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01. Nov. 2007

Neue Muster der Integration

Asien hat für eine Einigung ganz andere Voraussetzungen als Europa

Weniger Handelsbarrieren, weniger politischer Wille, größere Entfernung zwischen den Staaten: Asien hat für eine Einigung ganz andere Voraussetzungen als Europa. Es braucht einen Integrationsprozess, der sich am Markt orientiert, der mehrspurig abläuft und der die verschiedenen Entwicklungsstufen der Staaten berücksichtigt.

Über Asiens Erfolge beim Wirtschaftswachstum und der Armutsreduzierung in den vergangenen Jahrzehnten wird viel diskutiert. Die meisten Prognosen weisen darauf hin, dass Asiens Bedeutung in der globalen Wirtschaft in den nächsten Jahrzehnten noch wachsen wird, und dass im Jahr 2020 die meisten großen Volkswirtschaften der Region ein mittleres Einkommensniveau erreicht haben werden.

Obwohl er noch in den Kinderschuhen steckt, ist der Trend zur regionalen Wirtschaftszusammenarbeit sehr real, und er nimmt zu – vor allem seit der asiatischen Finanzkrise von 1997/98 ist das deutlich abzulesen. Die wirtschaftliche Integration in Asien wird sehr wahrscheinlich ein zentraler Pfeiler künftiger Entwicklungsstrategien sein – genauso wie die zunehmend nach außen gerichteten Entwicklungsansätze den Erfolg im vergangenen Vierteljahrhundert untermauerten. Die Ausrichtung der Volksrepublik China und Indiens auf mehr marktgetriebenes Wachstum ist zu einer wesentlichen Triebfeder für den anhaltenden ökonomischen Erfolg der gesamten Region geworden. Das hat zu einer starken Steigerung des regionalen Handels und grenzübergreifender Investitionen geführt. Daher wird der Ruf nach größerer Vernetzung der Finanzsysteme und regionaler Wechselkursstabilität lauter.

Während nationale Wirtschaftsinstitutionen und Politiken weiterhin die Schlüsselrolle in der Steuerung des wirtschaftlichen Erfolgs in Asien spielen, werden Initiativen auf regionaler Ebene diese Politik zunehmend ergänzen, um die Chancen der Globalisierung noch intensiver zu nutzen. Angetrieben vom privaten Sektor hat die marktgesteuerte regionale Integration sich auch dadurch intensiviert, dass Produktionsnetzwerke entstanden sind und weiter wachsen werden.

Als Reaktion darauf haben Asiens Regierungen – vor allem die ostasiatischen – die wirtschaftliche Zusammenarbeit mittels verschiedener informeller Dialogforen und formeller administrativer Prozesse zu ihrem Anliegen gemacht, sei es in der ASEAN, im ASEAN+3-Rahmen oder im relativ neuen ostasiatischen Gipfelprozess. Der Weg hin zu engerer Integration könnte beschwerlich sein. Aber seine Richtung ist unumkehrbar. Natürlich sind viele Analysten und Beobachter weiterhin sehr skeptisch, ob es mehr als ein Wunschtraum ist, dass Asien zusammenwächst. Das ist verständlich. Insgesamt leben auf dem Kontinent 3,5 Milliarden Menschen, das sind 55 Prozent der gesamten Weltbevölkerung. In den Ländern reicht dies von nur 350 000 in Brunei Darussalam bis zu 1,3 Milliarden in der Volksrepublik China. In Asien werden heute 27 Prozent des globalen Bruttosozialprodukts erarbeitet. Doch während die neu industrialisierten Länder und Japan jährliche Durchschnittseinkommen von 20 000 bis 40 000 Dollar aufweisen, verdienen die Bewohner von Ländern wie Bangladesch, Kambodscha, Kirgistan, der Mongolei und Tadschikistan weniger als 500 Dollar im Jahr. In diesem historischen Kontext, gemäß des sozioökonomischen Entwicklungsstands und entsprechend den politischen Gegebenheiten, wird das asiatische Modell aus der amerikanischen und europäischen Wirtschaftsintegration lernen.

Wirtschaftsintegration, die auf Chancen baut

Es besteht die Annahme, dass die asiatische Integration unweigerlich so ähnlich wie die europäische ablaufen wird. In der Tat birgt die Entwicklung der Europäischen Union viele Lektionen für Asiens ökonomische Integration. Dennoch weist das derzeit entstehende asiatische Modell einige wichtige Unterschiede auf. Europas Länder lieger viel näher beieinander als die asiatischen, und die Entfernungen für den Güteraustausch sind viel geringer. Als Europa seinen Integrationsprozess begann, waren seine nationalen Ökonomien viel enger vernetzt als die im heutigen Asien, und zwar sowohl bezüglich der wirtschaftlichen Entwicklung als auch bezüglich der Ressourcen.

In Asien sind wir extrem unterschiedlich, nicht nur was die Wirtschaftsentwicklung, die vorhandene Infrastruktur und die natürlichen Ressourcen angeht, sondern auch bei der strukturellen Trennung von Produktion und Märkten. Einige Volkswirtschaften gedeihen in der globalisierten Welt besonders gut, während andere Länder mit zurückliegenden Konflikten zu kämpfen haben. Wieder andere befinden sich noch im Übergang zu Marktwirtschaften oder ihre Märkte sind durch geographische Isolation begrenzt. Daher schwankt der Wille zur regionalen Integration in den einzelnen Subregionen Asiens beträchtlich, ebenso wie in einzelnen Ländern dieser Subregionen. Am meisten fortgeschritten ist die Integration in Ostasien; in Süd- und Zentralasien ist sie sehr viel schwächer. Das Tempo der Integration in Europa war relativ homogen. Alle teilnehmenden Volkswirtschaften bewegten sich gemeinsam voran, und der Prozess der Institutionenbildung entwickelte sich rasch. Anders in Asien. Sogar innerhalb der 40 Jahre alten ASEAN wird die Integration in verschiedenen Geschwindigkeiten ablaufen: Zum Beispiel wird die Greater Mekong Subregion (GMS) ihre asiatischen Nachbarn mit mittlerem Einkommen bald einholen. Außerhalb der ASEAN wird jede Subregion ihr Tempo finden.

Die europäische Integration begann im Handelsbereich und wurde erst danach auf Finanzangelegenheiten erweitert – von der Zollunion über den Binnenmarkt bis zur Einheitswährung. Diese Abfolge war im Hinblick auf die weit verbreiteten Handelsbarrieren und die nahezu universale Existenz von Kapitalkontrollen während der Frühphase des Integrationsprozesses notwendig. Im Vergleich dazu sind die asiatischen Handelsbarrieren – sowohl global als auch innerhalb Asiens, vor allem Ostasiens – weit niedriger. Kapitalkontrollen sind heute ebensowenig allumfassend wie vormals in Europa; es besteht Hoffnung, dass sie bald ganz verschwinden werden. Freiere Kapitalströme würden Asien nicht den Luxus verschaffen, die finanzielle Integration zu verschieben, bis alle Handelsschranken gefallen sind. Im Gegensatz zu Europa wird Asien sich wohl auf die finanzielle Integration konzentrieren müssen, obwohl es noch dabei ist, seine Freihandelsagenda abzuarbeiten. Das ergab sich teilweise aus der Finanzkrise von 1997/98. Unter anderem wegen Mangels an politischem Willen und der zwingenden Voraussetzungen für eine Währungsunion wird Asien dabei langsamer vorankommen als Europa.

Und schließlich basierte Europas wirtschaftliche Integration auf einem gesetzlich festgelegten institutionellen Regelwerk und die Europäische Union entstand, indem die Staaten Teile ihrer Souveränität aufgaben, um gemeinsame Entscheidungsmechanismen zu entwickeln. In Asien scheint die politische Basis für Integration weniger einheitlich als in Europa. Die großen Unterschiede und die stark voneinander abweichenden Stadien der Entwicklung verstellen den Blick auf den Gewinn, den eine regional geteilte Souveränität mit einem gemeinsamen Regelwerk und supranationalen Institutionen bedeuten kann. Die öffentlich finanzierten Förderprogramme, die politischen Beistand für die wirtschaftliche Vereinigung einbringen sollen (wie in Europa), sind in ihrer Wirksamkeit eingeschränkt. Daher funktioniert Asiens Integration im Vergleich zur europäischen wesentlich weniger auf institutioneller Ebene.

Marktfreundlich, mehrspurig, verschiedene Geschwindigkeiten

Wie wird sich regionale Kooperation in Asien also vertiefen? Ein machbarer Ansatz wäre eine marktfreundliche, mehrspurige Integration mit verschiedenen Geschwindigkeiten, die innerhalb einer Gruppe befreundeter Staaten und Wirtschaftsräume eine gesunde Dosis Pragmatismus zulässt. Anstatt eine übergreifende panasiatische „Vision“ zu erfinden und durchzusetzen, verlässt sich Asien lieber darauf, Schritt für Schritt von unten nach oben vorzugehen. Der breite politische und soziale Konsens, der für die Entwicklung einer weitreichenden panasiatischen Vision notwendig wäre, scheint beim derzeitigen Stand nicht erreichbar. Kooperation auf subregionaler Ebene ist also der einzig logische Weg, um voranzukommen. Diese Idee unterscheidet sich nicht sehr vom europäischen Subsidiaritätsprinzip. Reichweite und Geschwindigkeit der verschiedenen Subregionen werden unterschiedlich sein – manche werden nur einige Bereiche bearbeiten, während andere eine umfassendere und ehrgeizigere Agenda verfolgen. Im Entwicklungsprozess werden sich automatisch Verbindungen über subregionale Grenzen hinweg ergeben, was die Integration auf einen größeren Raum erweitern kann. Momentan scheint es das Beste, dem Wunsch der Staaten zu entsprechen, zunächst in einigen vielversprechenden Bereichen zu kooperieren, um die Zusammenarbeit mit der Zeit zu vertiefen und zu erweitern.

Dieser Ansatz hat mehrere Vorteile. Erstens erlaubt er verschiedenen Staaten, Wirtschaftsräumen oder Subregionen, die Zusammenarbeit in dem Maße voranzutreiben, wie es der Stand ihrer Entwicklung und die Möglichkeiten der Region zulassen. Zweitens beginnen die Subregionen automatisch über größere Zusammenschlüsse zu verhandeln, weil Partnerschaften auf der subregionalen Ebene immer enger verbunden sind. Drittens garantiert dieser Ansatz einen marktfreundlichen Integrationsprozess.

Weiterhin ist es wichtig, dass das Regelwerk der Wirtschaftsintegration bei jedem Schritt die Bedürfnisse des Privatsektors berücksichtigt. Schließlich ist er es mit seinen asienweiten Netzwerken, der die Zusammenarbeit der Regierungen bei Handel, Investitionen, Finanzen und bis zu einem bestimmten Maße sogar bei Währungsangelegenheiten voranbringt. Ziel der Asiatischen Entwicklungsbank (ADB) ist es, Vorreiter bei der regionalen Zusammenarbeit und Integration zu sein. Die Förderung regionaler Kooperation ist Teil unserer Charta. Daher haben wir im Juli 2006 eine Initiative für die formale regionale Kooperation und Integration (RCI) gestartet. Ziel ist es, Synergieeffekte innerhalb unserer Institution zu schaffen, die Qualität von Kredit- und Mittelvergabe zu steigern und die Unterstützung für Handel, Investitionen, Währungs- sowie Finanzintegration auszubauen. Die RCI-Strategie basiert auf vier unentbehrlichen Bereichen („Säulen“):

Der erste Bereich unterstützt im weiteren Sinne grenzübergreifende Infrastrukturprogramme. Physische Verbundenheit ist das Fundament regionaler Kooperationsinitiativen in ganz Asien. Es ist allgemein anerkannt, dass auf diesem Fundament regionale Güter- und Dienstleistungsmärkte entstehen, und daher kann es als Türöffner genutzt werden, um gemeinsame regionale Themen anzupacken. Eine entsprechende Infrastruktur ist unabdingbar, um der Region ihren Vorsprung im Wettbewerb zu erhalten. Ein hervorragendes Beispiel für das Funktionieren dieser Strukturen ist das Programm für die Greater Mekong Subregion (GMS), das seit 15 Jahren besteht. Ein gut geplanter Mix von Projekten und technischer Beratung haben sowohl bezüglich der Produktivität als auch der Armutsreduzierung den Staaten und Provinzen am Mekong großen Gewinn gebracht. Vorhaben wie der Ost-West-Wirtschaftskorridor – eine 1500 km lange Verkehrsverbindung, die, wenn sie fertiggestellt ist, den Indischen Ozean mit dem Südchinesischen Meer verbinden wird – unterstützen Dutzende Projekte für Transport, Energie, Telekommunikation, Tourismus, Handel, Landwirtschaft, Privatinvestitionen und nicht zuletzt Biodiversität und Umweltschutz.

Der zweite Bereich ist ein natürliches Nebenprodukt infrastruktureller Entwicklung: Integrationsförderung durch verbesserten Handel und Investitionen. Zum Beispiel werden Mitgliedstaaten gezielt daraufhin gefördert, potenzielle Vorteile von Freihandelsabkommen maximal auszunutzen. Der entscheidende Schritt wäre der Abschluss der WTO-Doha-Runde, ergänzt durch die vor kurzem ins Leben gerufene Hilfe-für-Handel-Initiative, die die ADB schwerpunktmäßig in Asien unterstützt. Da durch das bisherige Scheitern der Doha-Runde noch keine internationalen Strukturen vorhanden sind, ist der zweitbeste Weg, weiterhin die stetig wachsende Zahl bilateraler oder subregionaler Freihandelsabkommen in den verschiedenen Stadien der Verhandlung und Implementierung zu verfestigen und zu rationalisieren, um den so genannten „Nudeltopfeffekt“ zu vermeiden. Die ASEAN mit ihrer langen Erfahrung bei der Beseitigung von Handelsbarrieren agiert als eine de facto-Regionaldrehscheibe für Ostasien und für Asien allgemein. Das Bündnis ist also genau in der richtigen Position, um als Kern einer asienweiten Freihandelszone zu dienen, die ASEAN, ASEAN+3 und eventuell den Ostasiengipfel beinhalten könnte.

Der dritte Bereich, Finanz- und Währungskooperation, fördert die Reform regionaler Finanzsysteme, eröffnet neue Finanzierungsmöglichkeiten durch den Ausbau des Anleihemarkts und begünstigt die Stabilität der Wechselkurse. Was die finanzielle Integration angeht, hat ASEAN+3 die Führung übernommen, indem sie regionale Initiativen voranbringt, vor allem, was die Verbesserung regionaler wirtschaftlicher Kontrollmechanismen und die Multilateralisierung der Chiang-Mai-Initiative für regionale Rücklagenbildung angeht. Die asiatische Anleihemarktinitiative der ASEAN+3 hilft den Anleihemärkten in lokalen Währungen, sich zu einer echten Alternative zu Bankfinanzierungen zu entwickeln. Zieht man in Betracht, dass global die Volatilität auf dem Finanzmarkt gestiegen ist und es möglich ist, dass sich globale Zahlungsungleichgewichte rasch entspannen, ist es umso wichtiger, den politischen Dialog über gemeinsame Interessen auf der regionalen Ebene zu stärken.

Man sollte etwa darüber sprechen, wie makroökonomische Modelle am besten zu nutzen sind, um Wertpapierströme zu lenken und finanzielle Stabilität zu garantieren. Die Vereinheitlichung der Währung wird wahrscheinlich in kleineren Schritten vonstatten gehen als die des Handels und der Finanzen. Das liegt zum einen daran, dass eine starke Währung als Anhaltspunkt fehlt (wie die Deutsche Mark in Europa). Zum anderen ist es weitaus schwieriger als in Europa, dafür politische Unterstützung zu bekommen, da eine Währungsunion tendenziell verlangt, Teile der politischen Autonomie an regionale Institutionen abzugeben. Angesichts dieser Bedingungen ist es wahrscheinlich, dass eine kleine Gruppe von Staaten, etwa aus der ASEAN und ASEAN+3, sich entscheiden, eine gemeinsame Währungsstruktur festzulegen, anhand derer sie die Wechselkursschwankungen messen oder ihre politische Zusammenarbeit verbessern.

Die vierte „Säule“ der RCI-Strategie ist es, die Zusammenarbeit bei der Bereitstellung öffentlicher Güter zu pflegen. Obwohl das schnelle Wirtschaftswachstum Asien beispiellosen Wohlstand gebracht hat, gibt es auch wachsende Besorgnis über die negativen ökologischen Folgen, die die wirtschaftlichen Gewinne verringern könnten. Die Probleme kennen keine Grenzen, und sich ihrer anzunehmen erfordert gut koordiniertes regionales Handeln. Zu den derzeitigen Herausforderungen gehören Luftverschmutzung und globaler Klimawandel ebenso wie der Umgang mit Flüssen, die verschiedene Staaten durchqueren, und Schutzgebiete. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Kontrolle ansteckender Krankheiten. Das kollektive Handeln in der Region angesichts von SARS und die derzeitigen Bemühungen um eine Kontrolle der Vogelgrippe sind gute Beispiele. Dass sich die regionale Kooperation im Bereich öffentlicher Güter verbessert hat, zeigt sich nicht zuletzt an den Anstrengungen, besser auf Umweltkatastrophen vorbereitet zu sein, und an der „Build-back-better“-Strategie nach dem Tsunami 2004.

Der Weg zur ökonomischen Zusammenarbeit und Integration in Asien wird pragmatisch zu beschreiten sein. Wir haben viel von der europäischen Erfahrung gelernt und werden das weiter tun.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 11, November 2007, S. 36 - 41.

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