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28. Febr. 2014

Neue „Zeit der Prüfung“

Der ägyptischen Muslimbruderschaft steht eine ungewisse Zukunft bevor

Von der islamistischen Untergrundbewegung zur Regierungspartei: An diesem Schritt ist Ägyptens Muslimbruderschaft gescheitert – vor allem, weil sich die Konservativen in der Bewegung durchsetzten. Die Unterdrückung durch die Militärregierung sehen sie jetzt als Zeit der Prüfung. Dabei wäre es viel besser, die Muslimbrüder einzubinden.

Nach nicht einmal einem Jahr wurde die Herrschaft des ersten frei gewählten ägyptischen Präsidenten am 3. Juli 2013 vom Militär abrupt beendet. Dass die Muslimbruderschaft am Regieren gescheitert ist, hat die Unvereinbarkeit des orthodoxen Islamismus – also der traditionellen islamistischen Bewegungen, die im vergangenen Jahrhundert entstanden sind – mit dem neuen politischen Umfeld nach dem Arabischen Frühling deutlich gemacht. Das Unvermögen der Bruderschaft, sich in Ägypten an der Macht zu halten, kann nicht allein auf deren (unter Präsident Mohammed Mursi durchaus sichtbare) Inkompetenz und politische Unerfahrenheit zurückgeführt werden. Die Bruderschaft leidet unter einer rückwärtsgewandten Führung, die aber strikt das Entscheidungsmonopol für sich reklamiert. Hinzu kommen eine verästelte, starre Organisa­tionsstruktur sowie eine Ideologie, die sich modernen Gegebenheiten nicht anpassen kann, die aber gleichwohl als Leitlinie für alle strategischen Entscheidungen und politischen Kalküle dient.

Schon die Entscheidung, an den Präsidentschaftswahlen teilzunehmen, war Folge einer Fehleinschätzung der neuen Gegebenheiten. Diese Entscheidung wurde getroffen, ohne dass in der Bewegung selbst ernsthafte Debatten darüber geführt worden wären. Dabei war das oberste Entscheidungsgremium der Muslimbruderschaft, der Schura-Rat, in der Frage tief gespalten, ob die Bewegung einen Präsidentschaftskandidaten stellen und damit ihre über Jahrzehnte verfolgte Strategie der Zurückhaltung aufgeben sollte.

Kontrolle durch ein kleines Machtzentrum

Während der vergangenen zwei Jahrzehnte wurde die Muslimbruderschaft von einem kleinen Machtzentrum kontrolliert, das innere Reformen ausschloss. Als die Bruderschaft 2012 an die Macht kam, war der so genannte Reformflügel an den Rand gedrängt, ja kaum noch existent. Für diesen inneren Zirkel war die Vereidigung Mursis als Ägyptens erster demokratisch und frei gewählter Präsident im Juni 2012 ein triumphaler Moment. Für die Reformer in der Organisation war dies der Moment, der alle Hoffnungen auf Reformen innerhalb der Bewegung und auf grundlegende Änderungen in ihrer Ideologie, Diskussionskultur und Strategie zunichte machte.

Auch die Organisationsstruktur der Muslimbruderschaft – die noch auf ihren Gründer Hassan al-Banna zurückgeht – wurde seither nicht angetastet. Im Vergleich zu anderen sozialen Bewegungen verfügt die Bruderschaft über hoch disziplinierte Kader, die zutiefst konservativen, strengen Verhaltensnormen und Werten wie Gehorsam, Loyalität, Treue und Engagement verpflichtet sind – was aber gleichzeitig einer Vetternwirtschaft Vorschub leistet. Dank dieser engmaschigen Struktur gelang es, auch in den Jahren der brutalen Unterdrückung zu bestehen und den inneren Zusammenhalt zu wahren. Nach dem Aufstand wurde sie jedoch hinderlich. Die Bruderschaft konnte nicht „umschalten“, operierte weiterhin wie eine geheime Untergrundbewegung und unternahm keinen Versuch, ihre Struktur und ihren Wertekodex zu modernisieren. Und es fehlen ihr ein pluralistischer Diskurs und flexiblere Strategien, weil sie so starr an den jahrzehntelang aufrechterhaltenen Normen und Werten festhält. So hat sich das Misstrauen zwischen der Bruderschaft und anderen politischen Kräften nur vertieft, denn es blieb ja immer zweifelhaft, ob die Islamisten wirklich einen Willen zur Demokratie besäßen. Als politische Kraft blieben die Muslimbrüder isoliert.

Der Preis des Konservatismus

Der Bruderschaft fehlt jegliche Form revolutionären Denkens oder einer revolutionären Agenda. Die Mehrheit der arabischen Demonstranten aber wollte genau das: eine radikale Änderung ihrer bisherigen Lebensumstände. Die Islamisten schlossen sich den Aufständen erst an, als sie Erfolgschancen für sich sahen und versuchten dann, den Revolutionären den Wind aus den Segeln zu nehmen und selbst die Macht zu ergreifen. Als sie dann an der Macht waren, haben sie die jungen, wirklich aufständischen Kräfte marginalisiert.

Islamistische Bewegungen repräsentieren genau die traditionellen und konservativen Kräfte, die arabische Gesellschaften so fest im Griff halten. Sie agieren weiterhin als größte konservative soziale Bewegung in Ägypten. So konnte die Muslimbruderschaft ihr hohes Ansehen bei den Unter- und unteren Mittelschichten erhalten, die vor allem im Nil-Delta und in den ärmeren Teilen Ober­ägyptens leben. Doch während ihres Jahres an der Macht wandten sich überraschenderweise große Teile dieser Schichten von den Muslimbrüdern ab, obwohl sie es sind, die am meisten von deren sozialen Dienstleistungen profitierten.

Lange konnte die konservative Ideologie der Muslimbruderschaft der Bewegung ein Reservoir sichern, das sie aus sozialen Gründen unterstützte. Doch genau diese konservative Ideologie wurde während des Aufstands zur Belastung. Dass ihr Diskurs und ihre Rhetorik während ihrer kurzen Regierungszeit stärker Salafisten und ehemalige Dschihadisten ansprach als die jungen Revolutionäre, war denn auch wenig überraschend. Auch Mursis Politik zeugte von einem hohen Maß an Konservatismus. Statt staatliche Institutionen wie die Polizei, die Verwaltung und das Militär zu reformieren, versuchte Mursi die konservativen Kräfte seiner Umgebung zu besänftigen und einzubinden. Statt sich auf die Lösung sozialer und wirtschaftlicher Probleme zu konzentrieren, beschäftigte sich die Muslimbruderschaft lieber mit Themen wie Identität, Religion und Politik; und nicht zuletzt rieb sie sich auch noch in Streitereien mit Salafisten und anderen politischen Kräften auf. Für ihren Konservatismus und den Mangel an einem fortschrittlichen, revolutionären Programm hat die ­Muslimbruderschaft am Ende einen hohen Preis gezahlt.

Das Gespenst der Radikalisierung

Historisch gesehen ist Unterdrückung der Schlüsselfaktor für die Entstehung von Extremismus: Ägyptens Präsident Gamal Abdel Nasser ließ Mitglieder der Muslimbruderschaft in den fünfziger und sechziger Jahren verfolgen und foltern. Prompt avancierte Sayyid Qutb, der einen strikten „islamistischen Isolationismus“ predigte, zum Hauptideologen der Bewegung. Das Massaker in der Kairoer Rabba al-Adawiya-Moschee, bei dem im August 2013 Hunderte friedlich demonstrierender Mursi-Anhänger getötet wurden, und die seitdem laufenden Repressionen dürften einen ähnlichen Wendepunkt für den politischen Islam markieren. Traditionell (innenpolitisch) eher friedliche Bewegungen wie die Muslimbruderschaft sind sich der Gefahr des Einsatzes von Gewalt als politischem Mittel zwar durchaus bewusst, denn das könnte ihrer Glaubwürdigkeit schaden und die Repression noch verstärken. Aber unter jungen Islamisten zeigen sich dennoch Tendenzen der Radikalisierung. Regelmäßige wöchentliche Treffen mit einer Führung, die einen mäßigenden Einfluss ausüben könnte, finden nicht mehr statt. Niemand wird wohl über Nacht radikalisiert. Aber junge Islamisten, die den Glauben an die Demokratie verloren haben, könnten eine friedliche Beteiligung an Politik für zwecklos halten und sich gewaltsamerer Mittel bedienen.

Die schwierigste Phase seit den fünfziger Jahren

Zweifellos erlebt die Muslimbruderschaft gerade ihre schwierigste Phase seit den fünfziger Jahren. Nassers Repressionen führten zu einem 20 Jahre dauernden Ausschluss vom politischen Prozess – in der Bruderschaft gilt diese Periode als „Zeit der Prüfung“. Dieses Mal scheint sie sogar noch härter – und das nicht nur, weil die Bruderschaft entmachtet wurde, nachdem sie demokratisch gewählt worden war, sondern auch, weil sie den wachsenden Anfeindungen staatlicher Institutionen und der ägyptischen Gesellschaft ausgesetzt ist.

In Zeiten der Bedrohung verlegen sich islamistische Organisationen meist darauf, sich anzupassen, die Verfolgung zu überstehen und wieder zu Kräften zu kommen. Das muss nicht so bleiben, denn Repressionen verursachen unvorhersehbare Entwicklungen. Aber eines ist sicher: Es wäre irrig anzunehmen, die Muslimbruderschaft befände sich im Prozess der Auflösung. Sie ist keine politische Partei, sondern eine Bewegung, die soziale und religiöse Identität stiftet und über tiefe Wurzeln und ein beachtliches organisatorisches Netzwerk verfügt. Man wird sie nicht mit Hilfe der Sicherheitsapparate „besiegen“ können. Wie viele andere ideologische Bewegungen wird sie sich eher nach innen wenden, um zu überleben. Je stärker die Unterdrückung, desto stärker der Zusammenhalt der Bewegung. Derzeit besteht die größte Gefahr für den Zusammenhalt darin, dass verschiedene Fraktionen der Muslimbruderschaft unterschiedlich auf die Repression reagieren. Es wird von der Fähigkeit der Führung abhängen, eine einheitliche Linie durchzusetzen.

Die zwei Optionen des ägyptischen Staates

Für die Zukunft der Muslimbruderschaft sind zwei Faktoren ausschlaggebend: ob und wie weit Militär und Staat die Bruderschaft politisch einbeziehen wollen und ob sich die Bruderschaft auf die politischen Realitäten nach dem Staatsstreich einstellen kann. Dem Staat stehen zwei Optionen zur Verfügung. Er kann versuchen, die Bruderschaft zu marginalisieren und zu zerstören. Das käme vielen säkularen und „liberalen“ Ägyptern entgegen, die jetzt eine einmalige Chance sehen, mit der Bruderschaft „aufzuräumen“.

Befürworter der zweiten Option halten einen Ausschluss der Muslimbruderschaft für unrealistisch und wollen eine an bestimmte Konditionen gebundene Integration der Islamisten. Diese lauten: Auflösung der Muslimbruderschaft oder ihre Umwandlung in eine zivile Organisation mit keinerlei Verbindungen zur Politik, bei gleichzeitigem Verzicht der Freiheits- und Gerechtigkeitspartei auf ihren religiösen Bezugsrahmen sowie die Akzeptanz der politischen Spielregeln, die das Militär und seine Unterstützer festlegen.

Derzeit deutet alles auf die von Militär und Geheimdiensten favorisierte Option Ausschluss und Unterdrückung hin. So ist wohl auch zu erklären, warum das Militär alle politischen Initiativen abgelehnt hat, die zu Ruhe und einer politischen Lösung der gegenwärtigen Krise beitragen könnten.

Fehlereingeständnis und eine neue Ausrichtung

Will die Muslimbruderschaft in der politischen Landschaft nach dem Staatsstreich erfolgreich sein, muss sie sich zunächst mit ihren Fehlern beschäftigen. Sie muss ihre Politik und Ideologie überdenken. Eines ihrer Probleme war ja, dass sie einen Kurs des religiösen und kulturellen Konservatismus fuhr, um den sozialen und religiösen Vorstellungen ihrer Wählerschaft zu entsprechen und sich zugleich die Unterstützung der Salafisten zu sichern. Das hat ihr Ansehen in der Unterschicht gestärkt, aber der Glaubwürdigkeit in der Mittelschicht geschadet, deren Unterstützung sie ebenfalls braucht. Ihre Zukunft wird davon abhängen, ob sie sich in ihrem religiös-ideologischen Denken in die politische Mitte bewegen kann. Nicht zuletzt braucht sie eine reformorientiertere Führung, die die herrschende Dominanz des konservativen Kerns auflockern würde.

Die entscheidende Frage bleibt aber, ob Regierung und Militär auf Konfrontation oder auf Kooperation setzen werden. Eine Konfrontation könnte auch eine Eskalation nach sich ziehen, was bedeuten würde, dass die Konservativen innerhalb der Organisation die Oberhand behielten. In diesem Fall wird die Bruderschaft weiter dem türkischen „Erbakan-Pfad“ folgen (nach Necmettin Erbakan, dem Gründer der Milli-Görüs-Bewegung und vom Militär 1997 nach einem Jahr entmachteten Premierminister) und auf Ideologie und Massenmobilisierung setzen. Das zweite Szenario ist die politische Einbeziehung der Muslimbrüder, was den Aufstieg weniger konservativer, stärker pragmatischer und reformorientierter Kräfte befördern würde.

Eines ist jedoch klar: Die Bewegung wird nicht auszuschalten sein und auf jeden Fall auf die politische Bühne zurückkehren. In welcher Form auch immer.

Dr. Khalil al-Anani 
ist Senior Fellow am Middle East Institute und Professor an der John Hopkins School of Advanced International Studies. Demnächst erscheint „Inside the Muslim Brotherhood“.
 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/April 2014, S. 26-30

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