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01. Jan. 2003

Multilateralismus als Chance

Lateinamerika braucht Zusammenarbeit mehr denn je

Die Probleme der lateinamerikanischen Länder – politische und finanzielle Instabilität, Armut, Korruption, Terrorismus – müssen von den Staaten der Region selbst auf die Agenden der multilateralen Institutionen gesetzt werden. Besondere Verantwortung tragen aber auch die USA: Wenn sie, wie damals mit dem Marshall-Plan in Europa, die Bekämpfung der Probleme Lateinamerikas unterstützen würden, wären die Aussichten der Region weitaus besser.

Nur wenige Lateinamerikaner würden sagen, dass sich die Welt nach dem 11. September 2001 wirklich verändert hätte. In der Vergangenheit nämlich haben Finanzkrisen, anhaltende Armut und korrupte Regierungssysteme dafür gesorgt, dass die Länder in der Region, von einigen bemerkenswerten und ermutigenden Ausnahmen abgesehen, ihren Blick nach innen gerichtet haben und vornehmlich mit dem eigenen Überleben beschäftigt waren. Dies erklärt auch die allgemein verbreitete Ansicht in der Region, dass lediglich die Vereinigten Staaten Ziel der Terroranschläge waren und nicht die lateinamerikanischen Länder selbst.

Würde man sie fragen, warum diese abscheulichen Angriffe gegen Zivilisten geschahen, würden die meisten Menschen in der Region in der Tat wohl auf zwei gleichermaßen irreführende Gründe verweisen: Dass die Anschläge eine Folge der amerikanischen Unterstützung für Israel im Nahost-Konflikt seien oder dass die Wurzeln des Terrorismus in Armut und Ungleichheit zu suchen seien, welche wiederum zum großen Teil auf die Politik der Vereinigten Staaten zurückzuführen seien. Kurz gesagt, die Menschen würden argumentieren, dass die USA eine Mitschuld an den Terroranschlägen trügen.

Deshalb überrascht es nicht, dass auch viele lateinamerikanische Spitzenpolitiker auf die Krise mit einer Ambivalenz reagierten, die bei der amerikanischen Regierung Enttäuschung hervorrief. Dieses Versagen beruhte auf der Unfähigkeit, die Bedeutung des 11. September für die internationalen Beziehungen ganz allgemein und die Beziehungen in der amerikanischen Hemisphäre im Besonderen zu erkennen. Darüber hinaus ist es wohl auch ein Beleg für die ausgeprägte Neigung, zunächst auf die innenpolitische Agenda und erst danach auf die internationale Ebene zu schauen. Diese Neigung lässt sich leicht nachvollziehen im Zusammenhang mit den Wunden, die Lateinamerika von Seiten des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der internationalen Kapitalmärkte zugefügt worden sind. Und doch beruht sie auf einer fatalen Fehleinschätzung, denn Lateinamerika kann der Welt ebenso wenig den Rücken kehren wie die internationale Gemeinschaft Lateinamerika sich selbst überlassen kann. Der IWF hat dies erst kürzlich mit den bislang umfangreichsten Nothilfen an Brasilien demonstriert. Und die Instabilität in Kolumbien hat Auswirkungen in alle Richtungen – von den USA bis hin zur Europäischen Union.

Aus lateinamerikanischer Sicht mag sich die Welt nicht sonderlich verändert haben, doch können die Lateinamerikaner die Auswirkungen der Terroranschläge von New York auf die Prioritäten und die Außenpolitik ihres wichtigsten Handelspartners und Nachbarn USA – der einzig verbliebenen „Supermacht“ – nicht ignorieren.

Die Probleme, vor denen Lateinamerika steht – Armut, Korruption und finanzielle Instabilität – mögen die gleichen wie früher sein, doch bewegen wir uns in einem neuen Umfeld. Unsere Fähigkeit, diese Probleme zu lösen, hängt bis zu einem gewissen Grad davon ab, dieses neue Umfeld zu verstehen. Wenn wir die politischen und wirtschaftlichen Institutionen der Länder in der Region neu beleben wollen, müssen wir uns mit den neuen Prioritäten der USA arrangieren, die Schwächen in den bestehenden multilateralen Vereinbarungen erkennen und die Chance zu einer verbesserten regionalen Zusammenarbeit ergreifen, um gemeinsame Probleme zu lösen.

Wege der Zusammenarbeit

Die Mängel des gegenwärtigen multilateralen Systems zu erkennen sollte nicht dazu verleiten, dessen Rolle gering zu schätzen. Schwindendes Vertrauen in multilaterale Institutionen war in den vergangenen fünf bis zehn Jahren ein Wesenszug lateinamerikanischer Politik; doch sollte der Grundsatz der Zusammenarbeit und des Engagements nicht durch die jüngsten Erfahrungen mit schlechten Ratschlägen des IWF beeinträchtigt werden. Es ist angesichts der zuvor genannten Herausforderungen für die internationale Politik wichtiger als je zuvor, dass die lateinamerikanischen Staaten gangbare Wege finden, um gemeinsame Probleme auch gemeinsam zu lösen.

Es liegt im ureigensten Interesse der lateinamerikanischen Staaten, die Bedeutung der Vereinten Nationen zu erhalten, da ihr eigenes Überleben und ihre Lebensfähigkeit als unabhängige Nationen angesichts der von politischer und finanzieller Instabilität, von Terroristen und Drogenmafiosi ausgehenden Gefahren auf dem Spiel steht. Von den 51 Gründungsmitgliedern der Vereinten Nationen kamen immerhin 17 aus Lateinamerika, die zudem überaus aktiv an der Ausarbeitung der Charta der Weltorganisation beteiligt waren.

In der jüngeren Geschichte haben die Menschen Lateinamerikas immer wieder vom Multilateralismus profitiert: Die Einigkeit in den Vereinten Nationen ermöglichte es in den neunziger Jahren, Friedens- und Aussöhnungsabkommen auszuhandeln, die die Bürgerkriege in El Salvador und Guatemala beendeten, die den Übergang zur Demokratie in Nicaragua erleichterten und Haiti wenigstens ein klein bisschen Demokratie gebracht haben.

Ein genauerer Blick auf die Wurzeln der politischen und wirtschaftlichen Instabilität in Lateinamerika zeigt, dass regionale und internationale Mechanismen der Zusammenarbeit – und nicht etwa ein Rückzug aus diesen – einen ersten Rahmen zur Stabilisierung der Lage bieten könnten.

Terrorismus als Bedrohung für alle

Lateinamerika muss seinen Blick nicht in die Ferne richten, um seine ureigenste, nicht unbedeutende Spielart des Terrorismus zu erkennen. Doch obwohl die Stabilität der gesamten Region auf dem Spiel steht, scheinen nur die USA Kolumbien ein Mindestmaß an Aufmerksamkeit zu schenken. Am 13. September 2002 zog Kolumbiens Präsident, Alvaro Uribe Vélez, vor der UN-Generalversammlung einen dramatischen Vergleich: „In Kolumbien“, sagte er, „fordert die Gewalt jeden Monat die gleiche Zahl an Opfern wie der 11. September. Jahr für Jahr begraben wir 34 000 Opfer. Wir haben zehn Prozent unserer Jugend verloren.“ Er klagte zudem, dass zwar ein Jahr nach der Verabschiedung der Sicherheitsratsresolution 1373 (die alle Staaten dazu aufforderte, die Unterstützung von an Terroranschlägen beteiligten Personen einzustellen) vergangen, bezüglich der beträchtlichen finanziellen Mittel der kolumbianischen Terroristen jedoch nichts geschehen sei.

Inzwischen hat der Unterausschuss des UN-Sicherheitsrats zur Bekämpfung des Terrorismus „mit Befriedigung“ festgehalten, „dass 173 Mitgliedstaaten einen Bericht über Maßnahmen vorgelegt haben, mit denen die Regierungen sicherstellen wollen, dass Terrorismus weder aktiv noch passiv unterstützt wird“. Zu den Regierungen, die einen solchen Bericht vorgelegt haben, gehören die von Irak, Iran, Libyen, Nordkorea und Syrien – also auch Bestandteile der von Präsident George W. Bush so genannten „Achse des Bösen“. Vor dem 11. September war Großbritannien der einzige UN-Mitgliedstaat, der alle zwölf Resolutionen der Vereinten Nationen zum Terrorismus ratifiziert hat. Auch Kuba hat seither alle Resolutionen angenommen, Kolumbien paradoxerweise aber noch nicht einmal sieben. Heißt das, Kuba leistet mehr zur Bekämpfung des Terrorismus als Kolumbien und der Rest der internationalen Gemeinschaft? Nein, aber es bedeutet, dass Staaten mehr leisten müssen als eine Unterschrift unter Verträge, wenn sie multilaterale Maßnahmen mit Leben erfüllen wollen. Kolumbien und die USA können die Drogenterroristen nicht allein besiegen – dies erfordert eine regionale Zusammenarbeit.

Im Fall Kolumbiens haben die lateinamerikanischen Regierungen nicht nur jegliche Solidarität mit der Not des Landes (übrigens der ältesten gewählten Demokratie der Region) vermissen lassen; sie waren auf unverantwortliche Weise blind für die Konsequenzen für ihre eigenen Länder. Tatsächlich sind die kolumbianischen Terroristen – inzwischen derart eng mit den Drogenhändlern verwoben, dass eine Unterscheidung zwischen Drogenkartellen und Terrororganisationen praktisch unmöglich ist – in immer größerer Zahl über die Grenzen nach Brasilien, Panama, Ecuador, Peru und Venezuela eingesickert.

Die Folgen werden in diesen Ländern bereits spürbar – die venezolanische Regierung unter Hugo Chávez Frías wurde beschuldigt, die kolumbianischen FARC-Rebellen zu unterstützen und ihnen Zuflucht zu bieten. In diesem Zusammenhang ist tiefe Besorgnis durchaus gerechtfertigt, wenn man bedenkt, dass die Ölfelder Venezuelas und erst recht der Panama-Kanal nur drei Wegstunden von jenen Gebieten entfernt liegen, in denen die kolumbianischen Drogenterroristen operieren. Und welche Auswirkungen hat dies auf die vitalen Interessen der USA und Lateinamerikas?

Als sich die Vereinigten Staaten endgültig entschlossen hatten, Kolumbien – nachdem dessen eigener Feldzug gegen Drogen zusammengebrochen war – aktive Hilfe zu leisten, überließen die lateinamerikanischen Nationen aufgrund innenpolitischer Überlegungen den USA das Feld. Und damit auch die Kosten für diese Hilfe, ebenso den Tadel für die Verletzung des souveränen kolumbianischen Rechtes, dies allein zu erleiden. Erst dann hielten es die restlichen lateinamerikanischen Staaten für angebracht, sich daran zu erinnern, dass Kolumbien kein Teil der USA ist, sondern dass es zur Organisation Amerikanischer Staaten gehört.

Ob die Nachbarstaaten sich nun zur Zusammenarbeit entschließen oder nicht – der Konflikt in Kolumbien stellt sowohl regional als auch international eine ernste Bedrohung für Frieden und Sicherheit dar. Je länger dieser Konflikt dauert, desto gefährlicher wird er und desto bitterer der Tribut, den Kolumbien und seine Nachbarn dafür entrichten müssen. In Kolumbien stehen der politische Wille und die Verpflichtung der Vereinigten Staaten und der internationalen Gemeinschaft zur Bekämpfung des Terrorismus, wo auch immer in der Welt er auftritt, auf dem Prüfstand. Dabei dürfen sich auch die lateinamerikanischen Staaten ihrer internationalen und regionalen Verpflichtungen nicht entziehen.

Chance und Verantwortung

Die Welt nach dem 11. September ist ein Furcht einflößender Ort. Das Entstehen eines globalen Terrorismus mit einem metapolitischen Charakter, wie er von Osama Bin Laden und der Al-Khaïda-Organisation verkörpert wird, erfordert die rückhaltlose Zusammenarbeit aller Staaten bei der Bekämpfung dieser Bedrohung. Wenn auch die große Mehrheit der Lateinamerikaner in einer relativ ruhigen Ecke der Welt nach dem 11. September lebt, haben die jüngsten Ereignisse doch gezeigt, wie Länder ohne eigenes Zutun als Zufluchtsort oder logistische Basis genutzt werden können, wo schmutziges Geld versteckt, gewaschen oder für terroristische Zwecke eingesetzt wird.

Die Herausforderung wird für die meisten lateinamerikanischen Staaten noch durch die ökonomischen Schwierigkeiten vergrößert, von denen ihre Wirtschaften gebeutelt werden und die dazu beigetragen haben, das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung zu untergraben.

Für einige Lateinamerikaner ist Terrorismus beängstigende alltägliche Wirklichkeit. Die kolumbianischen Rebellenorganisationen werden finanziell großzügig unterstützt und sind in ein internationales Netzwerk eingebunden. Sie stellen nicht nur für Kolumbien, sondern auch für die Nachbargemeinschaften und -staaten eine direkte Bedrohung dar. Dennoch haben es sich nur die USA zur Priorität gemacht, Kolumbien in diesem Konflikt zu unterstützen. Andere lateinamerikanische Staaten dürfen ihnen darin nicht nachstehen; auch sie müssen sich dieser Herausforderung stellen.

Multilateralismus ist sowohl eine Chance als auch eine Verantwortung. Nicht immer arbeiten die bestehenden Institutionen reibungslos, und nicht immer erfüllen Staaten ihre Verantwortung als Mitglieder der internationalen Gemeinschaft; dies aber heißt nicht, dass unsere Bedürfnisse, wenn sie von einem Forum nicht erfüllt werden, in überhaupt keinem Forum erfüllt werden. Einige Probleme erfordern gemeinsame Lösungen, und wir müssen Wege finden, um mit ihnen umzugehen. Wir in Lateinamerika müssen erkennen, dass die Zusammenarbeit zwischen Nationen einer Intervention der USA oder der UN häufig nicht nur vorzuziehen, sondern zum Nutzen aller Lateinamerikaner in einigen Fällen sogar unabdingbar ist. Kolumbien ist hierfür das beste Beispiel: Ohne eine aktive Zusammenarbeit der kolumbianischen Nachbarn werden die Terrornetzwerke und der Drogenhandel ungeachtet der von den USA zur Verfügung gestellten Mittel überleben.

Wirtschaftliche Stabilität

Wirtschaftliche Stabilität ist ein anderer Punkt. Den freien Handel innerhalb der Region und der Hemisphäre im Rahmen der Amerikanischen Freihandelszone (Free Trade Area of the Americas/FTAA) zu stärken, ist eine historische Chance und sollte dringend gefördert werden. Man muss nur auf die Europäische Union schauen, um den wirtschaftlichen Gewinn auszumachen, der darin liegen könnte. Man sollte nicht vergessen, dass die ursprüngliche Architektur der EU auf die wirtschaftliche Integration ausgerichtet war – ein Weg, über den die politische Anpassung sichergestellt werden sollte.

Die Vereinigten Staaten für ihren Teil tragen eine wichtige und anspruchsvolle Verantwortung vor allem dabei, multilaterale und regionale Mechanismen anders auszustatten und ihnen neuen Auftrieb zu verleihen. Sie müssen sich die Lehren, die sie zur Schaffung des Völkerbunds und der Vereinten Nationen bewogen haben, erneut vor Augen führen – namentlich, dass der Unilateralismus der europäischen Mächte, der die schlimmsten Konflikte der Welt verursacht hatte, erst ein Ende fand, als die Vereinigten Staaten militärisch in Europa intervenierten, um die Europäer vor den Folgen ihrer eigenen Politik zu retten.

Das neue strategische Umfeld setzt den Terrorismus an die Spitze der politischen Agenda. Lateinamerika kann sich dieser Tatsache nicht verschließen und muss in Fragen der Sicherheit und des Terrors, die bei den USA seit dem 11. September hohe Priorität genießen, die Initiative ergreifen. Die zweite Lehre ist, dass kein Staat allein steht und dass kein Staat diese Herausforderung allein meistern kann. Regionale und internationale Zusammenarbeit ist dringend erforderlich um sicherzustellen, dass internationale Institutionen die vielfältigen Interessen der Region repräsentieren und dazu beitragen, Maßnahmen gegen jene Probleme zu koordinieren, die auf der Agenda der Vereinigten Staaten einen vorderen Platz einnehmen, wie etwa Terrorismus, und auch jene an der Spitze der lateinamerikanischen Agenda, wie beispielsweise finanzielle und politische Instabilität.

Mit großer Macht geht auch große Verantwortung einher, ebenso die Notwendigkeit eines wahrhaft langfristigen Denkens. Nach wie vor gilt die Feststellung: Wer den Wohlstand verteidigen will, muss die Armut bekämpfen. Für die Vereinigten Staaten steht dabei mehr auf dem Spiel als für alle anderen. Jenes weitsichtige Denken, das im Marshall-Plan zutage trat, wird auch heute wieder benötigt. Es wird zu oft vergessen, dass dieser Plan einen freien und bedingungslosen Transfer von ein bis zwei Prozent des amerikanischen Bruttoinlandsprodukts nach Europa umfasste, eine wahrhaft außergewöhnliche Maßnahme – noch außergewöhnlicher indes war die damit erzielte Rendite.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar 2003, S. 55 - 60

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