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01. Nov. 2010

Nicht nur ein Problem innerer Sicherheit

Folgen der organisierten Kriminalität für das internationale System

Drogenschmuggel, Menschenhandel, Waffenschieberei: Organisierte Kriminalität wird in Deutschland vor allem als Gefahr für die innere Sicherheit wahrgenommen. Da sie meist von Gewalt und Korruption begleitet wird und von fehlender Staatlichkeit lebt, ist sie aber auch eine Aufgabe für die deutsche Entwicklungs- und Außenpolitik.

Die Verfolgung organisierter Kriminalität fällt in Deutschland weitgehend in den Geschäftsbereich des Innenministeriums beziehungsweise des Bundeskriminalamts. Sie ist also unzweideutig dem Bereich der inneren Sicherheit zugeordnet. Einwanderungsbehörden, der Zoll und das Zollkriminalamt im Finanzressort, das Bundesgesundheitsministerium mit der Bundesdrogenbeauftragten für den Bereich Drogenkonsum, sowie das Justizministerium und die zuständigen Behörden und Gerichte sind ebenfalls zentrale Akteure im Politikfeld der organisierten Kriminalität und ihrer Auswirkungen.

Der Begriff „Transnationalität“ ist im Zusammenhang mit organisiertem Verbrechen beinahe schon zur Binsenweisheit geworden und auch die nach außen gerichteten Ressorts und zugeordneten Behörden sind stärker mit dieser Problematik in deutschen Partnerländern konfrontiert. Mit der immer noch rasant wachsenden Liberalisierung des weltweiten Güter- und Dienstleistungshandels und größerer Mobilität natürlicher und juristischer Personen haben sich auch illegale Handelsströme potenziert. Als negativer externer Effekt der wirtschaftlichen Globalisierung können sie einen festen Platz auf der Liste globaler Bedrohungen verbuchen.

Strukturen des transnationalen organisierten Verbrechens sind heute in zahlreichen Entwicklungs-, aber auch in Industrieländern fester Bestandteil des Erwerbslebens. Zum vielfältigen Erscheinungsbild organisierter Kriminalität gehören vietnamesische Zigarettenhändler an Berliner S-Bahnhöfen ebenso wie nigerianische Onlinebetrüger, kolumbianische Guerillas, kalabrische Ndrangheta oder japanische Yakuza. Ähnlich divers sind die Auswirkungen, die organisiertes Verbrechen auf einzelne Staaten haben kann. Während es in einigen Staaten Afrikas, Asiens und Lateinamerikas die Grundfesten von Entwicklung, staatlicher Souveränität und Sicherheit unterminiert, werden in Deutschland Ausmaß und Verbreitung krimineller Wertschöpfung meist nur dann von der Öffentlichkeit wahrgenommen, wenn derlei Tätigkeiten durch brutale Gewalt auffallen. Erst als in einem Bandenkrieg zwischen Clans der kalabrischen Mafia 2007 sechs Italiener bei einer heftigen Schießerei in einem Duisburger Restaurant umkamen, wurde deutlich, dass süditalienische Mafiagruppierungen offensichtlich schon seit längerem fest in Deutschland verankert sind. Das Interesse der deutschen und europäischen Öffentlichkeit für organisiertes Verbrechen im Ausland wächst für gewöhnlich erst, wenn Mordraten in die Höhe schnellen, eine unheilige Allianz aus Terrorismus und organisierter Kriminalität vermutet wird oder wenn über schillernde Drogen- oder Waffenhändler berichtet wird. Mit dem deutlichen Rückgang des Heroin-Konsums und dem wachsenden Konsum in Europa hergestellter synthetischer Drogen und Inhouse-Cannabis ist in Deutschland auch das Interesse für die Drogenanbauregionen gesunken. Opiumanbau in Afghanistan wird für gewöhnlich als sicherheitspolitisches Problem der Konfliktfinanzierung betrachtet, nicht jedoch unter der Perspektive des Heroin-Konsums in Deutschland. Dass es in Europa über vier Millionen Kokain-Konsumenten gibt, wird im Vergleich zu den Folgen von Alkoholmissbrauch als kleineres Problem öffentlicher Gesundheit und Sicherheit wahrgenommen. Kann Deutschland die Problematik des organisierten Verbrechens also getrost den Behörden der inneren Sicherheit überlassen?

Kapitalistisches Wirtschaften im Schattenbereich

Ein genauerer Blick auf das Phänomen organisiertes Verbrechen und seine Verbreitung zeigt, dass illegale Wertschöpfung eine außen-, entwicklungs- und sicherheitspolitische Tragweite besitzt, die über eine Gefährdung von Recht und Ordnung im Inneren weit hinausgeht. 300 Milliarden Dollar soll pro Jahr allein das Volumen der globalen Drogenökonomie betragen, etwa 30 Milliarden fallen auf den Bereich Menschenhandel und zwischen zwei und zehn Milliarden Dollar auf den globalen Waffenhandel. Es liegt in der klandestinen Natur der Sache, dass diese Schätzungen ungenau sind, gerne übertrieben werden und auf schwachen empirischen Füßen stehen.

Diese eher vagen Schätzungen der Gewinne illegaler Erwerbstätigkeit sind derweil nebensächlich: Bedeutsam sind vielmehr die internationalen Auswirkungen organisierter Kriminalität auf die Bereiche Entwicklung und Sicherheit und damit auch für die Arbeit der Außen-, Verteidigungs- und Entwicklungsministerien in Deutschland und Europa. Die enge Verknüpfung zwischen Kriminalität und politischer Gewalt in den Balkan-Kriegen, in Afghanistan, Kolumbien oder Sierra Leone sind Zeugnisse der nicht von der Hand zu weisenden sicherheitspolitischen Relevanz illegaler Ökonomien. So gilt als nachgewiesen, dass bewaffnete Konflikte länger andauern, wenn sich die Konfliktparteien über Drogenökonomien finanzieren können. Von der engen Verknüpfung von Entwicklung und Kriminalität zeugen massive Korruption bis hin zur Infiltration staatlicher Strukturen, etwa durch südamerikanische Kokain-Netzwerke in Guinea-Bissau oder die gesellschaftlich hoch problematische Auswirkung eines steigenden Drogenkonsums im Iran oder in Pakistan. Dass sicherheitspolitische Bedrohungen, Entwicklungshemmnisse und massive organisierte Kriminalität in direkter Verbindung miteinander stehen, muss zunächst nicht einmal einleuchten. Organisiertes Verbrechen bedeutet im Grunde nicht mehr als kapitalistisches Wirtschaften. Der Handel und Transport eines Gutes, selbst wenn dieses illegal ist, beeinträchtigt niemandes Sicherheit; die exorbitanten Gewinne, die erzielt werden, könnte man ja auch als eher vorteilhaft denn hinderlich für die Entwicklung eines Staates betrachten. Noch weniger einleuchtend erscheint zunächst, warum so genannte „white collar crimes“ wie Geldwäsche überhaupt sicherheitspolitische Folgen haben sollen. Eine bessere Kenntnis der Verbindung zwischen Kriminalität, Entwicklung und Sicherheit verdeutlicht aber, warum Deutschland und deutsche Außenpolitik sich überhaupt für transnationales organisiertes Verbrechen interessieren und darauf reagieren sollten.

Gewalt als Mittel der Konfliktlösung

Organisierte Kriminalität unterscheidet sich von den meisten übrigen globalen Bedrohungen durch ihren Marktcharakter. Ebenso wie bei legalen Märkten geht es zunächst um die Bedienung der Nachfrage nach Gütern und Dienst-leistungen. Auf der Angebotsseite sind von Produktion über Logistik und Vertrieb die üblichen betriebswirtschaftlichen Abläufe erforderlich. Da es sich aber um illegale Güter wie Drogen handelt, verfügt kein Marktteilnehmer über die Möglichkeit, seine Rechte und seine Interessen in kommerziellen Austauschbeziehungen oder auf juristischem Weg geltend zu machen. Verträge sind nicht einklagbar, kommerzielle Streitfälle werden nicht durch externe Schiedsgerichtsinstanzen geschlichtet. Es gibt weder ein Handelsgesetzbuch noch Arbeitsgerichte oder Kartellämter. Vertrauen zwischen den Markteilnehmern entsteht dadurch nicht. Da in illegalen Ökonomien stets die Gefahr besteht, dass Partner und Mitarbeiter Informationen an Polizei, Behörden oder Konkurrenten weitergeben, vermeidet man üblicherweise jede schriftliche Fixierung von Verträgen. Auch neigen die Geschäftspartner eher selten dazu, Informationen wie echte Namen, Wohnort oder Herkunft preiszugeben. Um Verträge durchzusetzen oder Konflikte zu regeln, bleibt nur das Mittel der Selbsthilfe, also meist die Androhung oder Anwendung von Gewalt. Sie ist ein zentrales Instrument, das neben finanziellen Anreizen für Loyalität und mehr Verlässlichkeit im illegalen Erwerbsleben sorgt. Dies gilt nicht nur für Verträge, sondern auch für den Wettbewerb um Routen, Handelspartner oder bei der Schlichtung von Auseinandersetzungen um eine Nachfolgeregelung in den Kartellen oder Organisationen.

Ein großer Teil der Gewalt im organisierten Verbrechen geht auf Konflikte zwischen einzelnen Gruppierungen zurück, die sich um Einflusssphären bekriegen und Diadochenkämpfe ausfechten, wenn einer der Capos festgenommen oder getötet wurde. Auch wenn Gewalt in Ermangelung alternativer Konfliktlösungsinstanzen auf illegalen Märkten ein häufiges Mittel ist, so ist sie unter illegalen Unternehmern nicht unbedingt erwünscht: Sie ist immer sichtbar, öffentlichkeitswirksam und provoziert staatliche Reaktionen. Anders als oft angenommen wird, hat Gewalt auf Drogenmärkten wenig mit Beschaffungskriminalität zu tun, sondern ist ein Regulierungsmechanismus. Verbreitet sich der Aktionsradius des organisierten Verbrechens, wächst auch das Gewaltpotenzial, das ganz besonders infolge staatlicher Interventionen oder wachsender Konkurrenz auszubrechen droht und ganze Staaten innerhalb kürzester Zeit zu destabilisieren oder zu lähmen vermag.

Auch für Europa kann diese Art der Gewalteskalation ein bedrohliches Potenzial entwickeln. Erstens aufgrund der dadurch entstehenden Destabilisierung und möglicher staatlicher Zerfallsprozesse: Neben den unmittelbaren physischen Folgen der Gewalt unterhöhlt diese wohl wie kein zweites Phänomen das Vertrauen der Bürger in die Problemlösungsfähigkeit der Demokratie. Der Ruf nach einer starken Hand ist längst schon in vielen, von grassierender Kriminalität betroffenen Entwicklungs-, aber auch Industriestaaten laut geworden. Selbst wenn der Großteil dieser marktregulierenden Gewalt unter den Kriminellen selbst ausgetragen wird und der Durchschnittsbürger keine größere Gefahr läuft, ihr zum Opfer zu fallen, wirkt sich eine schlechte Gewaltstatistik doch verheerend aus. Sie fördert ein Gefühl der Unsicherheit in der Gesellschaft. Zweitens liegt ein großes Risiko in der geografischen Dynamik des organisierten Verbrechens, die durch Gewalteskalationen und staatliche Interventionen ausgelöst wird.

Die Erfahrung zeigt, dass illegale Märkte flexibel auf staatlichen Bekämpfungsdruck reagieren und kriminelle Unternehmer häufig und kurzfristig ihre Aktionsräume wechseln. Wenn das Risiko illegaler Wertschöpfung zu hoch wird, Gewalt eskaliert oder der Wettbewerb wächst, verlagert sich das organisierte Verbrechen häufig dahin, wo illegale Wertschöpfung unter weit geringerem Verfolgungs- und Konkurrenzdruck stattfinden kann. Organisierte Kriminalität folgt oft einem Weg der geringsten Staatlichkeit und beeinträchtigt ständig neue, ohnehin schwache Staaten in ihrer Entwicklung.

Korrumpieren oder einschüchtern

Gewalt zum Zweck der Marktregulierung ist nicht die einzige Gefahr, die von der Verbreitung organisierter Kriminalität ausgeht. Das Betreiben illegaler Erwerbstätigkeit hat nicht nur direkte Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen kriminellen Geschäftspartnern innerhalb des illegalen Marktes, sondern auch auf das Verhältnis zwischen Gruppierungen des organisierten Verbrechens und dem Staat und der Gesellschaft, in denen sie sich bewegen. Die Illegalität der gehandelten Güter und Dienstleistungen zwingt das organisierte Verbrechen dazu, permissive Bedingungen zu schaffen, unter denen illegale Geschäfte nicht sanktioniert werden, indem Bürger solcherlei Aktivitäten zur Anzeige bringen, die Strafverfolgungsbehörden aktiv eingreifen oder Medien ausführlich über derlei Geschäfte berichten. In fragilen Staaten sind solche permissiven Bedingungen häufig bereits vorhanden, in besser funktionierenden Gemeinwesen werden sie vorzugsweise durch Korruption geschaffen. Korruption als Verbrechen mit zwei Tätern und ohne Opfer ist das ideale Instrument, um ungewollte Einmischung in das illegale Erwerbsleben präventiv zu verhindern.

Auf die fatale Wirkung von Korruption auf Entwicklung und Demokratie muss nicht erneut hingewiesen werden. Die hohen Gewinnspannen im organisierten Verbrechen stellen jedenfalls ausreichend Mittel zur Verfügung, um bis in höchste Ebenen systematisch korrumpieren zu können. Es entstehen so genannte „captured states“ oder spezifisch im Falle von Drogenkriminalität „narco states“. Im Umkehrschluss kann man dort, wo organisiertes Verbrechen agiert, aber kaum öffentlich wird, von erfolgreichen Korruptionsstrategien ausgehen. Wenn dieses Mittel nicht mehr fruchtet, etwa wenn eine große Zahl korrupter Beamter aus dem Dienst entlassen wird, greifen organisierte Kriminelle häufig zur Einschüchterung und Androhung von Gewalt, um entgegenkommendes Verhalten staatlicher Stellen, Medien und Zivilgesellschaft zu erzwingen. Im Gegensatz zur marktregulierenden Gewalt erfüllt diese Form, ähnlich dem Terrorismus, kommunikative Zwecke. Es ist kein Ausdruck irrationaler Blutrünstigkeit, wenn in Mexiko Leichen neuerdings an Brücken aufgehängt, geköpft an Straßenkreuzungen abgelegt oder mit bestimmten Botschaften versehen werden. Das Mordopfer wird gewollt zum Träger einer Nachricht bestimmt, die vor unerwünschtem Verhalten Dritter warnen soll. Strategische Korruption und kommunikative Gewalt sind zwei Seiten derselben Medaille – „plata o plomo“, wie man in Lateinamerika sagt, Silber oder Blei, verfolgen denselben Zweck: die Neutralisierung staatlicher Reaktionsfähigkeit gegenüber illegalen Tätigkeiten.

Keine Chance für fragile Staaten

Weil sie den Staat in seinen Kernfunktionen lähmen, sind Korruption wie Gewalt zentrale Hemmnisse für eine demokratische Entwicklung, gute Regierungsführung oder den mühsamen Prozess des Aufbaus staatlicher Strukturen. Hinzu kommen die durch organisiertes Verbrechen häufig ausgelösten Nebeneffekte wie rasant steigende Kosten für private Sicherheit, steigender Drogenkonsum und die Verbreitung von Kleinwaffen, die allesamt fatale Entwicklungsrisiken bergen. Maßnahmen der internationalen Gemeinschaft zur Stabilisierung oder zum Aufbau fragiler und gescheiterter Staaten werden durch die Verbreitung organisierter Kriminalität torpediert. Um es an einem Beispiel zu verdeutlichen: Nur 100 Kilogramm reines Kokain – bei einer grob geschätzten Jahresproduktion zwischen 800 und 1000 Tonnen im Anden-Raum – erzielen in Deutschland einen Straßenverkaufswert, der der gesamten jährlichen Entwicklungshilfe an Guinea-Bissau entspricht. Die jahrelangen Bemühungen der Gebergemeinschaft – und Deutschlands – für ein Statebuilding können durch massive Kriminalität schnell zunichte gemacht werden. Mühsam aufgebaute Strukturen guter Regierungsführung werden mit den Mitteln der Korruption und der Einschüchterung schnell wieder zerstört.

Schwache oder scheiternde Staaten sind äußerst attraktiv für das organisierte Verbrechen und aufgrund eben dieser Attraktivität bedrohlich für die internationale Staatengemeinschaft. Die Schwäche eines oder mehrerer ihrer Mitglieder macht auch die Staatengemeinschaft insgesamt verletzlicher. Die Verbreitung organisierter Kriminalität unterhöhlt staatliche Leistungsfähigkeit durch destabilisierende Gewalt, durch die Finanzierung und Verlängerung von bewaffneten Konflikten und durch die Korrumpierung und Neutralisierung staatlicher Funktionsweise noch weiter und schwächt damit nicht nur die betroffenen Länder. Das Angebot illegaler Güter in Deutschland und Europa ist nicht die größte Gefahr. Weit mehr als der Handel mit illegalen Drogen aus Südasien und Lateinamerika, weit mehr als der Menschenhandel aus Osteuropa, Zigarettenschmuggel oder Schleuserkriminalität sind die sekundären Auswirkungen der Verbreitung organisierten Verbrechens eine außen-, sicherheits- und entwicklungspolitische Herausforderung für Deutschland und Europa. Die potenziellen Folgen einer immer häufiger zu beobachtenden Schwächung fragiler Staaten sind längst aus der Debatte über scheiternde Staaten bekannt. Wirkungsmächtige außen- und entwicklungspolitische Instrumente, um die massive Verbreitung organisierter Kriminalität effektiv eindämmen zu können, müssen derweil erst noch gefunden werden.

DANIEL BROMBACHER ist Stipendiat der Institutsleitung bei der Stiftung Wissenschaft und Politik und forscht zum Thema organisierte Kriminalität.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2010, S. 20-25

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