Mit historischem Beigeschmack
Die slowakische Stadt wird 2013 zur Kulturhauptstadt Europas. Sie präsentiert sich innovativ – und ist dabei vergesslich
„Die ehemaligen k.u.k.-Städte erzählen noch immer so manche Geschichte.“ Der Schriftsteller Dusan Simko, 1945 in Košice geboren und nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 in die Schweiz emigriert, konstatiert es jedoch ohne Emphase, wenn er durch die Straßen seiner alten Heimatstadt streift. Mögen Kulturbürokraten in Brüssel oder Berlin schwärmen, die Osteuropäer hätten doch so Spannende“ zu berichten, mag auch die Auszeichnung Europäische Kulturhauptstadt 2013 davon zeugen – die Chronisten wissen es besser und berichten eher von irreparablen Brüchen denn von gemütvoll anekdotensatter Kontinuität.
Das am Rande der Karpaten gelegene ehemalige Kaschau (auf ungarisch Kassa), war nach dem Ersten Weltkrieg und dem Vertrag von Trianon von der ungarischen Hälfte der einstigen Donau-Monarchie abgespalten und der neugegründeten Tschechoslowakei zugeschlagen worden. Als Hitler 1938 in die Sudetengebiete einmarschieren ließ, ergriff das unter Horthy diktatorisch regierte Ungarn ebenfalls die Chance und verleibte sich die seit dem Mittelalter berühmte Handelsstadt wieder ein. Ab Frühjahr 1944 begannen dann auf dem Bahnhof der Stadt die Züge nach Auschwitz zu rollen, strikt nach den Plänen von Eichmanns „Transportabkommen von Kassa“. Etwa 380 000 deportierte ungarische und slowakische Juden wurden an diesem „zentralen Umschlagplatz“ in die Viehwaggons gestoßen, die erst bei der Rampe des Vernichtungslagers wieder hielten.
Und heute, in der Europäischen Kulturhauptstadt 2013? Der Bahnhof war bereits in den siebziger Jahren im Stil der damaligen Zeit modernisiert worden, heute fahren hier Express-züge in die nördlich gelegene Hauptstadt Bratislava. Im altehrwürdigen Sitzungssaal des Košicer Rathauses präsentiert eine ambitionierte Vizebürgermeisterin mit Kühlschrank--Lächeln den Katalog der demnächst folgenden Wunderprojekte. Selbstverständlich sind dies „sustainable projects“, und außer „transgender“ fehlt tatsächlich kein Schlüsselbegriff, um ein paar unterstützende EU-Millionen fließen zu lassen: In den nächsten Monaten will eine neue Kunsthalle fertiggestellt sein, ein Jazz-Festival soll Stimmung und ein „Festival of Diversity“ Besinnlichkeit bringen – selbstverständlich wird auch jüdische und Sinti- und Roma-Folklore zur Aufführung kommen.
Mögen Insider hinter vorgehaltener Hand auch murmeln, der Brüsseler Geldsegen komme vor allem der exkommunistischen und neureichen Politik- und Wirtschaftselite der Stadt zugute – ein reiner Schwindel ist das Kulturhauptstadt-Projekt nicht: die Bürgerhäuser im Stadtzentrum schmuck restauriert, der berühmte Dom wieder ein gotisches Juwel, die Wasserfontänen im Park auf der Hlavná-Fußgängerzone sprudelnd, die von gutgelaunten Erasmus-Studenten bevölkerten Cafés hip. Auch die größte Synagoge der Stadt ist wieder renoviert und für die Gottesdienste der winzigkleinen Gemeinde geöffnet.
Und dennoch. Wer außer dem Emigranten Dusan Simko weiß noch, dass sich gleich hier in der Nähe die Gestapo-Zentrale befunden hatte. Und wer würde daran erinnern, dass im April 1945 die aus London zurückgekehrte tschechische Exilregierung just hier mit dem „Kaschauer Programm“ das Fundament für die berüchtigten „Beneš-Dekrete“ gelegt hatte, welche die Vertreibung der Sudetendeutschen anordneten?
All die Zickzack- und Bruchlinien des 20. Jahrhunderts scheinen in Košice einer medial kompatiblen Aufgeräumtheit gewichen zu sein, die sich zwar nationalistischer Engstirnigkeit enthält, aber doch nicht minder geschichtslos wirkt. Und so muss die Lehrerin Jana Tesserová mit ihren Besuchern weiterhin über den Kiesboden der zweiten großen Košicer Synagoge kraxeln, in der nur noch die Wandbemalungen und Emporen an die einstige Blütezeit der jüdischen Gemeinde erinnern – im Sozialismus war es ein Warenlager. Die Tochter von Shoah-Überlebenden erzählt, dass es der aus Košice stammende KZ-Flüchtling Arnost Rosin gewesen war, der 1944 seine Aufzeichnungen außer Landes geschmuggelt und die Alliierten informiert hatte. „Die unterlassene Bombardierung der Gleise nach Auschwitz – hier gleich hinter Košice hätte sie beginnen müssen ...“
Auch davon findet sich im großformatigen Projektkatalog kein Wort. Und so bleibt bei dieser Geschichte ein Gschmäckle – die unfreiwillig ironische Ergänzung zur deutschsprachigen Stadtbroschüre, die in auftrumpfender Unbeholfenheit titelt: „Košice – eine moderne Stadt mit historischem Beigeschmack.“
Und während man im Rathaus von einer künftigen boomenden Ost/West- und Süd/Nord-Drehscheibe spricht, laufen die Sinti und Roma in der Vorortsiedlung „Lunik 9“ zwischen verfallenen Neubauten umher. Die dortige Selbstverwaltung ist gescheitert, zwei ehemalige Viertelbürgermeister sitzen wegen Drogenhandel im Gefängnis. Man muss kein Hellseher sein, um für die hier verwahrlost Heranwachsenden eine dunkle Zukunft zu befürchten – für sie scheint es auch im Kulturhauptstadtjahr 2013 kein „sustainable project“ zu geben.
Marko Martin lebt als Schriftsteller und Publizist in Berlin. Sein aktuelles Buch: „Kosmos tel Aviv. Streifzüge durch die israelische Literatur und Lebenswelt“.
Internationale Politik 6, November/ Dezember 2012, S. 124-125