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01. Sep 2012

Neue Regeln für die Ratingriesen

Warum die Zeit jetzt günstig für Reformen ist

Eine feste Größe im Kreis der SündenboÅNcke, die für die Euro-Krise verantwortlich gemacht werden, sind die Ratingagenturen. Nachdem sich die Aufregung vom Anfang dieses Jahres gelegt hat, wäre jetzt ein guter Zeitpunkt, über Reformkonzepte zu diskutieren. Denn eines ist sicher: Die nächste Krise in Sachen Ratingagenturen kommt bestimmt.

Es war ein regelrechter Sturm der Entrüstung, der losbrach, nachdem die Ratingagentur Standard & Poor’s Ende vergangenen Jahres verschiedene europäische Länder in ihrer Kreditwürdigkeit herabgestuft hatte. Schnell stellte man in der europäischen Debatte über das Schalten und Walten der Ratingriesen fest, dass der Ratingagentursektor fest in amerikanischer Hand ist. Genauer gesagt bilden die drei großen Agenturen Standard & Poor’s, Moody’s und Fitch ein Oligopol, das es zusammen auf einen weltweiten Marktanteil von 95 Prozent bringt.

Marktöffnung, mehr Wettbewerb und der Aufbau einer eigenen europäischen Ratingagentur schienen daher vielen die logische Antwort auf die Misere zu sein. Wenn man erst einmal eine europäische Agentur habe, so das Argument, könne man den Amerikanern die eigenen Analysen entgegenhalten. Der Vorschlag übersah allerdings, dass Ratingagenturen weder politisch verordnet noch aufgebaut werden können. Die bisherigen Akteure sind gewinnorientierte, hoch profitable Unternehmen. Zudem sind die Eintrittsbarrieren für diesen Sektor der Finanzwelt extrem hoch.

Das Krisenkarussel dreht sich

War das große Anliegen Ende der vergangenen Monate noch der Aufbau einer europäischen Ratingagentur, so sind es heute weit größere Projekte zur Rettung der Euro-Zone, wie die Banken- und Finanzunion, die die europäische Politik in Atem halten. Denn das Euro-Krisenkarussell dreht sich schwindelerregend schnell und lässt so manches Projekt auf der Strecke. Bis auf einige neue Gesetzesvorschläge auf europäischer Ebene, wie man die Abhängigkeit von Ratingagenturen reduzieren und ihre Marktmacht, zumindest in Europa, einschränken kann, ist bislang wenig Konkretes zu vermelden. So hat der Wirtschafts- und Finanzausschuss des Europäischen Parlaments am 19. Juni ein ganzes Bündel an Gesetzesvorschlägen für den Ratingsektor verabschiedet. Insbesondere sollen die Qualität, der Zeitpunkt der Veröffentlichung und die Frequenz für Länder­ratings stärker reguliert werden. Der Vorschlag des Parlaments sieht außerdem vor, dass die Kreditwürdigkeit von Staaten auch durch die EU-Institutionen selbst geprüft und in Form eines öffentlichen Ratings zur Verfügung gestellt werden soll.

Das Paket wirft jedoch insgesamt mehr Fragen auf, als dass es konkrete Lösungen anbietet. So ist die Möglichkeit, Ratingagenturen zu verklagen, wenn nachgewiesen werden kann, dass diese nicht sachgerecht geurteilt haben, nur einer der Punkte, deren Umsetzung in die Praxis sich schwierig gestalten dürfte. Denn Ratings sind nichts anderes als Meinungen, über deren Zustandekommen und deren Ergebnis man trefflich streiten kann. Diese vom Parlament nun endlich nach mehreren Verzögerungen verabschiedete Vorlage macht jedoch deutlich, wie stark die Meinungen der EU-Abgeordneten mittlerweile bei diesem Thema auseinandergehen. Daher ist auch nicht zu erwarten, dass in der nächsten Runde, in der die EU-Mitgliedstaaten konsultiert werden müssen, große Geschlossenheit herrschen wird.

In Brüssel und den anderen Hauptstädten der EU hat sich mittlerweile die Einsicht durchgesetzt, dass das Thema der Öffnung des Ratingagentursektors weit komplexer ist als zunächst gedacht. Das betrifft auch die Frage des Aufbaus einer europäischen Ratingagentur, die wohl keine vom Markt, also den Investoren, anerkannte Lösung sein kann. Auch der mediale Sturm hat sich, trotz weiterer Herabstufungen von EU-Staaten, einstweilen gelegt. Das Problem aber bleibt: Es müssen mehr Wettbewerb und mehr Transparenz im Ratingagentursektor geschaffen werden; dadurch würde sich fraglos auch die Qualität der Ratings erhöhen.

Aufschwung auf Pump

Ratingagenturen sind Dienstleistungsunternehmen, die Unternehmen und Staaten bewerten. Dabei geht es hauptsächlich darum, Investoren über die Sicherheit ihrer Investitionen und das damit verbundene Ausfallrisiko zu informieren. Die europäische Debatte konzentriert sich in erster Linie auf die Ratings von Ländern, die Auskunft geben über den Willen und die Fähigkeit eines Landes, seine Schulden zu bedienen.

Länderratings sind ein Produkt der Globalisierung, denn die Agenturen haben erst in den siebziger Jahren damit begonnen, Staaten systematisch zu bewerten. Als die USA und andere Industrienationen anfingen, sich Geld an den internationalen Kapitalmärkten zu leihen, um das Wachstum im eigenen Land anzukurbeln, nahm das Geschäft mit den Ratings seinen Anfang. Seitdem ist die Anzahl der Länderratings ständig gestiegen, und damit auch ihre Bedeutung. Heute sind es insbesondere die aufstrebenden Schwellenländer in Lateinamerika und Asien, in denen das Bedürfnis stetig wächst, sich Kapital an den internationalen Finanzmärkten zu leihen.
Jede Herabstufung eines Landes durch eine Ratingagentur führt zum einen dazu, dass das betroffene Land mehr Zinsen für die aufgenommenen Kredite zahlen muss, zum anderen kann sie Zwangsverkäufe der Anleihen eines Landes bewirken, die ihrerseits prozyklische Effekte an den Märkten auslösen können.

Doch es sind nicht nur die direkten Zinsauswirkungen auf die betroffenen Staaten, die den Länderratings eine besondere Bedeutung verleihen. Staatsanleihen sind die höchste Anlageklasse im Markt. Weltweit sind rund 70 Billionen US-Dollar in Staatsanleihen gebunden. Jede andere Anlageklasse, sei es der Unternehmens- oder der Bankensektor, ist direkt oder indirekt von der Bewertung von Staatsanleihen betroffen. Allerdings sind die Länderratings diejenigen, die in den vergangenen Jahrzehnten der anziehenden weltweiten Konjunktur und des Wachstums kaum genauer unter die Lupe genommen oder gar in Frage gestellt wurden. Kein Wunder, blieben doch die Ratings der europäischen Staaten und der USA in den Zeiten guter wirtschaftlicher Entwicklung weitgehend stabil; Herabstufungen fanden nur in wenigen Fällen statt.

Der oft mangelnden Qualität der Ratings liegen häufig interne Faktoren innerhalb der Agenturen zugrunde. Denn den Großteil ihrer Gewinne streichen Ratingagenturen nach wie vor über die Bonitätsbeurteilung von Unternehmen ein. Auf sie verwendet man besondere Sorgfalt, sodass sich die besten Analysten in der Regel in den entsprechenden Abteilungen der Agenturen finden. Länderratings da­gegen werfen auch nach Jahrzehnten der Investitionen in Indikatoren und Analyseverfahren nur überschaubare Gewinne ab, die in keinem Verhältnis zum weitaus lukrativeren Bereich der Unternehmensbewertungen stehen.

Oftmals setzen sich die kleinen Teams für die Länderratings aus relativ jungen und unerfahrenen Analysten zusammen. Dadurch leiden Qualität und Transparenz. Gleichzeitig sind die Länderratings in den vergangenen Jahren zu einer Art „unbezahltem PR-Tool“ für die Agenturen mutiert. Die Titelseiten der weltweit meinungsbildenden Medien mit der Nachricht über die Herabstufung von Ländern zu besetzen, hat ihnen einen großen Einfluss in der Finanzwelt, den Medien und insgesamt der öffentlichen Meinung beschert.

Der Gesetzgeber wird aktiv

Sicherlich sind die Ratingagenturen für eine Vielzahl der Defizite des Sektors, allen voran mangelnde Transparenz und Qualität der Ratings, verantwortlich zu machen. Allerdings haben ihnen erst die Gesetzgeber auf beiden Seiten des Atlantiks einen wichtigen institutionellen Status bei Investitionsentscheidungen eingeräumt und Ratings für viele Investoren zu einer gesetzlichen Richtschnur erklärt. Erste Maßnahmen, den Ratingsektor stärker zu regulieren, wurden in den USA unmittelbar nach der Enron-Krise ergriffen. Der Energiekonzern hatte 2001 durch umfangreiche Bilanzfälschungen einen der größten Unternehmensskandale der US-Wirtschaft ausgelöst. Noch kurz bevor Enron im Dezember 2001 Insolvenz anmeldete, bescheinigten Standard & Poor’s und Moody’s ihm eine „vorzügliche Bonität“.

Hatten sich die Regulierungsmaßnahmen zunächst hauptsächlich auf den Sektor der Unternehmensratings konzentriert, so brachte die Finanzkrise 2008 in Europa und den USA wesentliche gesetzgeberische Maßnahmen auf den Weg, die auch die Länderratings betrafen. Dazu zählen der Dodd-Frank Act in den USA ebenso wie die Basel II- und III-Regulierung und die vom Europäischen Parlament verabschiedeten Gesetzesvorlagen.

Doch Ratingagenturen und ihre Regulierung sind kein transatlantisches Phänomen. Weltweit sind rund 400 Ratingagenturen registriert. Länder wie Indien, China, Japan, Austra­lien und Kanada haben nicht nur ihre eigenen Agenturen, sondern auch ihre eigenen Regulierungsvorschriften für diesen Sektor erlassen. Dies hat dazu geführt, dass es mittlerweile eine unüberschaubare Anzahl von Regulierungsvorschriften weltweit gibt. Keine der Ratingagenturen auf den anderen Kontinenten war jedoch bislang in der Lage, internationale Bedeutung zu erlangen. Die Frage allerdings, wie man den Sektor reformieren und insbesondere mehr Kohärenz und Verlässlichkeit bei den Länderratings erzielen kann, treibt viele Staaten um, allen voran die aufstrebenden Schwellenländer wie China und Brasilien.

Mehr Wettbewerb

Mehr Wettbewerb durch mehr Agenturen, so verkürzt lässt sich das Rezept zur Reform des Marktes zusammen­fassen. Allerdings gibt es die eingangs beschriebenen hohen Eintrittsbarrieren für neue Marktteilnehmer. Das betrifft insbesondere Akteure, die ihr Modell nach dem traditionellen Muster auf For-Profit-Basis aufbauen, also mit den Ratings Gewinne erzielen wollen. Die großen Drei sind gerade bei Unternehmensbewertungen klar im Vorteil, denn es müssen Datensätze, die oftmals Jahrzehnte zurückreichen, aufgebaut und gepflegt werden – ein kostspieliges Unterfangen, das eines hohen Kapitaleinsatzes bedarf. Und die Erfolgsaussichten, dann auch wirklich am Markt von den Investoren als neue seriöse Quelle akzeptiert zu werden, sind dennoch gering.

Bei den Länderratings ist die Gewinnzone erst nach jahrelangen Investitionsphasen erreichbar, und im Vergleich zu den Unternehmensratings bleibt sie auch dann noch relativ bescheiden. Zudem hat sich eine verwirrende Praxis bei der Bezahlung von Ratings durch die zu bewertenden Länder entwickelt. So werden Länder wie die USA und viele europäische Staaten nicht für ihre Bewertung von den großen Drei zur Kasse gebeten, während die Schwellen- und Entwicklungsländer je nach Gusto der jeweiligen Agentur fünf- bis sechsstellige Beträge entrichten müssen, um ein Rating zu erhalten. Die Regulierungsvorschriften, die insbesondere zwischen Europa und den USA immer stärker auseinanderklaffen, sind weitere große Barrieren für neue Akteure.

Reformanstrengungen müssen da­her auf verschiedenen Ebenen ansetzen, um Wirkung zu entfalten: Zum einen muss die Frage gestellt werden, wie Länder- und Unternehmensratings voneinander entkoppelt werden können, um die Qualität der Länderratings zu erhöhen und Interessenkonflikte zu entschärfen. Dies könnte etwa dadurch geschehen, dass man eine neue Agentur schafft, die sich aussschließlich auf Non-Profit-Basis auf Länderratings konzentriert und als wirklich internationale Institution aufgestellt ist. Die Finanzierung der operativen Kosten der Agentur könnte etwa über einen Fonds laufen, der eine jährliche Ausschüttung zur Deckung der operativen Kosten gewährleistet. In diesen sollten möglichst viele Akteure aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen, von Regierungen über Unternehmen bis hin zu Stiftungen, einzahlen. Dies könnte auch ein Zeichen setzen, dass man Länderratings als „öffentliche Güter“ versteht, die alle Teile der Gesellschaft betreffen. Gleichzeitig muss jedoch bei der Konzeption einer solchen Institution gewährleistet sein, dass sie so aufgebaut ist, dass keiner der Akteure, die in den Fonds einzahlen, auf die Erstellung der Ratings oder ihre Ergebnisse direkten Einfluss ausüben kann.

Ein besonderes Augenmerk müsste bei dieser neuen Institution auch auf die Qualität der Ratings gelegt werden. Zwar setzen die großen Drei neben den traditionellen makroökonomischen Daten auch auf qualitative Indikatoren bei der Bewertung von Staaten; das geschieht allerdings sehr unsystematisch und wenig transparent. Daher müssten einige Indikatoren entwickelt werden, die die sozioökonomische Entwicklung eines Landes abbilden. So ist etwa die Frage von Bedeutung, inwieweit die Regierung eines Landes in der Lage ist, die angekündigten Reformen auch wirklich durchzusetzen. Ebenso könnte analysiert werden, wie ein Land in der Vergangenheit Finanzkrisen überwunden hat und inwieweit hieraus Schlüsse für die Bewältigung seiner aktuellen Krise zu ziehen sind.

Neben dem institutionellen und qualitativen Mehrwert, den eine solche neue Agentur für Länderratings besitzen würde, ist es auch entscheidend, das richtige Forum für die Diskussion von Reformüberlegungen zu finden. Die G-20, die Gruppe der weltweit führenden Industrie- und Schwellenländer, wäre hier an erster Stelle zu nennen. Die Staats- und Regierungschefs dieser Nationen haben sich insbesondere in den vergangenen beiden Jahren mit dem Einfluss der Ratingagenturen befasst.

Vier Lehren aus der Debatte

Auch wenn die Diskussionen der vergangenen Monate oft wenig konsistent und stark von Populismus geprägt waren, so lassen sich doch Lehren für die europäische Diskussion ableiten:

•     Die Reformdebatte muss international geführt werden.
Die Reform des Sektors ist keine europäische, sondern eine internationale Aufgabe. Weltweit befürworten viele Staaten eine internationale Debatte zu den Reformoptionen. Die Europäer hätten hier eine einmalige Chance, eine solche Diskussion anzustoßen – ob im Rahmen der G-20 oder anderer Foren. Das gilt umso mehr, nachdem der Rest der Welt in den vergangenen Monaten den Eindruck gewonnen hat, dass man in einer Art Trotzreaktion auf eine ausschließlich europäische Lösung setzt.

•    Neue Organisationsstrukturen dürfen kein Tabu mehr sein.
Um Interessenkonflikte zu vermeiden und die Qualität der Länderratings zu erhöhen, muss über neue Organisationsstrukturen abseits der traditionellen gewinnorientierten nachgedacht werden. Eine Non-Profit-Institution für Länderratings wäre hier eine mögliche Lösung.

•     Die Qualität der Länderratings 
kann durch qualitative Indikatoren erhöht werden.
Neben den makroökonomischen Indikatoren muss ein kohärentes Set an qualitativen Indikatoren, die die sozioökonomische Entwicklung eines Landes abbilden, entwickelt und getestet werden.

•     Mehr Regulierung führt nicht zwangsläufig zu mehr Transparenz und Qualität.
Eine wirkliche Reform des Sektors ist nicht zu erreichen, ohne die grundsätzliche Frage zu stellen, ob der institutionelle Status, der den Ratingagenturen durch gesetzgeberische Regelungen eingeräumt worden ist, beibehalten werden soll. Es ist zu klären, wieviel Regulierung wirklich notwendig ist, um den Sektor weiter zu öffnen, und inwieweit eine stärkere Harmonisierung der Ratingagentur-Gesetzgebung nicht nur zwischen Europa und den USA, sondern auch international herzustellen ist. Für die Debatte über die Entwicklung eines internationalen Code of Conduct ist es höchste Zeit.

Die nächste Krise kommt bestimmt

Konzepte, die neue Wege für den Ratingsektor aufzeigen, gibt es bereits. Dazu zählen das Modell von Roland Berger, das sich zum Ziel setzt, eine Ratingagentur für Unternehmen und Länder von Europa aus aufzubauen, ebenso wie das Konzept der Bertelsmann Stiftung. Dieses liefert ein Modell für den Aufbau der ersten internationalen Ratingagentur auf Non-Profit-Basis, die sich ausschließlich auf die Bewertung von Staaten auf der Grundlage eines eigens entwickelten qualitativen Indikatorensets konzen­trieren soll.

Was leider bislang vor allem in der deutschen Landschaft fehlt, ist die wirkliche Bereitschaft, Reformansätze zu diskutieren. Nachdem der Ruf nach neuen Ideen und Konzepten zunächst sehr laut war, scheinen nun im politischen Berlin ebenso wie in Brüssel die Energie und die intellektuelle Neugier zu fehlen, sich mit alternativen Ansätzen ernsthaft aus­einanderzusetzen. Schade, denn gerade jetzt, da sich der mediale Sturm und die Entrüstung über die Rolle der Ratingagenturen gelegt haben, wäre ein guter Zeitpunkt, abseits einer ­populistisch geführten Debatte Reformkonzepte zu diskutieren. Denn eines ist sicher: Die nächste Krise zum Thema Ratingagenturen kommt bestimmt.

Annette Heuser ist Executive Director der Bertelsmann Stiftung in Washington D.C.
 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/ Oktober 2012, S. 102-106

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