungsversuch gab es im Februar 2019, als Kim Jong-un mit dem damaligen US-Präsidenten Donald Trump verhandelte. Die Erwartungen waren groß: Ein Jahr zuvor hatten Nord und Süd bei den Olympischen Winterspielen im südkoreanischen Pyeongchang teilweise gemeinsame Teams ins Rennen geschickt, waren unter einer hellblauen Wiedervereinigungsflagge aufgelaufen, die die gesamte koreanische Halbinsel zeigte. Südkoreas damaliger liberaler Präsident Moon Jae-in hatte verkündet, er wolle der Präsident der Wiedervereinigung werden.
Moon und Kim trafen sich, schüttelten Hände. Moon unterstützte auch ausdrücklich die Zusammentreffen zwischen Donald Trump und Kim Jong-un. Doch was anfangs von beiden Seiten wie die Männerliebe zweier Machos inszeniert worden war, führte bald zu Enttäuschung. Ein Gipfel im vietnamesischen Hanoi 2019 endete ohne Ergebnisse. „Manchmal muss man weiterziehen“, kommentierte Trump zum Abschluss des Treffens, von dem er sich erhofft hatte, globale Anerkennung als Dealmaker zu erlangen. Am Ende standen beide Männer, Trump und Kim, eher wie Sturköpfe da.
„Im Norden hat man Südkorea die Schuld dafür gegeben, dass es bei den Verhandlungen zwischen Trump und Kim kein Ergebnis gab“, berichtet Koh Yuh-hwan, Vorsitzender des Koreanischen Instituts für Nationale Vereinigung, einem staatlich finanzierten Thinktank, der die Regierung in Nordkorea-Fragen berät. „Im Norden ist man der Meinung, Südkorea hätte auf die USA einreden müssen, damit die westliche Verhandlungsposition aufgelockert werde.“ Koh ist nicht der Meinung, dass Seoul bei den Verhandlungen einen Fehler gemacht hätte: „Südkorea hat versucht zu vermitteln.“
Die Meinung teilt nicht jeder. Kim Nu-ry etwa, Direktor des Zentrums für Deutschland- und Europastudien an der Chungang-Universität in Seoul und Kenner der deutsch-deutschen sowie der koreanischen Teilung, sagt: „Südkoreas damaliger Präsident Moon war zu zurückhaltend! Er hat immer sehr auf die Haltung Amerikas geachtet.“ Und das sei in Pjöngjang natürlich nicht gut angekommen. „Mit dieser Haltung des Präsidenten Moon war Kim Jong-un sehr unzufrieden. Deswegen wollte er nicht mehr mit Moon sprechen.“
Verschärfte Rhetorik
Die Demokratische Partei von Moon Jae-in, der einst angetreten war, um die Beziehungen zum Norden zu verbessern, wurde im Frühjahr 2022 auch deshalb abgewählt, weil Moon in der Nordkorea-Politik letztlich erfolglos war. Der neue Präsident und Rechtspopulist Yoon Suk-yeol versucht es gegenüber Nordkorea nicht mit Zuneigung, sondern mit Abschreckung. Im Wahlkampf versprach der mittlerweile 63-jährige Yoon, er würde Kim Jong-un „Manieren beibringen“. Aber den mehr als zwei Jahrzehnte jüngeren Diktator aus dem Norden scheint das nicht zu beeindrucken.
Südkoreas Regierung hat seither die Zahl seiner Militärmanöver erhöht, nicht nur mit den USA, die in Südkorea wichtige Militärstationen unterhalten, sondern nun auch mit Japan, wohin die Beziehungen angesichts der Kolonialvergangenheit eigentlich kompliziert sind. Doch im Dienst von Drohgebärden gegenüber Nordkorea ist Yoon bereit, über historische Differenzen hinwegzublicken. Als Reaktion auf Kim Jong-uns Ankündigung, den Süden fortan als Hauptfeind zu betrachten, erklärte Yoon: Auf Provokationen des Nordens werde der Süden mit „mehrfach stärkeren“ Strafen reagieren.
Beobachter wie Kim Nu-ry halten solche Rhetorik für unklug. Feuer mit Feuer zu bekämpfen, laufe nur darauf hinaus, dass sich Nordkorea gerade jetzt – wo sich die Welt zusehends in eine liberale und eine autoritäre Einflusssphäre teilt – weitere neue Freunde sucht. Und das werden solche sein, die es eben nicht zur Bedingung machen, dass Nordkorea zuerst auf seine Atomwaffen verzichte. Neue Partner neigen eher dazu, ein Nukleararsenal, das sich gegen die US-amerikanische Vormacht richtet, zu begrüßen. Schon länger hält sich etwa das Gerücht, Nordkorea unterstütze auch die Hamas.
Hat die neue internationale Vernetzung Nordkoreas auch etwas Gutes? Park Sang-in, Wirtschaftsprofessor der angesehenen Seoul National University, fällt sofort eine Sache ein: „Eine engere Kooperation mit Russland könnte zum Beispiel dabei helfen, die angespannte Ernährungslage in Nordkorea zu verbessern.“ Ob dies tatsächlich geschehe, wisse er nicht. Es bleibe nur zu hoffen.
Internationale Politik online exklusiv, 19. Januar 2024
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