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01. Jan. 2016

Neue Deals für den Alten Kontinent

Statt abzuwarten, was Trump außenpolitisch will, sollte Europa Initiative zeigen

Mit einem Präsidenten Donald Trump erwartet Europa ein Amerika, das Außenpolitik danach bemisst, was den eigenen Interessen dient und mit wem es zu vorteilhaften Abkommen gelangen kann. Doch nicht reaktive Schadensbegrenzung ist das Gebot der Stunde. Die EU muss ihr Schicksal in die Hand nehmen und sich wieder in eine Position der Stärke bringen.

Europa geht in das Jahr 2017 mit einer kräftigen Portion Ratlosigkeit. Innere Krisen und Druck von außen haben die EU und ihre noch 28 Mitgliedstaaten tief gespalten. Die Sorge vor einem weiteren Erstarken der Populisten wächst, zumal 2017 in vier Gründerstaaten gewählt wird. „Postfaktische“ Politik und Desinformationskampagnen erschweren diesseits wie jenseits des Atlantiks das Geschäft derer, die verantwortungsvolle und langfristig orientierte Politik betreiben wollen. Russland destabilisiert die EU durch Einflussnahme im Inneren. Krisen in der unmittelbaren und weiteren Nachbarschaft werden migrations- und sicherheitspolitisch für weitere Spannungen sorgen und den Zusammenhalt in der EU auf die Probe stellen.

In unsicheren und unberechenbaren Zeiten wächst die Zahl derer, die vermeintlich einfache Lösungen propagieren: Renationalisierung, Schwächung Europas, Abschottung von der Welt. Sie fordern die westlich liberale Grundordnung, auf der die europäische Integration fußt, von innen wie von außen heraus. Je lauter ihre Töne werden, desto schwächer verhallt die Stimme derjenigen, die sich für liberale Gesellschaften, westliche Werte und die gemeinsame Weiterentwicklung europäischer, westlicher und globaler Ordnungsstrukturen aussprechen. Und unter einem Präsidenten Donald Trump könnten die USA den Europäern als wichtigste demokratisch-liberale Alliierte wegbrechen.
 

Handeln statt Abwarten

Auch wenn ein Präsident Trump außenpolitisch nicht alles umsetzen wird, was der Kandidat Trump angekündigt hat: Europa wird sich auf ein Amerika gefasst machen müssen, das seine Außenpolitik weit stärker danach ausrichtet, was den eigenen Interessen dient und mit wem es vorteilhafte Deals abschließen kann. Die Europäische Union kann dieser Entwicklung zusehen und reaktiv Schadensbegrenzung betreiben. Oder sie nimmt ihr Schicksal in die Hand und führt Europa in eine Position der Stärke zurück. Das ist die Mindestvoraussetzung dafür, von Washington als relevantes Gegenüber wahrgenommen zu werden. Um außenpolitisch handlungsfähig zu sein, muss die EU sich allerdings zunächst und vordringlich um ihren inneren Zusammenhalt kümmern – denn darum steht es derzeit nicht zum Besten.

Ohne liberale Prinzipien aufzugeben, sollten europäische und nationale Politiker diejenigen ernst nehmen und ihnen Lösungen anbieten, die anfällig für Populismus und Extremismus sind, weil sie in das bestehende System und seine Eliten kein Vertrauen mehr haben. Das ist umso wichtiger, da Europas Populisten von Donald Trump gelernt haben, wie sich die Grenzen des öffentlichen Diskurses mithilfe eines Politikstils verschieben lassen, der polarisiert und es mit der Wahrheit nicht allzu genau nimmt.

Selbst wenn die Situation zwischen den EU-Staaten stark variiert, gibt es doch Gemeinsamkeiten, etwa eine breite Verunsicherung und ein wachsendes Gefühl von Kontrollverlust. In einigen Ländern beherrscht das Thema Identität die gesellschaftliche Diskussion, was zulasten von Migration und Diversität geht. In anderen Gesellschaften stehen sozioökonomische Sorgen im Vordergrund. Oft vermischt sich beides: Wer um seine materielle Zukunft und die seiner Kinder bangt, mag Fremdes ablehnen, das bedrohlich erscheint, und für Grenzziehungen statt Grenzöffnungen stimmen.
 

Neue Ungleichheiten

In dieser angespannten Situation wird die Europäische Union häufig als Teil des Problems gesehen. Brüssel gilt als Speerspitze des Liberalismus, der Grenzen öffnet und den Regierungen die Fähigkeit nimmt, ihre Bürger zu schützen und die Wirtschaft weiterzuentwickeln. Natürlich, der EU-Binnenmarkt und die gemeinsame Währung haben nicht wenig zum wirtschaftlichen Erfolg Deutschlands und der EU beigetragen. Doch dabei wurden neue Ungleichheiten geschaffen. Länder wie Deutschland verzeichnen konstante, wenn auch moderate Wachstumsraten und Vollbeschäftigung. In anderen Staaten dagegen hat das Bruttoinlandsprodukt noch nicht das Vorkrisenniveau erreicht; hier kämpft man mit einer hohen Arbeitslosigkeit, die besonders die Jugend trifft. Millionen von jungen Menschen werden vielleicht nie die Chance auf eine akzeptable Erwerbstätigkeit bekommen. Hinzu kommt, dass der in der EU herrschende Steuerwettbewerb zu einer stärkeren Belastung der Arbeit und einer Entlastung des Kapitals geführt hat. All das nährt die Einschätzung, dass Europa für manche Gruppen weit mehr Belastungen als Vorteile bereithält.

Kein Wunder, dass in Europa die Zahl derer wächst, die die Wirtschafts- und Sozialpolitik der vergangenen Jahrzehnte hinterfragen. Das macht Europa – ähnlich wie die USA – anfällig für Protektionismus und Abschottung, die vermeintlich Schutz versprechen. Ein für die EU unerwartetes Reizthema ist der Freihandel geworden. Im Zuge der TTIP- und CETA-Verhandlungen wurde der Austausch von Waren und Dienstleistungen erstmals in der Nachkriegszeit Gegenstand öffentlicher Proteste und dem, was man als „Ratifikationsunfälle“ bezeichnet. Es rächt sich, dass die EU-Staaten in den vergangenen Jahrzehnten keinen Mechanismus entwickelt haben, der die Verlierer von Marktöffnungs- und Liberalisierungsmaßnahmen wirksam unterstützt hätte. Der Konsens, dass ein Abschluss von Freihandels- und Investitionsabkommen im Interesse der EU liegt, ist weggebrochen, und das schwächt nun maßgeblich die Europäische Kommission, Europas Verhandlungsführerin, gegenüber Partnern wie den USA. Setzt sich dieser Trend fort, wird Europas Gewicht im Ringen um Regulierung und globale Standards bei wichtigen Themen wie Umwelt, Verbraucherschutz und Finanzstabilität sinken.

Ein Teil der genannten Probleme lässt sich durch eine Anpassung nationaler Politiken beheben, ein anderer aber nicht. Wenn wir wollen, dass sich die Eurostaaten bei der Wettbewerbsfähigkeit oder den Leistungsbilanzen stärker einander angleichen und widerstandsfähiger gegen Krisen werden, dann brauchen wir eine europäische Lösung für die Verschuldungsproblematik und weitere Reformen der Eurozonen-Governance. Ohne stärkere Unterstützung einiger Mitgliedstaaten im sozialpolitischen Bereich drohen politische und gesellschaftliche Instabilität. Das schmerzhafte Fehlen EU-interner, wirksamer Stabilisierungsinstrumente ist ein Argument mehr, das EU-Budget neu auszurichten – ein Relikt aus früheren Zeiten, in denen die regionale Perspektive weit sinnvoller war, als dies heute ist. Die anstehenden Brexit-Verhandlungen sind für diese Reform ein guter Zeitpunkt, da mit dem Wegfall des britischen Beitrags das Budget ohnehin angefasst werden muss.

Doch nicht nur Wirtschaft und Handel sind in die Diskussion geraten. Auch der Schengen-Raum mit der Freizügigkeit von Personen ohne Grenzkontrollen und die liberale Asylpolitik leiden immer stärker unter Akzeptanzproblemen. Die EU muss bei der inneren Sicherheit und gerade bei der Terrorismusbekämpfung beweisen, dass sie in der Lage ist, den so genannten Entgrenzungseffekten zusammen mit den Mitgliedstaaten entgegenzuwirken. Dazu gehört eine systematischere Zusammenarbeit der Geheimdienste. Brüssel muss überdies zeigen, dass es die Zuwanderung kontrollieren kann, etwa durch weitere Abkommen mit Herkunfts- und Transitstaaten oder durch Grenzkontrollen. Das beim EU-Gipfel in Bratislava formulierte Ziel, Kontrolle über die Außengrenzen auszuüben und zu Schengen zurückzukehren, ist genauso wichtig wie die langfristige Entwicklung einer gemeinsamen Migrationspolitik.

Es ist weder politisch noch juristisch ganz einfach, die Schwächen des unvollständigen EU-Systems zu beheben, besonders dann, wenn Vertragsrevisionen nicht durchsetzbar erscheinen. Das darf aber keine Entschuldigung dafür sein, nicht zu handeln. Es zeigt sich immer deutlicher, dass die derzeitige Zuständigkeitsverteilung im EU-System politisch fragil ist.

Amerikanischer Kitt für die Gemeinschaft

Die wirtschaftliche Entwicklung und die Migrationsthematik bergen erhebliches Spaltpotenzial für die Europäische Union. Ihm entgegenzuwirken, wird für die EU schwieriger, wenn die Vereinigten Staaten nicht mehr mithelfen, die Gemeinschaft zusammenzuhalten, wie sie dies in den vergangenen Jahrzehnten getan haben. Mal geschah dies sichtbar und explizit, zumeist aber hinter den Kulissen, etwa in der Euro-Krise, bei der Konfrontation mit Russland oder bei der Brexit-Entscheidung. Die Obama-Regierung hat einen überaus engen Kontakt mit Europa und insbesondere mit Deutschland gepflegt, auch wenn durch den angekündigten „Pivot to Asia“ der Eindruck entstand, dass Amerikas Interessen schon in den vergangenen acht Jahren woanders gelegen hätten.

Die Aufgabe, Europa zusammenzuhalten, wird angesichts einer an Europa bestenfalls desinteressierten Trump-Regierung künftig weit stärker uns selbst überlassen bleiben. Nicht unterschätzt werden sollte darüber die Gefahr, die von einer unbedachten oder bewusst polarisierenden Europapolitik Washingtons ausginge. Weicht die neue US-Regierung etwa vom Konfrontationskurs mit Moskau ab, hätte das erhebliche Folgen für die europäische und deutsche Politik gegenüber der östlichen Nachbarschaft, die eng mit Washington abgestimmt ist. Stiege Washington aus dem Sanktionsregime gegenüber Russland aus, würde das die Wirksamkeit der europäischen Politik gegenüber Moskau und der östlichen Nachbarschaft untergraben. Der Schritt würde tiefe Risse in der EU verursachen, da sich einige Staaten gegen, andere mit Wa­shington positionieren würden.

Auch das Verhältnis zwischen den USA und Großbritannien kann für die EU zur Belastungsprobe werden. Sollten Washington und London ihre ­Special Relationship wiederbeleben, etwa indem Präsident Trump London ein bilaterales Handelsabkommen oder eine engere Kooperation in Verteidigungsfragen anbietet, würde das die Verhandlungen zwischen der EU und London über den Brexit und ein neues Verhältnis zum europäischen Kontinent belasten. Die größte Sorge der Kontinentaleuropäer dürfte dabei sein, dass in anderen EU-Mitgliedstaaten der Eindruck gestärkt werden könnte, es gäbe interessante Alternativen zur EU-Mitgliedschaft.

Darüber hinaus muss Europa eine Strategie entwickeln, wie es mit einer möglichen Neuausrichtung amerikanischer Außenpolitik umgeht. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs ist das transatlantische Verhältnis der konstante Rahmen der deutschen und europäischen Außenpolitik. Selbst wenn es tiefe Konflikte über politische Entscheidungen gab, etwa beim Irak-Krieg, so haben die transatlantischen Partner im Krisenfall doch immer zusammengearbeitet. Europa und insbesondere Deutschland konnten sich auf die amerikanische Sicherheits­garantie – ohne großen Eigenbeitrag – verlassen.

Kontinuität oder neue Karten

Donald Trump mischt nun die Karten neu. Wie er sie ausspielen wird, ist vollkommen unsicher. Im Wahlkampf hat der Republikaner Positionen eingenommen, die – wenn sie verwirklicht werden würden – die internationalen Sicherheits- und Ordnungsstrukturen massiv infrage stellen würden.

Europäische Entscheidungsträger sollten von zwei möglichen Szenarien ausgehen. Im besten Fall setzt die Trump-Regierung auf Kontinuität, verbunden mit einem sinkenden Engagement gegenüber der EU oder auch in der NATO. Einige Staaten werden im EU- und im NATO-Rahmen schrittweise mehr Verantwortung übernehmen – eine Entwicklung, die mit der Festlegung des 2-Prozent-Verteidigungsausgabenziels beim Waliser NATO-Gipfel im Jahr 2015 bereits vorgezeichnet wurde. In einem zweiten Szenario stellt die neue US-Regierung gezielt oder indirekt Pfeiler der internationalen Ordnung infrage, wenn sie die Chance auf „bessere Deals“ sieht. Dies kann die WTO und regionale Handelsabkommen genauso treffen wie Abkommen im Rahmen der Vereinten Nationen. So könnte Trumps Regierung das Atomabkommen mit dem Iran oder das Pariser Klimaabkommen infrage stellen. Setzten die USA tatsächlich Folter zur Verfolgung von Terroristen ein, würden sie internationales Recht miss­achten und seine Glaubwürdigkeit maßgeblich untergraben.

Um die Positionen und Strategien der Trump-Regierung einschätzen zu können, sind gerade in den ersten Monaten der Präsidentschaft ein möglichst enger Kontakt und Austausch wichtig. Aus europäischer Sicht ist es notwendig, frühzeitig auf US-Entscheider und ihre Berater mildernd einzuwirken, um es gar nicht erst dazu kommen zu lassen, dass stabile Beziehungen oder internationale Ordnungsstrukturen zur Disposition gestellt werden.

Entschiedenheit sollte Europa in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik demonstrieren. Die europäischen NATO-Mitglieder sollten klarstellen, dass sie ihren Verpflichtungen in Sachen Verteidigung und Rüstung nachzukommen gedenken – nicht nur über mehr Verteidigungsausgaben, sondern vor allem durch eine verbesserte Fähigkeit zur Zusammenarbeit und durch Integrationsinitiativen zwischen EU-Staaten. Washington sollte zudem daran erinnert werden, wie wichtig die Glaubwürdigkeit der Allianz ist. Vor allem muss Brüssel deutlich machen, dass die Schutzgarantie nach all dem, was Donald Trump im Wahlkampf erklärt hat, einer Bestätigung bedarf – denn es ist nicht auszuschließen, dass Russland gerade diese in der derzeitigen Umbruchphase testet. Gleichzeitig sollten die Europäer und insbesondere Berlin daran erinnern, dass militärische Mittel nur ein Instrument der Außenpolitik sind und andere Bereiche wie Stabilisierungs- und Entwicklungspolitik ebenso gestärkt und berücksichtigt werden müssen.

Was die Bedeutung gemeinsamer Normen und internationaler Ordnungsstrukturen angeht, so sollten die Europäer Washington vor einer Untergrabung der bestehenden Strukturen warnen. Denn dadurch könnte ein Trend verstärkt werden, den man als „kompetitive Regionalisierung“ bezeichnet: Wenn mehr Organisationen wie die Asiatische Infrastruktur-Investmentbank geschaffen werden, sinkt die Wirkungskraft westlich geprägter Konditionalität, etwa der Good-Governance-Ansätze der Weltbank. Damit verlören nicht nur westlich geprägte internationale Organisationen an Einfluss, sondern auch die USA.

Die offene Gesellschaft verteidigen

Europa muss sich auch darauf vorbereiten, dass andere Akteure das Vakuum füllen werden, wenn sich die Vereinigten Staaten als Ordnungsmacht zurückziehen. Das zeigt die Reaktion Chinas auf die Ankündigung Washingtons, das Transpazifische Freihandelsabkommen (TPP) nicht weiter zu verfolgen. Noch am Tag, an dem Trump verkündete, TPP kippen zu wollen, positionierte sich China als Motor für vertiefte Handelsbeziehungen in der asiatisch-pazifischen Region. Das Denken in Einflusssphären, das in China und Russland gepflegt wird, befindet sich auf dem Vormarsch. Gegenüber beiden Staaten gilt: Europa wird nur dann wirksam auftreten können, wenn es gemeinsame Positionen hat. Diese jedoch werden permanent von außen untergraben werden, denn sowohl Peking als auch Moskau sind interessiert daran, bilaterale Deals und Absprachen mit Mitgliedsregierungen abzuschließen.

In einer gefährlicheren und volatileren Welt, in der Ordnungsstrukturen gezielt angegriffen werden, muss Europa außen- und sicherheitspolitisch mehr Verantwortung übernehmen. Deutschland und Frankreich sollten dafür, in enger Zusammenarbeit mit Polen und anderen, die Initiative ergreifen und Großbritannien den Brexit-Verhandlungen zum Trotz einbinden. Gegenüber der neuen US-­Regierung muss Europa verdeutlichen, wie wichtig die freiheitlichen Werte sind, ohne die eine transatlantische Zusammenarbeit nicht zu haben ist.

Die Verteidigung der liberalen Demokratie und offenen Gesellschaft, nach innen und nach außen, ist Europas wichtigste Aufgabe geworden. Ihr muss sich die EU in einer schwierigen Situation stellen. Der heutige Zustand der Union zeigt, dass halbfertige Integration zur Gefahr geworden ist. Die EU hat eine beispiellose Phase der Öffnung und des Zusammenwachsens erlebt und hat politisch nicht mit sich selbst Schritt gehalten. Die Versuchung ist groß, sich gerade in dieser Phase zurückzuziehen. Gibt die EU ihr nach, wird sie einen hohen Preis zahlen.

Dr. Daniela ­Schwarzer ist Otto Wolff-Direktorin des Forschungs-Instituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2017, S. 8-13

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