„Neue Ostpolitik“
IP-Kolumnist Jörg Lau über die geläufigsten Gemeinplätze der Außenpolitik
Wenn Olaf Scholz über Ideen für eine künftige Außenpolitik spricht, fällt ein Begriff, der an den größten weltpolitischen Erfolg der Sozialdemokratie anknüpft: Er wolle eine „neue Ostpolitik“ mit Russland und China. Die Ostpolitik von Brandt bis Schmidt – manchmal spricht Scholz auch von Friedens- oder Entspannungspolitik – sei heute wieder aktuell. Sie habe schließlich den Frieden mit den kommunistischen Diktaturen in Osteuropa gesichert, geholfen, den Eisernen Vorhang zu überwinden und die Erweiterung der EU um die osteuropäischen und baltischen Staaten ermöglicht.
Alles richtig, allerdings fehlt etwas Entscheidendes: Die harte Haltung Helmut Schmidts bei der Durchsetzung des Nachrüstungsbeschlusses (gegen die Scholz als Juso demonstrierte), bis hin zum Machtverlust 1982, hatte ihren Anteil an der Beendigung des Kalten Krieges. Die Ostpolitik war immer auch mit einer Politik der Abschreckung unterlegt, für deren konsequente Fortsetzung ein sozialdemokratischer Kanzler von seinen eigenen Leuten vom Hof gejagt wurde.
Dabei steckt gerade hier, in dieser Entschiedenheit zur Selbstverteidigung, die die ausgestreckte Hand erst möglich macht, eine wichtige Lektion für jede „neue Ostpolitik“. Olaf Scholz zieht für diese zwar einige rote Linien. Er betont, Grenzverschiebungen wie durch die russische Annexion der Krim dürften nicht akzeptiert werden. Ebenso wenig der Anspruch von Großmächten auf Einflusssphären. Und eine aktualisierte Ostpolitik könne heute nur ein gemeinsames europäisches Unternehmen sein.
Das klingt gut. Aber wie passt Letzteres zur bevorstehenden Inbetriebnahme von Nord Stream 2 – gegen den Willen der Polen, der Balten, der Ukrainer? Die Pipeline, von Sozialdemokraten als „Brücke“ der Verständigung nach Russland verklärt, unterläuft ja die angeblich gewünschte einheitliche europäische Haltung gegenüber Russland.
Wenn Olaf Scholz seine „neue Ostpolitik“ mit den Realitäten der heutigen Weltpolitik abgleicht, in der es nun mal nicht die Regel sei, dass Staaten mit unseren Vorstellungen von Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit übereinstimmen, dann klingt Resignation durch: Unsere Maßstäbe lassen sich eh nicht übertragen, wir können da nicht viel machen, Stabilität erscheint als Selbstzweck, Gespräche müssen um beinahe jeden Preis stattfinden.
Gegen diese mutlose Reduktion der ostpolitischen Idee müssten sich Sozialdemokraten eigentlich verwehren. Denn die Politik von Bahr, Brandt und Schmidt war ursprünglich ambitioniert. Sie akzeptierten den Status quo, um ihn zu verändern. „Nichteinmischung“ und Versicherung der territorialen Integrität waren die eine Seite, die Anerkennung der Menschenrechte und Grundfreiheiten die andere.
Warum machen Sozialdemokraten dieses kühne Erbe ihrer Ostpolitik nicht stark? Sie hätte sich heute gegenüber dem aufsteigenden China zu bewähren. (Zugegebenermaßen eine härtere Nuss als die damals bereits angezählte Sowjetunion.) Was Scholz als Prinzipien benennt – die Ablehnung von Grenzverschiebungen und Einflusssphären-Politik, die europäische Einigkeit –, das alles ist hoch aktuell etwa im Streit um Taiwan. Gefragt ist, so gesehen, eine neue Fernostpolitik.
Jörg Lau ist Außenpolitischer Koordinator im Ressort Politik der ZEIT und Kolumnist der „80 Phrasen“.
Internationale Politik 6, November/Dezember 2021, S.15
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