Neustart der Geschichte
Konkurrenz, Konfrontation, Kooperation? Es ist an der Zeit, darüber zu entscheiden
Wir befinden uns in einer Periode des Übergangs. Die Demokratien regieren die Welt nicht mehr allein; zu den „Aufsteigern“ unter den großen Mächten gehören auch autoritäre Regime. Welche Form der Global Governance sollten wir anstreben? Das wiedererstarkte Russland will – schon aus Eigeninteresse – international kooperieren. Aber der Westen muss aufhören, Moskau vor den Kopf zu stoßen.
Folgenschwere Veränderungen haben die internationalen Beziehungen in ein neues Stadium katapultiert. Mit vielen Problemen kann die Welt bisher nicht erfolgreich umgehen: Klimaveränderungen, Proliferation von Nuklearwaffen, Terrorismus, Zerfall der internationalen Governance vor allem auf dem Gebiet der Sicherheit und des Rechts und die Abwertung der internationalen Institutionen.
Diese Veränderungen gehen einher mit dem Aufstieg neuer kapitalistischer Mächte neben den traditionellen westlichen Mächten, der Umverteilung des Welt-Bruttosozialprodukts von Europa nach Asien, dem Erstarken eines – verglichen mit dem traditionellen demokratischen Modell Europas und der USA – autoritären Entwicklungsmodells, wie es von den neuen erfolgreichen Nationen angewandt wird, der Schwächung der internationalen Position der westlichen Mächte, der Umverteilung der Energieressourcen von den Verbraucher- hin zu den Förderstaaten und – nach einem Jahrzehnt liberaler Entwicklung – ein erneutes Erstarken der Staatsmacht und des Dirigismus.
Die neue industrielle Revolution in den asiatischen Staaten hat zu einem bisher noch nicht gesehenen Anwachsen des Wohlstands geführt. Noch wichtiger ist aber, dass dies Hand in Hand ging mit der Umverteilung des internationalen Reichtums in die Hände neuer Führungseliten. In den achtziger und neunziger Jahren haben die entwickelten Nationen von der Globalisierung profitiert, doch jetzt ändert sich das, und die neuen Führer beweisen höhere Effizienz im Ausnutzen der Möglichkeiten der Globalisierung.
Noch kritischer wird sich aber auf längere Sicht der Niedergang der moralischen und intellektuellen Autorität des Westens auf dem Terrain der Entwicklung einer internationalen Zukunftsplanung auswirken. Der Westen hat zu viele Fehler gemacht und sich einer viel zu eigensüchtigen Rhetorik bedient. Das bringt natürlich im Westen Unsicherheit und Argwohn hervor. Da man nicht fähig gewesen ist, sich die wahren Gründe für die eigenen Ängste einzugestehen, versucht der Westen nun zurückzuschlagen.
Gleichzeitig hört niemand den Vordenkern der neuen „Zweiten Welt“ zu und/oder diese sind zu schüchtern, um offen das Wort zu ergreifen.1 Dies hat zu einem intellektuellen Vakuum geführt. Wenn die Völker und ihre Führungen daran scheitern, zu verstehen, was geschieht und wohin die Reise geht, dann neigen sie oft dazu, auf überholte Rezepturen zurückzugreifen. Eine neue Entwicklungsstufe ist erreicht. Der Kalte Krieg endete mit dem Zusammenbruch des Kommunismus, dem zwölf bis vierzehn Jahre einer Nachfolgephase folgten. Anfang des 21. Jahrhunderts begann eine neue Periode, die ich als „NEK“ – „Epoche der Konkurrenz (Konfrontation) oder hoffentlich Kooperation“ – bezeichnen möchte, eine Periode des Übergangs, der Irrwege und des Wettbewerbs aller gegen jeden.
Die Schwächung der traditionellen Bastionen des demokratischen Entwicklungsmodells hat dem Ideal der politischen Demokratie einen schweren Schlag versetzt. Es hat unter dem wirtschaftlichen Erfolg der autoritären Nationen gelitten. So entwickelt sich etwa China sehr viel besser als das demokratische – wenn auch immer noch weit von einer vollständigen Demokratie entfernte – Indien. Das teildemokratische Kuwait hinkt hinter den Monarchien des Persischen Golfes her. Der demokratische Libanon und der palästinensische Staat, in denen Radikale demokratisch an die Macht gewählt wurden, stecken in den Wirren von Bürgerkriegen. Ihren autoritäreren arabischen Nachbarstaaten geht es besser.
Tatsächlich hat sich herausgestellt, dass zumindest auf absehbare Zeit der eine und alleinige leuchtende Pfad der Menschheit durch mehrere Pfade ersetzt worden ist. Bis zu den neunziger Jahren gab es noch zwei leuchtende Pfade – den demokratischen Kapitalismus und den Kommunismus. Der letztere ist schmählich in sich zusammengefallen.
Der Westen feierte daraufhin den scheinbar unwiderruflichen Endsieg („das Ende der Geschichte“). Zu der Genugtuung, einen moralischen Sieg errungen zu haben, kam noch hinzu, dass der Westen in den Genuss einer weltweiten Umverteilung des Reichtums menschlicher und anderer Ressourcen zu seinen Gunsten kam. Letztlich kam dieser Prozess jedoch zum Stillstand, und durch den wirtschaftlichen Abschwung wurde er geradezu umgedreht. Die Hauptrolle spielte bei dieser Entwicklung der Erfolg der neuen kapitalistischen und relativ autoritären Staaten. Es ist sehr wahrscheinlich, dass der Rückschlag für die traditionellen westlichen Demokratien nur ein vorübergehender ist. Die große Mehrheit der wohlhabenderen Länder sind kapitalistische Demokratien, und es ist sehr wahrscheinlich, dass mit zunehmendem Reichtum auch die neuen kapitalistischen Staaten sich in Richtung mehr Demokratie bewegen werden. Doch Geschichte geschieht im Hier und Jetzt – und derzeit und wahrscheinlich für das nächste Jahrzehnt gilt, dass der Westen den geopolitischen, wirtschaftlichen und ideologischen Wettbewerb verlieren wird.
Zusätzlich waren in den letzten Jahren dramatische Veränderungen auf dem Energiesektor zu beobachten. Vor einem Jahrzehnt kontrollierten noch die westlichen „Großen“ und ihnen gefügige Regierungen der Förderländer 85 bis 90 Prozent der weltweiten fossilen Brennstoffreserven. Heute ist die Situation genau umgekehrt: Mehr als 90 Prozent der außerhalb der Vereinigten Staaten zugänglichen fossilen Brennstoffreserven befinden sich im Besitz und unter der Kontrolle staatlicher Unternehmen der Förderstaaten, die sehr viel weniger vom Westen abhängig sind.
Diese Veränderungen auf dem Energiesektor haben besonders in Europa ein akutes Gefühl der Verletzbarkeit und Verunsicherung hervorgebracht. Trotz aller Phrasen über die Diversifizierung der Energieversorgung an Russland vorbei realisieren die Europäer doch, dass sie keine wirkliche Alternative zu Russland haben, sich zunehmend auf Russland und andere auswärtige Quellen verlassen müssen. Russland dagegen verfügt inzwischen über alternative Absatzmärkte für sein Gas und Öl – im Osten und im Inland.
Angesichts dieser Veränderung im internationalen Kräftespiel denkt man im Westen, nach 15 Jahren des Auseinanderdriftens, wieder über eine Annäherung nach. Sogar John McCain, der voraussichtliche Präsidentschaftskandidat der Republikaner, hat die Idee von einer neuen „Allianz der Demokratien“, die von amerikanischen Vordenkern2 in Umlauf gebracht wurde, begrüßt. Auch einige Europäer haben, verängstigt angesichts ihrer neuen Mitbewerber, ähnliche Ideen veröffentlicht. Am deutlichsten hat sich der frühere französische Premierminister Edouard Balladur3 dafür ausgesprochen.
Die Vorstellung vom Aufbau einer Gemeinschaft von mächtigen und verantwortungsvollen Staaten, die den Kampf gegen die neuen Bedrohungen der Menschheit anführt, ist per se vernünftig. Ich selber habe vor fast einem Jahrzehnt an einer Veröffentlichung zu diesem Thema mitgewirkt.4 Doch so, wie das Projekt von der „Liga der Demokratien“ jetzt präsentiert wird, hat es den Beigeschmack eines überkandidelten, wenn nicht gar makabren Paktes der Großen gegen die Kleinen. Sollte dieses Projekt so installiert werden, kann damit nicht nur eine neue Welle des Wettbewerbs angeheizt werden, sondern damit auch dessen Umschlagen in eine systemische Konfrontation.
Russland hat in vieler Hinsicht von den oben geschilderten Veränderungen profitiert. Zum ersten Mal in der Geschichte scheint das Land unter glücklichem Vorzeichen unterwegs zu sein. Besonders deutlich wird das Anwachsen seines internationalen Gewichts vor dem Hintergrund des relativen Niedergangs der Vereinigten Staaten wegen der Irak-Intervention und im Hinblick auf Europa mit seiner Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners und der zeitweiligen Orientierungslosigkeit. Die andauernde Destabilisierung im Nahen Osten hat dazu geführt, dass Russlands Stimme wieder mehr Gewicht hat. Sogar Chinas Wachstum hat Russlands Bedeutung vergrößert, nämlich als mögliches Gegengewicht zu der aufstrebenden Supermacht, als deren Integrator oder zeitweiliger Verbündeter. Die wachsende Nachfrage nach fossilen Brennstoffen lässt Russland als „Energie-Supermacht“ erscheinen (was natürlich ein Oxymoron ist).
Dennoch war vieles an Russlands Erfolg hausgemacht. Unter Wladimir Putin ist es wieder auferstanden aus dem Zustand (1998/99) eines fast völlig gescheiterten Staates. Ein großer Teil des Wirtschaftswachstums generiert sich heute aus dem Nicht-Öl- und Gassektor. Russland hat – trotz großer Schwierigkeiten und entgegen aller Voraussagen – in Tschetschenien einen politischen Sieg gegen die Separatisten/Islamisten gewonnen, wenn auch zu einem fürchterlichen Preis. Die meisten Russen glauben, dass die momentanen Spannungen mit dem Westen eine Folge von dessen Unzufriedenheit mit dem neuen Selbstbewusstsein Russlands sind. Dies stimmt nur zum Teil. Russlands Wiederaufstieg und seine Bemühungen, jene Regeln zu verändern, die während der Jahre seines Beinahezusammenbruchs aufgestellt wurden, treffen nun auf die Schwäche des Westens und dessen Versuche, seine Position wiederherzustellen. Um es im Militärjargon zu formulieren: „Der Gegenangriff ist auf einen Gegenangriff gestoßen.“
Russland ist zum Symbol für viele Veränderungen zum Nachteil des Westens geworden. Als grundsätzlich europäische Nation wird es doch als Teil des aufsteigenden Asiens angesehen – ein schnell wachsender halbautoritärer Staat, der die Schwäche der ehemals Allmächtigen ausnutzen will. Russland wirkt wie ein erfolgreiches Alternativmodell des autoritären Kapitalismus, das relativen Wohlstand und einen angenehmen Grad an politischer Freiheit für die meisten Menschen zur Verfügung stellt. Vor einem Jahrzehnt sah es noch so aus, als würde Russlands Energiereichtum dem Westen zufallen. Nun wird er von Moskau kontrolliert. In den neunziger Jahren war Russland noch ein internationaler Bittsteller – heute verfügt es über die drittgrößten Währungsreserven der Welt.
Es ist wahr, dass Russland seinen Teil zu den Spannungen dadurch beigetragen hat, dass es hartnäckig versuchte, die Spielregeln, die während seiner Schwächephase aufgestellt worden waren, zu verändern. Es startete einige ungeschickte Aktionen (wie das Abdrehen des Gashahns für die Ukraine) und benahm sich oft arrogant, was angesichts der vielen Verletzungen der Vergangenheit zwar verständlich, aber dennoch unverzeihlich und unbegründet ist.
Russland will wieder mitspielen im Konzert der Mächte
Die Wiederaufbauphase Russlands ist fast beendet. Moskau ist mit seiner neuen Stellung und seinem Einfluss zufrieden und bereit, Mitspieler im Konzert der Mächte zu werden. Außerdem ist es sich trotz seines ungestümen Eigenlobs darüber im Klaren, dass Russland noch immer ein relativ rückständiges Land ist, mit einer veralteten und weiter verfallenden Infrastruktur, einem unglaublichen Grad an Korruption und schlechter medizinischer und sozialer Versorgung. Die Entwicklung der Wirtschaft auf eine postindustrielle Stufe hin muss fortgesetzt werden, um nicht mehr nur vom Energieexport abhängig zu sein.
Putin hatte mit Wirtschaftsreformen begonnen, driftete aber unvermeidlich ab auf das Gebiet der Konsolidierung der politischen Macht. Gestützt auf die bisherigen Erfolge hat Russlands Präsident nun eine Agenda für die grundlegende Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft aufgestellt. Es liegt auf der Hand, dass diese ohne wirtschaftliche und politische Liberalisierung nicht umgesetzt werden kann, ebenso wenig ohne enge Zusammenarbeit mit den führenden Nationen in den Bereichen Wirtschaft und Technologie – sowohl in Asien als auch im Westen. Angesichts der geopolitischen Herausforderungen wäre Russland auf lange Sicht nicht in der Lage, dieses alles unilateral zu erledigen.
Heute scheint die herrschende russische Klasse mit der neuen Macht und dem Ansehen des Landes zufrieden zu sein, sie kennt aber auch die Schwachstellen. Und sie ist auch immer stärker zur Zusammenarbeit bereit. Die Frage ist nur, ob der alte Westen willens ist, mitzuziehen. Hoffentlich wird die Ratifizierung des Vertrags von Lissabon und eine stufenweise Integration der „neuen Europäer“ den Weg frei machen zu einem selbstbewussteren und effektiveren Europa. Eine neue amerikanische Administration könnte den Prozess einleiten, der zu einem Abzug aus dem Irak führt, zu einer wenigstens teilweisen Wiederbelebung der amerikanischen Soft Power und zu einer realistischeren, moderneren und multilateralen Außenpolitik.
Die tektonischen Erschütterungen der Weltordnung werden nicht verschwinden. Dennoch könnte Russland bereit sein, seinen Anteil an der Neuen Epoche der Konkurrenz in eine Neue Epoche der Kooperation einzubringen. Eine neue Runde könnte nachhaltiger sein als die Kooperation in den neunziger Jahren, die unter dem Diktat der Gewinner des Kalten Krieges stand und daher zum Scheitern verurteilt war. Tatsächlich bin ich erstaunt und erfreut, wie relativ mild und zivilisiert die Gegenreaktion bisher gewesen ist.
Andererseits kann sie sich auch auf eine neue Konfrontation zubewegen. Dies könnte passieren, wenn eine politische Krise eskaliert oder falls der Iran angegriffen wird. Ein offensichtlicher Weg zur Konfrontation – zumindest zwischen Russland und dem Westen – wäre die Umsetzung der Idee von der „Union der Demokratien“ durch die Ausdehnung der NATO in die Ukraine. Solch ein Schritt würde eine ganze Serie von Krisen entlang der zurzeit so offenen russisch-ukrainischen Grenze auslösen. Sowohl in Russland als auch in der Ukraine würde das Gefühl einer geteilten Nation entstehen.
Früher musste Moskau die beiden ersten Ausweitungswellen der NATO in Richtung Osten widerwillig schlucken. Es hatte einfach nicht die Mittel, um sich zu widersetzen. Dieses Mal wird es für die russische Elite in ihrer gegenwärtigen kämpferischen Stimmung schlechterdings unmöglich sein, diese Herausforderung demütig zu ignorieren. Russland würde dies als eine offene Kriegserklärung betrachten und zurückschlagen.
In den letzten Jahren hat Russland als revisionistische Macht gehandelt; die Ausdehnung der NATO könnte es in eine revanchistische verwandeln. Russland könnte sogar seine aktuelle Modernisierung opfern; die Verluste würden mit der Notwendigkeit wegrationalisiert werden, dass es gelte, ein viel schlimmeres Szenario zu verhindern – einen großen Krieg. Die Angst, dass wegen der massiven Kräfteverschiebungen und des Niedergangs der Welt-Governance wieder ein Weltkrieg ausbrechen könnte, ist schon jetzt in russischen Expertenkreisen weit verbreitet.
Wie kann eine neue Systemkonfrontation verhindert werden?
Zunächst sollte sich Russland weiter auf seinen Wiederaufstieg konzentrieren und sich aus schwer einschätzbaren geopolitischen Spielen heraushalten. Die Modernisierung der Gesellschaft, des politischen und wirtschaftlichen Systems sollten die Punkte eins, zwei und drei auf der nationalen russischen Agenda bleiben. Die Elite sollte ihre fähnchenschwenkende, zu selbstsichere Stimmung ablegen. Alle Voraussagen stimmen darin überein, dass es in absehbarer Zukunft Russland nicht gelingen wird, seinen bisherigen Anteil am weltweiten Bruttosozialprodukt von gegenwärtig 2,5 Prozent zu erhöhen. Wenn es nicht in der Lage ist, kontinuierlich eine jährliche Wachstumsrate von sieben bis zehn Prozent zu erreichen, wird sich dieser Anteil eher noch verringern. Darüber hinaus stecken die Faktoren, die zum Erfolg Russlands in den letzten Jahren beigetragen haben, auf lange Sicht voller schwerwiegender Probleme.
Russlands Umwandlung in eine Wissensökonomie sollte wirklich stattfinden, nicht nur virtuell, wie das zurzeit der Fall ist. Not tut ein ständiger Modernisierungsprozess des politischen Systems, damit das Land nicht in einen unbeweglichen Autoritarismus absinkt. Wenn die halbautoritären staatskapitalistischen Methoden nicht dafür eingesetzt werden, in einem günstigen ökonomischen und geopolitischen Umfeld ein neues Wirtschafts- und Gesellschaftssystem zu entwickeln, ist der Untergang Russlands unvermeidlich.
In seiner Außenwirtschaftspolitik sollte Russland systematisch einen Teil seiner Handelsinvestitionen und Energielieferungen auf die wachsenden asiatischen Märkte hin umorientieren; gleichzeitig müssen Anstrengungen unternommen werden, die Beziehungen zu den großen europäischen Nationen und der EU zu kräftigen – wenn auch natürlich nicht auf Kosten russischer Interessen. Russland kann es sich einfach nicht erlauben, seine Verbindungen zu Europa zu riskieren, ohne Gefahr zu laufen, seine wiedergewonnene Identität, die weitgehend eine europäische ist, zu verlieren.
Russland sollte auf bestimmten Gebieten mit der NATO zusammenarbeiten, aber natürlich nur dann, wenn sich die NATO nicht mittels ihrer Ausweitungsbestrebungen selber einer solchen Zusammenarbeit entzieht. Im Grunde könnte die NATO, wenn sie denn überlebt, auf lange Sicht die Grundlage für eine dringend benötigte weltweite Sicherheitsallianz werden.
Auf internationalem Gebiet sollte sich Russland – auch wenn es keine Supermacht darstellt, ist es doch eine der einflussreichsten Mächte – darauf konzentrieren, einige parallele Aufgaben zu erfüllen: die Aufrechterhaltung und Verbesserung dessen, was von der internationalen Rechtsordnung übriggeblieben ist; die Erhaltung des UN-Systems und eben auch – trotz aller Irritationen über jüngste einseitige Einmischungen in innere Angelegenheiten – solcher Organisationen wie der OSZE; die Stärkung der Kontrolle strategischer Waffen, auch wenn es hiermit nur darum geht, ein politisches Hindernis auf dem Weg zur nuklearen Proliferation zu schaffen. Russland sollte eine Kooperation mit den führenden Atommächten aufbauen, eventuell auch unter Einschluss von Indien und China, um sich darüber zu verständigen, wie mit der bedrohlichsten nuklearen Gefährdung umzugehen ist – einem destabilisierten Pakistan.
Es ist sehr wahrscheinlich, dass sich der Iran für den Status einer Atommacht entscheiden wird. Die führenden Nuklearmächte sollten gemeinsam Krisenreaktionspläne vorbereiten, um eine Kettenreaktion der Atomwaffenverbreitung zu verhindern und gleichzeitig allen Ländern des Nahen Ostens Schutz gegen atomare Bedrohung zu garantieren. Israel, Saudi-Arabien und andere Nationen der Region dürfen im Falle einer neuen Bedrohung nicht allein gelassen werden. In der Zwischenzeit sollte eine „Koalition großer Mächte“ die Vereinigten Staaten zum „Big Deal“ mit Teheran zwingen, um den Iran so daran zu hindern, zur Atomwaffenmacht zu werden. Hoffentlich bleibt uns dafür noch genügend Zeit.
Russland sollte zur Stärkung der Schanghai Organisation für Zusammenarbeit (SCO) beitragen, um sie in eine neue gewichtige Allianz zu verwandeln, die in der Lage ist, das politische Sicherheitsvakuum in Zentralasien und am Persischen Golf auszufüllen. Auch Indien und eventuell sogar der Iran sollten einbezogen werden.
Da es heute zahlreiche Lücken auf dem Gebiet der Global Governance gibt, können viele, sehr unterschiedliche neue Institutionen entstehen. Die gerade begonnene Zusammenarbeit zwischen den BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indien und China) kann dafür als gutes Beispiel dienen. Hier muss ich mich nun auf gefährliches Terrain begeben: Ich möchte die Vorstellung von Multipolarität, die gegenwärtig jedermanns Lieblingsmodell zu sein scheint, anzweifeln. Sie wird zum einen als Gegengewicht zur Unipolarität betrachtet – die nur nie existiert hat. Oder es ist zum anderen die alte Herangehensweise nach dem Prinzip des Gleichgewichts der Kräfte, allerdings in einer eindeutig viel dynamischeren Welt. Mit anderen Worten: ein Rezept für den Weg ins Chaos.
Um den neuen Herausforderungen begegnen zu können, müssen wir zurückkehren zur Vorstellung von einem neuen „Konzert der Mächte“, einer G-8-13, die sich zusammensetzt aus mächtigen, verantwortungsvollen Nationen und der einzigen intakten und erfolgreichen supranationalen Organisation – der EU. Diese Institution sollte mit den UN zusammenarbeiten, um diese zu stärken, ohne aber abhängig zu sein von den Entscheidungen der fast 200 dort vertretenen Nationen. Um effektiv zu sein, sollte sie ein ständiges Sekretariat einrichten und über ständige Meinungsbildungs- und Umsetzungsmechanismen verfügen – selbst über ein Vertragswerk, wenn zunächst auch auf einzelne Funktionen ausgerichtet. Letztendlich sollte die G-8-13 Wege finden, sich auf gemeinsame Strategien zu verständigen, an diesen festzuhalten und hoffentlich auch fähig sein, sie umzusetzen. Darüber hinaus sollte eine Gruppe von neuen Ideenschmieden eingerichtet werden, die einen klareren Blick auf die Welt vermitteln können als die meisten heutigen Institutionen, die gefangen sind in althergebrachten Denkweisen und eigenen Interessen.
Für Energiefragen muss eine besondere institutionelle Betreuung geschaffen werden. Dort herrscht derzeit ein Verdrängungswettbewerb, der sich bedrohlich (siehe die Überlegungen zu einer Energie-NATO) militarisiert. Die Internationale Energieagentur (IEA) ist da nicht hilfreich, sie beschränkt sich fast ausschließlich auf Beobachterfunktionen. Es ist viel die Rede gewesen von Kartellen und Gegenkartellen zur Einkesselung oder von Umgehungs-Pipelines gegen Energie-Imperialismus. Doch der tatsächliche Konfliktpunkt zwischen Förderern und Verbrauchern wird eigentlich nie erwähnt: Es geht um den Preis. Und der Preis ist verhandelbar, solange er nicht Sicherheitsüberlegungen unterworfen wird. Um dieses absurde Tauziehen zu überwinden, hat Russland Europa einen Interessenausgleich vorgeschlagen: Europa erhält Beteiligungen an den russischen Öl- und Gasfeldern, Russland beteiligt sich am europäischen Verteilungsnetz. Damit liegt – „Champagner für alle!“ – das Angebot für ein europäisches Energiekonsortium oder eine Energieallianz auf dem Tisch. Auf der politischen Ebene haben die Europäer diese Offerte bisher noch nicht akzeptiert. Die Amerikaner, von der Angst geplagt, ihren Einfluss in Europa zu verlieren, bekämpfen das Abkommen so intensiv wie vor fast einem halben Jahrhundert das über die Gaspipeline.
Mir ist klar, dass die Vorstellung von G-8-13 als ein weiterer Ausdruck von „reaktionärem Romantizismus“ betrachtet werden kann. Ich erkenne die Berechtigung solcher Kritik durchaus an. Aber ich sehe keine Alternative, wie man eine mögliche Serie von Konflikten, die zu einem großen Krieg führen können, sonst noch verhindern könnte. Denn noch nie in der Menschheitsgeschichte haben wir in so kurzer Zeit eine solche Vielfalt grundlegender Veränderungen auf so vielen Gebieten beobachten können: Wirtschaft, Klima, Hunger, Sicherheit und atomare Herausforderung. Hinzu kommen noch intensive, vielfältige und vielschichtige Veränderungen der Machtstrukturen.
Wenn wir fähig sind, uns diesen Veränderungen und dem Tempo, in dem sie stattfinden, anzupassen, wird die Zukunft uns mehr Freiheit, Demokratie und Wohlstand bringen. Doch dazu brauchen wir Frieden. Das beginnende 20. Jahrhundert eröffnete am Vorabend der Welle der Globalisierung eine vergleichbare Chance. Doch die Governance versagte, und Europa und die Welt stürzten in zwei fürchterliche Kriege und zwei totalitäre Systeme. Deshalb sollte der scheinbar überholte Kampf für Frieden und Stabilität erneut zur Schlüsselfigur der internationalen Politik werden. Wenn es uns gelingt, mit den neuen Herausforderungen umzugehen, dann wird die Neue Epoche der Kooperation Wirklichkeit werden und nicht einfach ein weiteres Wolkenkuckucksheim.
Prof. Dr. SERGEJ A. KARAGANOW, geb. 1952, ist stellv. Direktor des Europa-Instituts der Russischen Akademie der Wissenschaften und Vorsitzender des Redaktionsbeirats der Zeitschrift Russia in Global Affairs.
- 1Zwischen einigen Intellektuellen hat es erfrischende Denkanstöße gegeben. Vgl. Azar Gat: The Return of Authoritarian Great Powers, Foreign Affairs, Juli/August 2007, S. 59–69; Parag Khanna: Waving Goodbye to Hegemony, The New York Times Magazin, 27.1.2008.
- 2Vgl. James Lindsay und Ivo Daalder: Democracies of the World, Unite, The American Interest online, November/Dezember 2006.
- 3Edouard Balladur: Pour une Union occidentale entre l’Europe et les Etats-Unis, Paris 2007.
- 4 Vgl. Graham Allison, Karl Kaiser und Sergej Karaganow: Towards a New Democratic Commonwealth, Cambridge Massachusetts 1996; dies.: The World needs a Global Alliance for Security, International Herald Tribune, 21.11.2001.
Internationale Politik 7-8, Juli/August 2008, S. 96 - 104