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01. Juli 2009

Neue Formen des Regierens

Networked Governance entscheidet

Werden relevante gesellschaftliche Akteure identifiziert und zusammengebracht, verfügt die Politik über eine breitere Legitimationsgrundlage und kann gemeinsam erarbeitete Lösungen besser durchsetzen. Über den innenpolitischen Bereich hinaus gilt dies verstärkt für die Außenpolitik, denn flexible Netzwerke fördern die Durchsetzung von Interessen.

Washington DC, Ende April 2009: Im Büro eines Vertreters der deutschen Automobilindustrie klingelt das Telefon. Das Weiße Haus ist in der Leitung. Ob man zu einem Gespräch mit Präsident Obama bereit sei, fragt der Anrufer. Natürlich, antwortet der Lobbyist und reibt sich verwundert die Augen. Er steht den Republikanern nahe, hat aber in den acht Jahren der Bush-Regierung nicht einen Anruf dieser Art erhalten. Am 19. Mai findet die Zusammenkunft statt. Am Tisch sitzen auch Vertreter der amerikanischen Gewerkschaften sowie von Nichtregierungsorganisationen (NGOs), wie dem Natural Resources Defense Council. Die Medienvertreter erfahren erst nach dem Austausch von der Runde und notieren verblüfft das Ergebnis in ihre Notizblöcke: Man einigt sich darauf, in dem Modellzeitraum von 2012 bis 2016 den Ölverbrauch von PKW’s um insgesamt 1,8 Milliarden Barrel zu reduzieren.

Einige Wochen später, es ist der 3. Juni, lädt die einen Tag zuvor vereidigte Botschafterin Elizabeth Bagley zum so genannten TED@StateTalk in das amerikanische Außenministerium ein. Als neue Leiterin der Global Partnership Initiative setzt sie sich das Ziel, das Ministerium insbesondere für NGOs wieder stärker zu öffnen und diese in gemeinsame Projekte einzubinden. Ihrer Einladung folgen mehr als 600 Vertreter von Stiftungen, Think-Tanks und Graswurzelorganisationen. TED steht dabei für Technology, Entertainment und Design, angestrebt wird eine kreative und interaktive Form der Diskussion. NGOs, die weltweit Themen wie Gesundheitsvorsorge, Klimaschutz und Bildung vorantreiben, stellen ihre Initiativen vor und formulieren ihre Erwartung an die US-Administration. Konkrete Ergebnisse bringt diese erste Zusammenkunft nicht, aber alle Beteiligten – von den Diplomaten des Ministeriums bis hin zu den Stiftungsvertretern – sind sich einig, dass es ein gutes Format ist, um Best Practices auszutauschen und Netzwerke zu knüpfen.

Alles purer Zufall und wenn überhaupt reine PR, hinter der keine Methode stecke, unkt der eine oder andere in Washington. Reine Strategie, sagen die anderen, die sich über neue Formen des Regierens in der amerikanischen Hauptstadt Gedanken machen. Was mit dem langen und hoch professionellen Wahlkampf des Obama-Teams begann, soll nun in Regierungshandeln umgesetzt werden. Es geht darum, unterschiedliche gesellschaftliche Akteure so früh wie möglich in politische Meinungsbildungsprozesse einzubinden. Die traditionellen Formen eines von Hierarchien und verkrusteten politischen Konsultationsverfahren geprägten Politikstils werden dabei ergänzt und von neuen Formen politischer Einbindung irgendwann womöglich komplett abgelöst. Die Methode, zielgerichtet gesellschaftliche Akteure in den politischen Prozess einzubinden, ist weder neu noch ausschließlich in den USA zu beobachten. Überall auf der Welt, von Kanada über Australien bis nach Europa, reagieren Politiker auf die Entwicklung, dass sich Bürger über den reinen Wahlvorgang hinaus in den politischen Austausch einbezogen fühlen wollen. Diese Einbindung kann direkt über Internetplattformen oder über gesellschaftliche Gruppen erfolgen, denen sich die Bürger zugehörig fühlen.

Neben dem Partizipationsbedürfnis der Bürger tragen Netzwerke aber auch dem von Seiten der Politik empfundenen Bedürfnis Rechnung, Mechanismen zu entwickeln, die das soziale Kapital in unseren Gesellschaften fördern. Im Jahr 2000 diagnostizierte Robert Putnam in seinem legendären kommunitaristischen Klassiker „Bowling Alone“, dass Politik, die ohne soziales Kapital auskommt, von der Alltagswirklichkeit der Bürger entkoppelt sei. Nicht erst seitdem versuchen Politiker, die Bürger zu mobilisieren. Netzwerke sind eine Form, das gestiegene Regierungs-, Partizipations- und Implementierungsdefizit in unseren Gesellschaften zu befriedigen.

Worin liegt der Mehrwert von Networked Governance?

Eine eindeutige Definition von Networked Governance gibt es nicht. Der Begriff, der seit den achtziger Jahren in der Unternehmensberatung verwendet wird, bietet Raum für viele Interpretationen. Auf die Politik bezogen bedeutet er, dass zur Lösung eines politischen Problems zunächst alle relevanten gesellschaftlichen Akteure identifiziert werden müssen. Dies können Unternehmen, Gewerkschaften, Verbände, NGOs, Stiftungen oder Think-Tanks sein. Networked Governance setzt auf die Komplementarität aller Teilnehmer. Der Mehrwert besteht darin, die verschiedenen Sichtweisen und Positionen aller beteiligten Akteure in die Definition des Problems einzubeziehen und mit ihnen gemeinsam eine Lösung zu erarbeiten – und auch festzulegen, inwieweit diese Akteure dazu beitragen können, die erarbeitete Lösung umzusetzen. Letztlich liegt die Verantwortung für politische Entscheidungen natürlich bei der Exekutive, also der Regierung. Allerdings fühlen sich durch diese inklusive Methode die anderen Akteure ebenfalls verantwortlich, ihren Beitrag zur erfolgreichen Umsetzung der Vereinbarung zu leisten. Sie sind von Anfang an Teil des Prozesses und nicht Empfänger politischer Entscheidungen.

Netzwerke bieten zahlreiche Vorteile, nicht zuletzt geteilte Verantwortung. Sie basieren auf der Erkenntnis, dass in der globalisierten Welt weder die Politik noch andere Institutionen in der Lage sind, die Komplexität aller innen- und außenpolitischen Herausforderungen zu durchdringen. Netzwerke können Komplexität eingrenzen und neue Lösungen aufzeigen, indem sie einen frischen und unkonventionellen Blick auf festgefahrene Positionen bieten. Ihr Ziel ist es, möglichst viele gesellschaftliche Akteure einzubinden, keine Ressource zu vernachlässigen und sie in ihrem Rahmen zielgerichtet einzusetzen. Gesellschaftliches Potenzial zu nutzen und nicht zu verschwenden, ist eine ureigene Aufgabe von Politik. Politik hat somit implizit ein Mandat zur Bildung von Netzwerken.

Auf den ersten Blick mag die Methode an die Inflation „Runder Tische“ der Amtszeit von Bundeskanzler Gerhard Schröder erinnern. Aber hier geht es nicht um halbgeheime Lobby-Veranstaltungen in rauchigen Hinterzimmern. Diese Netzwerke sollen als transparente Prozesse verstanden werden. Wenngleich dabei nicht jeder Schritt von den Medien verfolgt werden kann, so müssen doch die Akteure – allen voran die Politik – dem Gebot der Transparenz und der Inklusivität Rechnung tragen. Auch wenn das eingangs erwähnte Treffen im Weißen Haus zunächst abseits der Medien-öffentlichkeit vorbereitet wurde, um den Verhandlungserfolg nicht zu gefährden, gab die Regierung unmittelbar nach der Zusammenkunft die Namen aller Beteiligten bekannt.

Zusätzlich stellt der Networked-Governance-Ansatz die Politiker vor die Herausforderung zu entscheiden, welche Akteure einbezogen werden sollen und welche nicht. Natürlich schwingen dabei auch immer Präferenzen für bestimmte Partner mit. So hat das Weiße Haus das Aspen Institute mit der Durchführung einer Workshop-Serie beauftragt, um herauszufinden, in welche Nonprofit-Projekte, die zur Lösung gesellschaftlicher Probleme in den USA beitragen, die Regierung Gelder investieren soll. Es überrascht nicht, dass diese Aufgabe nicht an einen konservativen Think-Tank vergeben wurde. Die Obama-Administration hat im Wahlkampf verschiedene Netzwerke zur Wählermobilisierung genutzt und versucht nun, deren Einsatz in der Innen- und Außenpolitik systematisch zu professionalisieren. Der US-Präsident und seine Berater sind weit davon entfernt, den Schlüssel für das Networked-Governance-Konzept der Zukunft gefunden zu haben. Allerdings sind bereits feste Strukturen, insbesondere im Weißen Haus und State Department, geschaffen worden, die dieses Konzept im Regierungsapparat institutionell verankern. Vom Office of Intergovernmental Affairs and Public Engagement über das Büro für Social Innovation bis hin zum Domestic Policy Council tragen diese neuen oder teilweise umstrukturierten Einheiten im Weißen Haus dazu bei, möglichst viele Akteure der Gesellschaft in konkrete Reformprojekte einzubeziehen.

Web 2.0 als Netzwerkverstärker

Barack Obama und sein Team haben im Wahlkampf neue Maßstäbe für den Einsatz des Internets zur Mobilisierung und Einbeziehung von Bürgern gesetzt. Seitdem werden diesem Medium geradezu magische Kräfte zugeschrieben. Vom Wahlkampf bis zur Übernahme der Regierungsgeschäfte wurden verschiedene Plattformen von My.BarackObama.com über change.gov bis hin zu whitehouse.gov. entwickelt, um den Austausch mit den Wählern sicherzustellen. Dieser Prozess – „Crowdsourcing“ genannt – setzt darauf, dass durch die Einbindung Vieler ein „Mehr“ an Wissen generiert wird und Netzwerke geschaffen werden. Der Initiator des Crowdsourcing, beispielsweise die Regierung, kann dann die komprimierten Meinungen als Orientierung für die eigene Entscheidungsfindung nutzen. Aktuelles Beispiel für den Einsatz von Crowdsourcing durch die Obama-Administration ist die Debatte über die Reform des Gesundheitswesens. Um sich einen Überblick über das Meinungsbild in der Bevölkerung zu verschaffen, fragt das Weiße Haus landesweit diesbezügliche Erfahrungen ab. Die gesammelten Meinungen finden sich auf der Homepage My.BarackObama.com/HealthCareOrganizing. Es ist ein wichtiges Instrument, um die Zustimmungsfähigkeit für die Reformkonzepte der Administration zu testen.

Durch die Bildung solcher „Commons“ – offener Plattformen im Internet – können Informationen ausgetauscht, neue innovative Ideen und Technologien getestet und Netzwerke von unterschiedlichen gesellschaftlichen Akteuren geschaffen werden. Ein weiterer Testballon in diese Richtung ist das „Citizens Briefing Book“: Als Projekt noch während der Übergangsphase in die Regierung auf der Internetplattform change.gov installiert, diente es dazu, Bürger nach ihren Reformvorschlägen für die gesellschaftlichen Herausforderungen des Landes zu befragen. Mit insgesamt 125 000 aktiven Teilnehmern, 44 000 eingereichten Ideen und mehr als 1,4 Millionen Bürgern, die die Reformvorschläge bewertet haben, hat der US-Präsident in kürzester Zeit nicht nur erfahren, welche Projekte seine Landsleute für notwendig halten, sondern auch, welche Prioritäten sie dabei setzen. Mehr als 70 000 Teilnehmer votierten beispielsweise dafür, dass die USA anstreben sollten, das umweltfreundlichste Land der Welt zu werden; mehr als 37 000 Bürger sprachen sich dafür aus, die finanziellen Hilfen an Israel zu überprüfen und mehr als 57 000 sind der Meinung, dass die unter der Bush-Regierung eingeführten Steuervergünstigungen für die Spitzenverdiener rückgängig gemacht werden müssen. Dieses Online Briefing Book ist sicher nicht repräsentativ – es bietet jedoch einen aussagekräftigen Überblick und guten Orientierungsmaßstab, in welchen Bereichen die Wähler Forderungen an die Politik stellen.

Dass das Web 2.0 alles andere als ein Selbstläufer ist, stellen mittlerweile auch die zuständigen Internetbeauftragten der US-Regierung fest. So dynamisch sich der Austausch mit den Anhängern während des Wahlkampfs gestaltet hat, so enttäuscht sind nun viele Bürger über die mangelnde Internetpräsenz ihres Präsidenten. Beth Novek, der stellvertretende IT-Beauftragte für Open Government, räumte denn auch unlängst ein, dass man an neuen Internetformaten für die Regierung arbeite.

Durch den Einsatz von Web 2.0-Technologien können Bürger mobilisiert, Netzwerke geschaffen und für die Regierung ein wichtiger Abgleich mit verschiedenen Interessengruppen in der Gesellschaft vorgenommen werden. Die Internetnetzwerke können im Rahmen eines Networked-Governance-Ansatzes als Verstärker für die von der Regierung gebildeten Netzwerke dienen. Somit ist das Internet eine wichtige strategische Ressource für die Politik. Sein Potenzial wird jedoch erst zu einem Bruchteil genutzt.

Globale Netzwerke

Die traditionellen Formen des internationalen Regierens, Allianzen zwischen Staaten und ihren Regierungen sowie internationalen Organisationen, stoßen in einer globalisierten Welt an ihre Grenzen. Ebenso wie auf der innenpolitischen, so gibt es auch auf der außenpolitischen Ebene neue Formen des Regierens in flexiblen, zeitlich begrenzten und innovativen Formen der Kooperation. Netzwerke, in denen Regierungen mit nichtstaatlichen Akteuren, allen voran NGOs und Unternehmen, gemeinsam an der Lösung von Problemen arbeiten, werden die klassischen Allianzen immer stärker unter Wettbewerbsdruck setzen.

Die USA sind, ebenso wie ihre Verbündeten, beim Engagement in Ländern wie dem Irak, Afghanistan oder dem Iran auf die Einbeziehung weiterer Partner angewiesen. Dies geschieht selbstverständlich bereits – in der Regel allerdings eindimensional. Regierungen beziehen Unternehmen oder NGOs getrennt in Projekte ein. Die Zukunft gehört jedoch so genannten „Multi-stakeholder Networks“ in der Außenpolitik. Dabei ergreift die Regierung die Initiative, um Unternehmen und NGOs bereits bei der Problemdefinition einzubeziehen und dann gemeinsam an der Umsetzung der Strategie zu arbeiten. Gerade NGOs können als wichtiges Scharnier für Regierungen dienen, um beispielsweise in Krisenregionen die Vernetzung von der globalen zur lokalen Ebene sicherzustellen. Aber auch im Kampf gegen den internationalen Terrorismus ist nicht nur den Verteidigungsexperten des Pentagon, sondern Militärs weltweit längst klar, dass sich Al-Kaida und andere Gruppen über Netzwerke sowohl im Internet als auch in der realen Welt organisieren. „It takes a network to fight a network“ ist somit keine rhetorische Spielerei, sondern der strategische Ansatz im Kampf gegen terroristische Gruppen. Beispiel hierfür ist die so genannte Anaconda-Strategie des amerikanischen Generals David H. Petraeus. Zunächst erfolgreich im Irak bei der Bekämpfung terroristischer Gruppen eingesetzt, soll sie nun, angepasst an den Hindukusch, dazu beitragen, dort die Terroraktivitäten zu minimieren. Die Anaconda von Petraeus setzt sich aus vielen Bausteinen zusammen: Von einem politisch-strategischen Kopf über den Einsatz des Internets bis hin zum Dialog mit Stammesführern und der Schaffung von Bildungsprogrammen und Arbeitsplätzen versucht das Militär, breite Netzwerke in die Gesellschaft hinein zu knüpfen, um so Schritt für Schritt Terroristen den Nährboden zu entziehen.

Obgleich Netzwerke in den Krisenregionen dieser Welt zum Einsatz kommen, scheint ihr Potenzial in anderen Bereichen ungenutzt. So verwundert es, dass Netzwerke nicht längst mehr zur Neudefinition und Stärkung des transatlantischen Verhältnisses genutzt werden. Denn nur mit Initiativen, die Regierungen und nichtstaatliche Akteure einbeziehen, können neue Impulse – z.B. in der Klima- und Energiepolitik oder bei der Bekämpfung des illegalen Handels mit Nuklearmaterial – gesetzt werden. Durch die Einbeziehung von NGOs und Unternehmen kann ein vielschichtiges Netz von Informationen, Kontakten und Ideen über den Atlantik geknüpft werden, das einen wesentlichen Beitrag zur Wiederbelebung der Kooperation zwischen Europa und den USA leistet.

Gelingt es Obama, den Networked-Governance-Ansatz weiterzuentwickeln und hiermit konkrete Ergebnisse zu erzielen, haben die USA zweifellos einen strategischen Vorteil gegenüber anderen Staaten. Sie können nicht nur für innenpolitische Problemlösungen, sondern auch für die Außenpolitik Netzwerke aktivieren und ihre Politik auf eine breite Legitimationsgrundlage stellen. Solche Netzwerke sind in der Außenpolitik insbesondere dann wichtig, wenn andere Partner einbezogen werden, die in dem jeweiligen Kontext über eine größere politische Legitimität und Akzeptanz verfügen. In Zukunft wird die Kunst des vernetzten Regierens über die Wettbewerbsfähigkeit von Staaten entscheiden. Networked Governance hat das Potenzial, zu einer neuen Form des Regierens in einer postsouveränen Welt zu werden.

ANNETTE HEUSER leitet das Büro der Bertelsmann Stiftung in Washington, DC.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 7/8, Juli/August 2009, S. 26 - 31.

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