Internationale Presse

29. Aug. 2022

Eine gespaltene Gesellschaft

In Südkorea dominieren konservative Stimmen die Debatten in den Medien. Das zeigt sich in Diskussionen über die Atomkraft oder die Folgen der Pandemie, aber auch beim Umgang mit dem verfeindeten Nachbarstaat Nordkorea.

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Liegt der neue südkoreanische Staatspräsident Yoon Suk-yeol richtig, wenn er über seinen Amtsvorgänger herzieht, wann immer es um die Atomkraft geht? „Wären wir über die vergangenen fünf Jahre nicht so blöd gewesen, hätten wir den Atomkraftsektor also gestärkt, dann hätten wir heute wahrscheinlich weltweit keine Konkurrenz“, behauptete der im März gewählte konservative Politiker diesen Sommer. Auf einer vom Auslandssender Arirang übertragenen Pressekonferenz im Juni fügte er hinzu: „Es ist eine Schande, dass die Branche ums Überleben kämpfen musste, als sie eigentlich hätte florieren sollen. Das muss sich jetzt ändern.“


Yoon unterstrich damit das, was er im Wahlkampf schon angekündigt hatte: Südkorea werde in Zukunft wieder verstärkt auf Atomkraft setzen. Einmal mehr steht der ostasiatische Indus­triestaat damit vor einer Energiewende, denn im Sommer 2017 hatte der vor Yoon regierende liberale Präsident Moon Jae-in den Ausstieg aus der Kernkraft verkündet. Binnen 45 Jahren sollte das Land von der Atomenergie, die zum Zeitpunkt von Moons Entschluss noch ein Drittel des Stromverbrauchs ausmachte, ­unabhängig werden.


Der Ausstieg vom Ausstieg

Die Debatte über den Ausstieg vom Ausstieg wird hitzig geführt, und Südkoreas prominenteste Medien mischen freudig mit. „Dies ist eine Zeit, in der die Weitsicht des neuen Präsidenten dringend gebraucht ist“, urteilte die rechtsgerichtete Tageszeitung Dong-A Ilbo schon Mitte März, direkt nach Yoons hauchdünnem Wahlsieg, auch in Bezug auf die weitere Nutzung der Atomkraft. Mitte Juli schloss sich die etwas vorsichtigere konservative Joong­Ang Ilbo an: „Die Atomkraft erlebt weltweit ein großes Comeback, auch in Südkorea, und das Land ist bereit, die wachsenden Möglichkeiten zu ergreifen.“


Nicht jeder teilt diese Meinung. Wie in vielen Ländern gehört die Atomkraft auch hier zu jenen Streitthemen, die die Gesellschaft spalten. In Südkoreas Zwei-Parteien-System erkennt man es deutlich: Wer der konservativen People’s Power Party nahesteht, ist überwiegend für die Nutzung und Fortführung. Wer die Demokratische Partei wählt, ist wegen des Unfallrisikos und der ungeklärten Frage des Umgangs mit dem Atommüll meist dagegen.


So ist wenig überraschend, wie sich die linksgerichtete Hankyoreh positioniert: In der Überschrift eines Leitartikels Ende Juni sprach die Zeitung vom „Atomenergiefetisch der Yoon-Regierung“. Die Schlussfolgerung: „Ein Feuer in einem Atomkraftwerk kann von Menschen nicht gelöscht werden. Das AKW in Fukushima brennt noch immer, elf Jahre nach dem dortigen Atomunfall. Über die nächsten fünf Jahre wird Yoons Dummheit eine Krise begründen, die über 50 Jahre andauern wird.“


Der öffentliche Rundfunksender KBS (Korean Broadcasting System), der zu den führenden Netzwerken des Landes gehört und als Stimme der Diversität bekannt ist, berichtet subtiler über das Thema, aber tendenziell regierungsnah. „Präsident Yoon hat versprochen, Südkoreas Atomkraftindustrie wiederaufzubauen und ihre Exportbemühungen zu unterstützen“, verkündete der Sender etwa im Juni. Der Auslandssender Arirang wiederum lädt bei seinen regelmäßigen Expertengesprächen vor allem solche Personen ein, die den Plan des Präsidenten unterstützen.


Die Art und Weise, wie Südkorea über die Atomkraft diskutiert, passt zur hiesigen Medienlandschaft. In der noch jungen Demokratie, die erst mit dem Ende der Militärdiktatur ab 1987 begann, haben diverse Publikationen und Meinungen ihren Platz: Es gibt rund 170 Zeitungen, 29 davon erscheinen landesweit, die laut der World Association of Newspapers zusammen auf sechs Millionen verkaufte Exemplare pro Tag kommen. Die Positionen reichen wie andernorts von links bis rechts, der Ton kann sachlich oder polemisch sein. Aber wie bei den in der Politik vertretenen Meinungen überwiegen in den Medien konservative Positionen.


Das liegt schon an der Marktmacht: Die älteste Zeitung des 52-Millionen-Landes, die rechtsgerichtete Chosun Ilbo, ist mit täglich mehr als einer Million verkauften Exemplaren auch die größte, gefolgt von JoongAng Ilbo und Dong-A Ilbo. Kritiker fassen diese drei konservativen Blätter oft unter dem Kunstwort „Chojoongdong“ zusammen, als steckten die drei Konzerne eigentlich unter einer Decke. Um die konservative Übermacht zu brechen, wurde 1988 die linksliberale Zeitung Hankyoreh gegründet, die aber nur eine deutlich kleinere Auflage erreicht.


Zu den auch online stark vertretenen Tageszeitungen kommen neue Medien im Internet wie die im Land dominante Suchmaschine Naver und deren Konkurrentin Daum, die wiederum lizenzierte Artikel der großen Medienhäuser veröffentlichen. Das auch in Südkorea wachsende Problem der Fake News kommt eher über soziale Medien. Die größten Fernsehsender – neben KBS sind dies vor allem MBC (Munhwa ­Broadcasting Corporation) und SBS (Seoul Broadcasting System) – bemühen sich um Neutralität, wenngleich sie tendenziell der Regierung nahestehen.


Wachsende Ungleichheit

Das konservative Übergewicht bemerkt man auch daran, wie über die Folgen der Pandemie diskutiert wird. Weltweit ist Südkorea um seine gesundheitspolitisch erfolgreiche Antwort auf Covid-19 beneidet worden: Nach einem frühen Ausbruch schaffte es die Regierung, durch das Desinfizieren öffentlicher Plätze, konsequentes Maskentragen, Massentestungen, strenge Isolierungspolitik sowie das Tracking über eine App, die Infektions­zahlen gering zu halten. Allerdings hat sich der Staat eher zurückgehalten, wenn es um finanzielle Unterstützung während der Pandemie ging.


Die soziale Ungleichheit und die finanzielle Notlage Benachteiligter ist in Südkorea heute so hoch wie seit rund 20 Jahren nicht mehr. „Junge Menschen geben es auf, Wohnungen zu kaufen“, urteilte die konservative Zeitung Chosun Ilbo Anfang August nüchtern. Hintergrund sind nicht nur die über Jahre steigenden Immobilienpreise, sondern auch der prekäre Arbeitsmarkt, der vor allem junge Menschen und Frauen benachteiligt. Dass sich der Staat selbst inmitten der Pandemie mit Unterstützungen zurückgehalten hat, liest man in der Chosun Ilbo nicht.


Die ebenfalls rechtsgerichtete Dong-A Ilbo, die ansonsten eher wenig über die gestiegene Ungleichheit berichtet hat, zitierte Anfang August ein Forschungsergebnis aus den USA: „Eine neue Studie hat herausgefunden, dass der wichtigste Faktor, damit arme Kinder auf der Einkommensleiter nach oben klettern können, Freundschaften mit Gleichaltri­gen aus Haushalten höherer Einkommen sind. Dieser Effekt ist stärker als die ethnische Zusammensetzung des Wohnviertels, die Familienstruktur oder die Qualität der Schule.“ Es gehe um Sozialkapital, nicht um Sozialpolitik.


Die linksgerichtete Zeitung Hankyoreh sieht dagegen auch den Staat in der Verantwortung: „Ein Wettrüsten mit der besten Bildung wird beinahe unvermeidbar auf einem Arbeitsmarkt, bei dem die Gewinner alles absahnen“, hieß es in einem Kommentar, der auch gegen die neue Regierung von Yoon Suk-yeol austeilt: „Konservatismus basiert auf der Idee, alte soziale Ungleichheiten aufrechtzuerhalten, und jede progressive Bewegung muss sich mit diesem Kern der Rechten auseinandersetzen – und ihn ausnutzen.“


Die klare Positionierung von Hankyoreh trotzt auch Kritikern Respekt ab, wenngleich die Forderung nach einem fürsorglichen Staat von Konservativen schnell als Kommunismus abgetan wird. Dieses Totschlagargument wirkt einerseits deshalb, weil die Debatte in Südkorea stark von jener in den USA beeinflusst ist. Andererseits leistet der anhaltende Konflikt mit Nordkorea auch hier seinen Anteil: Wer höhere Steuern oder Abgaben für Umverteilung will, wird von Vertretern rechts der Mitte auch schon mal als Ideologe oder Spion aus dem Norden verunglimpft.


Dennoch: Hankyoreh gehört laut einer Umfrage unter 1000 Journalistinnen und Journalisten im Sommer vergangenen Jahres zu den sechs vertrauenswürdigsten Medien Südkoreas. Die höchste Zustimmung erhielt die Nachrichtenagentur Yonhap, gefolgt von Chosun Ilbo und den zwei Sendeanstalten KBS und SBS. Allerdings gab auch ein Fünftel der befragten Medienschaffenden an, keinem Nachrichtenmedium zu vertrauen. In einem Land, das noch aus Zeiten der Militärdiktatur tief gespalten ist, tragen hitzige Debatten in den Medien auch zu Misstrauen bei.


Der Konflikt mit dem Norden

Die Berichterstattung zu Nordkorea gehört zu den heikelsten Themen. Seit dem Korea-Krieg ab 1950, der Millionen Todesopfer forderte und drei Jahre später nur mit einem Waffenstillstand beigelegt wurde, befindet sich Südkorea formal im Kriegszustand mit Nordkorea. Ein Gesetz über die nationale Sicherheit verbietet es, Propaganda für den kommunistisch regierten Ein-Parteien-Staat nördlich der Grenze zu machen. So scheint Vorsicht geboten.


Zugleich aber ist die Haltung zum Norden ein weiteres Thema, das die Gesellschaft entzweit. So forderte Hankyoreh in einem Kommentar Ende Juli, dass sich die Nordkorea-Politik des Südens von der Idee verabschieden müsse, mit Sanktionen könne man den Norden schwächen und so für Sicherheit sorgen: „Erstens scheint sich Nordkorea nicht mehr zu bemühen, die Beziehungen zu Südkorea, den USA und Japan noch zu verbessern. Zweitens ist Nordkoreas wirtschaftliche Lage vermutlich nicht so schlecht, wie man in anderen Ländern annimmt. Und drittens hat die nordkoreanische Führung ihre Haltung zu den Sanktionen geändert.“ Dort habe man sich längst damit arrangiert.


Ganz anders berichtet die rechtsgerichtete Chosun Ilbo über das Thema. In ihrem Nordkorea-Ressort – ein in südkorea­nischen Zeitungen durchaus üblicher, eigenständiger Teil – beschreibt sie den Nachbarstaat als eine Mischung aus schwach und überheblich. Eine Zusammenstellung der Titelzeilen Ende Juli: „Nordkoreanische Wirtschaft auf den Knien“, „Kim Jong-un stärkt seinen Sicherheitsapparat nach der Ermordung von Abe“ (Anm.: der ehemalige japanische Premier wurde im Juli erschossen); „Kim Jong-un droht, Yoon zu ‚vernichten‘“ sowie „Nordkorea droht Hungersnot“.


In der südkoreanischen Gesellschaft wird der Konflikt mit dem Norden zusehends als unausweichliche Konstante des Alltagslebens hingenommen. Auf die zuletzt häufigeren Raketentests nördlich der Grenze reagiert man meist mit Schulterzucken, auf den kürzlichen Ausbruch von Covid-19 mit Mitleid, allerdings im Glauben, ohnehin nichts tun zu können. Südkoreaner können nicht in den Norden reisen. Für emotionale Bilder, die niemanden kaltlassen, sorgen die TV-Sender vor allem dann, wenn zwischen den Regierungen seltene Begegnungen getrennter Familien ermöglicht werden.


K-Pop als Soft Power


Ein ganz anderes Thema, das viele Gemüter beschäftigt, ist K-Pop. Die heimische Popindustrie, die seit mehr als einem Jahrzehnt in ganz Asien beliebt ist und in den vergangenen Jahren auch westliche Charts gestürmt hat, wird selbst von konservativen Südkoreanern nicht als lärmige Musik abgetan, sondern eher als wichtiges Exportprodukt verstanden. K-Pop gilt als Soft Power.


Seit zwei Jahren wird im Land auch über die Frage diskutiert, ob die Mitglieder der erfolgreichsten K-Popband, die siebenköpfige Boygroup BTS, wirklich wie alle anderen Männer auch den rund zwei Jahre langen Militärdienst absolvieren müssen. Das älteste Bandmitglied Jin müsste bis Ende des Jahres dienen. Allerdings werden Sportler, die für Südkorea etwa eine olympische Goldmedaille gewinnen, als Dank für ihre nationalen Verdienste von dieser Pflicht ausgenommen. So fragt man sich: Müsste nicht auch für die Jungs von BTS, die schließlich das Ansehen Südkoreas in der Welt ebenso stärken, eine Ausnahme gemacht werden? In einem ausführlichen Übersichtstext zur Debatte versuchte sich die konservative JoongAng Ilbo im Juni neutral zu halten: „Im Vergleich zu früheren Gruppen ist BTS nicht nur wegen ihrer Langlebigkeit einzigartig – sie hält sich seit neun Jahren –, sondern auch für ihre globale Beliebtheit, die weit über Asien hinausgeht.“ Die Zeitung zitiert auch eine Umfrage, nach der die Mehrheit der Menschen eine Ausnahme befürwortet.


Anfang August dominierte dann eine Schlagzeile diverse Zeitungen aller möglichen Couleurs. Der Titel der führenden Nachrichtenagentur Yonhap lautete auf ihrer Website folgendermaßen: „BTS könnte es erlaubt werden, auch während des Militärdiensts im Ausland Konzerte zu geben.“ Dies habe der Verteidigungsminister angedeutet, wie auch andere Medien mit offensichtlicher Erleichterung berichteten. Im politisch tief gespaltenen, gleichzeitig aber außerordentlich patriotisch eingestellten Südkorea sorgen international erfolgreiche K-Popstars dann plötzlich für Einigkeit.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2022, S. 116-119

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Dr. Felix Lill ist Journalist und Autor. Er berichtet aus vielen Ländern, vor allem mit Fokus auf Ostasien.

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