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01. Juli 2002

Vor neuen Herausforderungen

Die künftige Sicherheitspolitik Russlands

Die gegenwärtige Destabilisierung der internationalen Beziehungen und die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen stellen nach Ansicht des Vorsitzenden des Moskauer Rates für Außen- und Sicherheitspolitik die größte Bedrohung und zugleich Herausforderung für Russlands Sicherheit dar. Er diskutiert vor diesem Hintergrund die strategischen Optionen Russlands.

Die so genannte Annäherung Russlands an den Westen kam nur für jene in Russland und anderswo überraschend, die entweder die wirklichen Interessen des Landes, die sich aus den neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen ergeben, nicht verstanden haben oder sie nicht als solche anerkennen wollten.

Die größte Herausforderung ist die tief gehende und langfristige Destabilisierung der internationalen Beziehungen, besonders in Asien. Ursache dafür sind folgende Faktoren: die möglicherweise radikalen Transformationen der meisten nahöstlichen Regime, die größer werdende Gruppe von „failing states“ – einige davon auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion –, die wachsenden Spannungen in Südasien, die rasche und unterschiedliche Entwicklung der südostasiatischen Staaten, und natürlich die unvorhersehbaren langfristigen geopolitischen Auswirkungen des erstaunlichen Wirtschaftswachstums in China.

Die größte neue Bedrohung der internationalen Sicherheit sowie derjenigen Russlands ist die beginnende Verbreitung von Massenvernichtungswaffen (MVW), insbesondere nuklearer.

Die internationale Gemeinschaft hatte nicht darauf geachtet, dass Pakistan und Indien eigene Nuklearwaffenpotenziale aufgebaut hatten; dadurch ist dieses Problem in den letzten Jahren ganz besonders drängend geworden. Nach einer Zeit der Untätigkeit der führenden Nationen und der Krise in Afghanistan (die dazu führte, dass beide Länder faktisch zu Verbündeten des Westens geworden sind) haben sowohl Indien als auch Pakistan den Status einer Atommacht und dadurch ein neues Maß an internationalem Prestige und Einfluss erworben. Als Folge dieser bedeutenden Veränderung ist das vorhandene Nichtverbreitungsregime sowohl psychologisch wie politisch beträchtlich geschwächt worden.

Dieser Umstand wurde verschärft durch die amerikanischen Beschlüsse, einseitig den ABM-Vertrag von 1972 zu kündigen und auf eine Ratifizierung des Umfassenden Teststoppvertrags von 1996 zu verzichten. Die amerikanische Kündigung des ABM-Vertrags wird für die chinesische Führung wahrscheinlich ein zusätzlicher Anreiz sein, die eigenen Bemühungen um die Entwicklung eines Kernwaffenpotenzials zu beschleunigen. Falls dies geschehen sollte, wird auch Indien einige Gegenmaßnahmen ergreifen, die ihrerseits wiederum eine gewisse Wirkung auf Pakistan haben werden.

Man kann mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass genau in diesem „Dreieck“ ein neuer nuklearer Rüstungswettlauf beginnen wird. Ganz offensichtlich würde diese Art von Wettlauf die umliegenden Staaten dazu bewegen, ebenfalls Kernwaffen zu erwerben. Vor allem Taiwan, Südkorea, Japan und Iran werden wahrscheinlich zu den Kandidaten gehören, die sich innerhalb der nächsten 15 Jahre um die Mitgliedschaft im Klub der Atommächte bewerben werden. Die zunehmende Destabilisierung der Lage im Nahen Osten verleiht der Frage des israelischen Nuklearpotenzials ganz offensichtlich eine neue Dimension.

Die zunehmende Instabilität im islamischen Osten, das sich rasch wandelnde Kräfteverhältnis in Asien insgesamt, steigendes nationales Selbstwertgefühl und antiwestliche Ressentiments in den relativ rasch wachsenden Volkswirtschaften des asiatisch-pazifischen Raumes und des Fernen Ostens, zusammen mit dem anhaltenden „jugoslawischen Syndrom“ und dem „Syndrom des Persischen Golfes“, die im Fall eines Angriffs gegen Irak sogar noch destruktiver werden könnten, werden als zwingende Gründe angesehen, dass immer wieder neue Länder entweder den Erwerb von Nuklearwaffen oder von anderen Massenvernichtungswaffen anstreben. Bemühungen, neue Atomkraftwerke in den Ländern der Region zu errichten, würden die Voraussetzung schaffen für die Weiterverbreitung von nuklearen Technologien und Waffen. Moderne Atomkraftwerke produzieren Abfallstoffe in Form von waffenfähigem Uran oder Plutonium; das Betreiben von Atomkraftwerken ermöglicht es zudem, Erfahrungen im Umgang mit spaltbarem Material zu sammeln.

In mehr als 40 Ländern sind bereits Kernkraftwerke in Betrieb, die dazu genutzt werden können, waffenfähiges Spaltmaterial herzustellen. Von einigen dieser Länder weiß man, dass sie eher instabil sind. Darüber hinaus gibt es in den Laboratorien von über 100 Ländern Anlagen mit radioaktivem Material, die im Großen und Ganzen ohne jede wirksame internationale oder nationale Aufsicht sind.

Nichtweiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen

Dieses Thema ist für Russland besonders wichtig, liegt es doch recht nahe der Region schwärender Instabilität sowie in der Nähe zahlreicher Länder, die in der Lage sind, Massenvernichtungswaffen herzustellen. Theoretisch scheint die Wahrscheinlichkeit, dass Terroristen Massenvernichtungswaffen gegen Russland einsetzen, offenbar langsam zuzunehmen. Politisch kann Russland durch Maßnahmen zur Abwehr der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen nur gewinnen, denn dies ist genau das Gebiet, auf dem die Interessen der Russischen Föderation und diejenigen anderer führender Mächte der Welt zusammenfallen.

Formell stilisierte Russland sich zu einer tragenden Säule des Regimes der nuklearen Nichtweiterverbreitung, doch in Wirklichkeit hat es in dieser Angelegenheit eine eher passive Politik verfolgt, was zur Folge hatte, dass das Land nicht so sehr Subjekt, sondern vielmehr Objekt oder Ziel einer Politik war, die darauf abzielte, Nichtweiterverbreitung zu garantieren. Russland, das ungeheure Vorräte an spaltbarem Material und chemischen Waffen besitzt, die es von der ehemaligen Sowjetunion geerbt hat, braucht bei seinen Bemühungen, sich von diesem überflüssigen und gefährlichen Erbe zu befreien, internationalen Beistand. Unglücklicherweise haben die defensive Einstellung und eher passive Haltung der russischen Führung auf diesem Gebiet in den neunziger Jahren in einem gewissen Maß dazu beigetragen, den Eindruck zu erwecken, dass Russland fast die Hauptquelle für Bedrohungen durch die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen sei und dass es weniger Interesse als andere große Mächte daran habe, präventiv zu handeln.

Abgesehen von der Tatsache, dass die Gefahr der Weiterverbreitung jetzt real wird und eher die instabilen Regionen der Welt betrifft, ist sie weitaus größer geworden, weil der internationale Terrorismus aktiver geworden ist. Für sich genommen ist der internationale Terrorismus wohl kaum als ein neues Risiko zu bezeichnen.

Das ständige Anwachsen dieser Gefahr kann mit folgenden vier Faktoren erklärt werden:

1. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich Terroristen Massenvernichtungswaffen oder andere höchst zerstörerische Waffen beschaffen, hat in der letzten Zeit zugenommen. 2. Die Informationstransparenz der modernen Gesellschaft macht Anschläge für potenzielle Terroristen weitaus attraktiver. 3. Die moderne, postindustrielle Gesellschaft ist gegenüber Terroranschlägen zunehmend verwundbar geworden. 4. Schließlich werden terroristische Aktivitäten angesichts der wachsenden Ungleichheit zwischen den Ländern an Intensität und Schärfe zunehmen.

Eine neue große Herausforderung für die internationale wie die russische Sicherheit ist die tief sitzende Krise des Systems der internationalen Beziehungen und der internationalen Sicherheit. Während der Zustrom neuer Mitgliedsländer in die Vereinten Nationen anhält (die Anzahl hat inzwischen 190 überschritten, wobei die meisten der neuen Staaten den „failing states“ zuzurechnen sind), verliert die Organisation die Wirksamkeit und den internationalen Einfluss, den sie in der Vergangenheit hatte; der Entscheidungsfindungsprozess des Sicherheitsrats befindet sich offensichtlich in einer Krise, wobei die einseitigen Beschlüsse der Vereinigten Staaten und der NATO nur einen Teil des Problems darstellen.

Optionen für Russland

Theoretisch besitzt Russland eine ganze Reihe von strategischen Optionen. Die erste besteht in dem Versuch, ein Bündnis mit den benachteiligten Ländern zu schmieden, die unzufrieden sind mit den gegenwärtigen Trends der globalen Entwicklung, um eine Politik in Gang zu setzen für den Aufbau einer florierenden Wirtschaft sowie eines entsprechenden politischen Systems.

Die zweite Option besteht in einem Russland, das weiterhin zwischen einem politischen Kurs schwankt, der darauf angelegt ist, ein Bündnis mit den größeren industrialisierten und fortgeschrittenen Ländern der Welt einzugehen und einer Politik, diesen Ländern entgegenzutreten, besonders den USA, während in der Zwischenzeit die eigenen Ressourcen ständig weiter verbraucht werden. Die zweite dieser beiden Möglichkeiten ist von Russland in den Jahren 1995 bis 1999 verfolgt worden, wodurch es sich einige Rückschläge und Niederlagen einhandelte. Bei diesem Szenario ist es unwahrscheinlich, dass damit eine wirkungsvolle Antwort auf die neuen Herausforderungen gegeben wird. Doch gewiss wird Russland dieses Szenario blühen, sollte die dritte Option nicht wirkungsvoll in die Tat umgesetzt werden.

Diese dritte Option besteht in dem Versuch, konsequent den Kurs weiter zu verfolgen, der in den vergangenen anderthalb Jahren eingeschlagen wurde, um eine möglichst große Annäherung an den Westen herbeizuführen, Konfrontationen zu vermeiden und sich nur auf die lebenswichtigen nationalen Interessen zu konzentrieren. Auch wenn diese Politik zu einigen Enttäuschungen geführt hat, hat sie doch gewisse Erfolge gebracht in Form eines höheren nationalen Ansehens und größeren politischen Einflusses, mit der Lösung des Taliban-Problems und den Aussichten auf bessere Bedingungen für Russlands Integration in die Welt der entwickelten Länder. Verständlicherweise gibt es in diesem Szenario eine Anzahl Schwächen, ganz zu schweigen von den äußeren Schwierigkeiten, die sich aus seiner Durchführung ergeben.

Präsident Wladimir Putin wird offenbar von der Idee geleitet, dass Russland, um mächtig und wohlhabend zu werden, sich mit anderen wohlhabenden und mächtigen Ländern verbünden sollte. Zwar wird diese Option von einem bedeutenden Teil der Gesellschaft unterstützt, doch ist dies beim größeren Teil der russischen politischen Elite nicht der Fall, ganz zu schweigen von den traditionalistischen Kreisen, die sie in Verruf bringen.

Diese Option, die im Großen und Ganzen selbst vielen informierten Kreisen der russischen Gesellschaft als exotisch erscheint, muss noch ausformuliert und erklärt werden. Schlimmer ist, dass Russland anscheinend noch keinen langfristigen Aktionsplan besitzt, um dieses Ziel in die Tat umzusetzen. Es besteht der allgemeine Eindruck, dass wir auf neue Entwicklungen lediglich reagieren, wenn auch konstruktiv statt destruktiv und schnell statt langsam. In der Tat ist Russland in jüngster Zeit kaum durch politische Initiativen oder durch die Abgabe von Erklärungen aufgefallen. Die wenigen Ideen, die in diese Richtung bekannt geworden sind, sind fast alle schnell in Vergessenheit geraten. Leider nutzen wir nicht die gegenwärtige „intellektuelle Geschmeidigkeit“ der internationalen Gemeinschaft und das Fehlen von Ideen.

Die Option, ein neues strategisches Bündnis mit dem Westen anzustreben, kann wohl kaum eine vollständige Übereinstimmung der sicherheitspolitischen Ziele oder (noch weniger) eine Unterordnung Russlands unter die wichtigeren Partner bezüglich der Nationalinteressen und Verpflichtungen bedeuten. Es liegt auf der Hand, dass das Ziel hier darin besteht, Bereiche überschneidender Interessen zu identifizieren und zu entwickeln, eine politische Leitlinie zu definieren, um Konfrontationen zu vermeiden und,  wo immer möglich, Vereinbarungen sowie Instrumente zu schaffen für  konstruktives und kooperatives Engagement, wobei Unterschiede und nicht übereinstimmende Entwicklungsrichtungen bei einzelnen Fragen aufrechterhalten werden. Insbesondere sollten gezielt Bemühungen unternommen werden, um die Bereiche der positiven Kooperation weiter auszubauen und die verbleibenden Meinungsunterschiede Schritt für Schritt abzubauen oder, wenn nötig, zu umgehen.

Das angestrebte Ziel besteht darin, ein formelles, begrenztes Bündnis mit den Führungsmächten der Welt einzugehen und die klar umrissenen russischen Nationalinteressen zu unterstützen. Ein solches Bündnis soll nicht dazu führen, dass sich alle sklavisch an die allgemeine Linie halten. Vielmehr würde es aktive Bemühungen von Mitgliedsländern zulassen, die gemeinsam vereinbarten Politikkomplexe angemessen zu modifizieren, um den nationalen Interessen zu dienen. Von zentraler Bedeutung ist auch, dass eine derart begrenzte Allianz tatsächlich für eine bessere Regierungsführung zumindest auf dem Gebiet der Sicherheit sowie für einen besseren Umgang mit den neuen Herausforderungen sorgen könnte.

Ein Aktionsplan

Die russische Politik sollte im Hinblick auf dieses Ziel verschiedene Elemente enthalten. Erstens eine angemessene und klare Definition der  größten äußeren Gefahren. Die größte Bedrohung für Russland ergibt sich aus der zunehmenden Instabilität in Asien, der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen sowie aus Konflikten, einschließlich denjenigen  an der Peripherie Russlands.

Die zweite bedeutende Gefahr liegt  in der sich vertiefenden Kluft zwischen Russland und den fortgeschrittenen Nationen der Welt im Bereich von Technik, Information und Wirtschaftskraft. Dieser Trend birgt  für Russland ganz eindeutig die Gefahr, aus der Familie der Großmächte verdrängt und immer weniger in der Lage zu sein, den zukünftigen Bedrohungen seiner Sicherheit zu begegnen. Mit einer derartigen Definition von Bedrohungen könnte man folgende Politikziele formulieren:

1. Schaffung eines Bündnisses mit den fortgeschrittensten und wichtigeren Ländern der Welt, die Vermeidung von Konfrontationen wo möglich, zunehmende kooperative Verbindungen, die benötigt werden, um den neuen Sicherheitsherausforderungen zu begegnen, die besonders für Russland bedrohlich sind;

2. die Aufrechterhaltung enger Beziehungen zu China und Indien – den mächtigsten regionalen Partnern;

3. die Aufrechterhaltung ausreichender Nuklearwaffenpotenziale und der Fähigkeit, die offensiven Nuklearstreitkräfte für jede Eventualität, die sich in der zunehmend instabilen Welt ergeben könnte, zu modernisieren; ein verringertes, aber bedeutsames Arsenal wird auch benötigt, um die Vereinigten Staaten davon abzuhalten, zu einer Hegemonialmacht zu werden, und um das Aufkommen jeglicher regionaler Aggressoren zu verhindern;

4. eine Reform der Streitkräfte, der Sicherheitsdienste, der Zivilverteidigungspotenziale und des Ministeriums für Notstandsressourcen, um die nationalen Potenziale zur Abwehr neuer Bedrohungen sowie ihre Kompatibilität mit den entsprechenden Geräten anderer Länder sicherzustellen.

Der neue Ideenkomplex zur Sicherheitspolitik könnte sehr gut so zusammengestellt werden, dass er um einige Elemente, die von westlichen Partnern Russlands vorgeschlagen wurden, erweitert wird und er in Übereinstimmung mit der vereinbarten Politik gebracht wird. Diese Politik sollte verschiedene Elemente enthalten, u.a. das ernsthafte Bemühen, den am 28. Mai 2002 in Rom gegründeten neuen NATO-Russland-Rat in ein Organ kooperativen Erfahrungsaustauschs umzuwandeln, das benötigt wird, um spezifische Probleme wirksam zu lösen, noch wichtiger, um den politischen und psychologischen Boden für ein tiefer und weiter reichendes Bündnis vorzubereiten.

Doch Russland sollte sich jetzt darum bemühen, klar zu machen, dass dieser neue NATO-Russland-Rat nur einen begrenzten Nutzen hat und wohl kaum voll ausreichen kann zur Abwehr der neuen Sicherheitsherausforderungen, zu denen vor allem die Bedrohungen durch die MVW-Weiterverbreitung, die gefährlich zunehmende Instabilität und die militanten nationalistischen Bewegungen in einer ganzen Reihe von Ländern, „Megaterrorismus“ wie auch die Erscheinungen gehören, die die Grundlage für all diese Übel bilden. Die NATO ist ein auf Europa bezogenes Bündnis. In diesem Zusammenhang sollte ausdrücklich das Ziel eines neuen Sicherheitsbündnisses gesetzt werden – eines Bündnisses der führenden Nationen der Welt (mit der Möglichkeit, dass die G-8-Staaten bei dieser Unternehmung durch andere große Mächte ergänzt werden, allen voran China).

Sicherheitsbündnis

Das ins Auge gefasste Sicherheitsbündnis sollte die vorhandenen Sicherheitsorganisationen oder kooperativen Aktivitäten nicht ersetzen. Es sollte jedoch die Fähigkeit haben, diese Bemühungen auf eine höhere Ebene zu bringen, sie in systematischer Weise zu koordinieren und die Gebiete abzudecken, mit denen sich vorhandene Organisationen institutionell bisher nicht beschäftigt haben. Darüber hinaus sollte Russland die Idee der Schaffung eines „internen“ Sicherheitsbündnisses mit der EU unterstützen, das die Aktivitäten von Polizei, Sicherheits-, Zoll-, Finanz- und anderen Behörden praktisch  koordiniert, um Terrorismus, Drogenhandel, internationaler Kriminalität, illegaler Einwanderung usw. zu begegnen.

Es ist zu erwarten, dass eines der aussichtsreicheren und Erfolg versprechenderen Gebiete für eine Zusammenarbeit der entwickelten Länder die kontinuierlichen Bemühungen sind, den Bedrohungen durch die MVW-Verbreitung zu begegnen und die Sicherheit und Unversehrtheit der gefährlicheren, vor allem nuklearen, Materialien zu gewährleisten. Daran sollte sich die russische Führung beteiligen und die USA sowie andere G-8-Staaten langfristig miteinbeziehen. Sie sollte darauf abzielen, ein multilaterales Verifizierungsregime zu etablieren, das in Fragen der Nuklearsicherheit von der Internationalen Atomenergie-Organisation überwacht wird. Zu einer derartigen Idee könnten die folgenden Elemente gehören:

Ein Abkommen, einen Kernreaktor der neuen Generation mit geschlossenem Kreislauf zu entwickeln, der kein waffenfähiges Material als Abfall produziert. Bisher ist dieser von Präsident Putin vorgelegte Vorschlag vom amerikanischen Atomindustriekomplex, der anscheinend dem russischen Nuklearsektor bei fortgeschrittenen Technologien hinterherhinkt und vage Ideen des Baus von Reaktoren der „vierten Generation“ favorisiert, abgelehnt worden.

Sollte der politische Wille auf beiden Seiten vorhanden sein, könnten die beiden Ideen erfolgreich „verheiratet“ werden. Die Herausforderung liegt darin, dass die beiden Länder, vielleicht auch unter Teilnahme anderer Nationen, sich dazu verpflichten, innerhalb der kommenden zehn Jahre einen Reaktor der neuen Generation zu entwickeln, damit gemeinsame Produktion und Lieferung zu einem späteren Zeitpunkt gewährleistet sind.

Russland sollte sich mit den Vereinigten Staaten zusammentun, um Ländern, die spaltbares Material besitzen, zu helfen, damit die sichere Lagerung dieser Materialien garantiert wird oder überschüssige Vorräte aufgekauft werden. Russland könnte die erforderlichen Fertigkeiten zur Verfügung stellen, während die USA sich vor allem als Geldgeber beteiligen könnten; andere Nationen sollten zur Teilnahme aufgefordert werden. Eine derartige Zusammenarbeit sollte folgende Punkte umfassen:

–Austausch relevanter Informationen und die Einrichtung einer Datenbank, um mögliche Quellen von MVW-Weiterverbreitung abzugleichen;

–eine gemeinsame Initiative, um eine COCOM-ähnliche Organisation auf die Beine zu stellen, die dazu bestimmt ist, Lieferungen von relevanten Technologien für MVW in instabile Regionen und Länder zu beschränken; Zusammenarbeit bei der Erstellung einer Liste von derartigen Technologien;

–die Fortsetzung der Bemühungen, das Sicherheitsregime für Nuklearmaterialien in Russland zu verbessern;

–die Einsetzung einer gemeinsamen Kommission, um ein koordiniertes Vorgehen zu entwickeln, wie mit den Risiken der Weiterverbreitung von chemischen und biologischen Waffen und damit zusammenhängenden Technologien umgegangen werden soll;

–        die Erzielung einer Verständigung über die Lieferung russischer Atomreaktoren nach Iran. Zugleich verpflichtet sich Russland strikt dazu, diejenige Art von Technologien nicht zu liefern, die Iran in die Lage versetzen würden, Nuklearwaffen und die entsprechenden Trägermittel herzustellen. Russland wäre gut beraten, einen formellen, mit Iran abgesprochenen, Vorschlag vorzulegen, der vorsieht, dass die USA und einige andere betroffene Länder an der Durchführung einer Reihe von gut koordinierten Maßnahmen teilnehmen sollten, die darauf gerichtet sind zu verhindern, dass mit Kernwaffen in Verbindung stehende Technologien nach Iran gelangen;

–die Umsetzung des russisch-amerikanischen Vertrags vom Mai 2002  über die weitere Verringerung von strategischen Offensivwaffen;

–die Einsetzung einer ständigen russisch-amerikanischen Kommission für die Koordinierung der nationalen Politiken auf den erwähnten Gebieten und den Informationsaustausch über Raketenabwehr und Fragen der Militärdoktrinen.

Es ist wichtig, diese und andere damit zusammenhängende Initiativen in den kommenden Monaten auf den Weg zu bringen. Sollte dies scheitern, würde sich der Schwung für die Zusammenarbeit – ein positiver Nebeneffekt der Anschläge vom 11. September 2001 – abnehmen. Der Druck konservativer Kräfte, bürokratische Trägheit, hartnäckige gegenseitige Verdächtigungen, eine fortgesetzte NATO-Erweiterung sowie ein möglicher amerikanischer Angriff auf Irak könnten diese neue günstige Chance, nicht nur das Erbe aus dem Kalten Krieg abzustreifen, sondern sich auch konstruktiv auf die neue Welt vorzubereiten, die gefährlicher werden könnte als der Kalte Krieg, wenn man sich nicht umfassend, durchdacht und institutionell mit ihr auseinander setzt, zunichte machen.

Die erste Gelegenheit, eine neue Sicherheitsordnung auf der Grundlage des Bündnisses zu errichten, das geschaffen worden war, um die irakische Aggression gegen Kuwait abzuwehren, ist verpasst worden. Dieser erste Fehlschlag hat zu neuen Atommächten, zu mehr Instabilität und weiterem Terrorismus geführt. Es dürfte klar sein, dass ein Verpassen der zweiten Chance noch teurer zu stehen kommen würde.

Dieser Beitrag ist die gekürzte und aktualisierte Fassung eines Diskussionsbeitrags, der vom Autor für die 10. Jahresversamm-lung des Rates für Auswärtige und Verteidigungspolitik vorbereitet wurde, die im März 2002 stattfand.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 7, Juli 2002, S. 35 - 42.

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