Mit Hirn und Herz
Ein Grußwort von Sigmar Gabriel
In seiner Dankesrede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels sagte der israelische Schriftsteller Amos Oz etwas, das mir sehr gefiel, weil es gleichermaßen idealistisch wie realistisch war. Es ging ihm darum, wie in seinem Heimatland Israel, aber auch überall sonst auf der Welt unterschiedlichste Menschen in Frieden miteinander leben können, ohne ihre Unterschiede aufzugeben: „Wir sollten versuchen, innerhalb einer umfassenden Gemeinschaft der Menschheit die verschiedenen Wünsche nach Identität und Selbstbestimmung zu verwirklichen. Wir sollten eine vielstimmige Welt errichten und nicht eine voller Dissonanzen, voller selbständiger und selbstsüchtiger Nationalstaaten.“ Realistisch ist der Gedanke, weil er die Unterschiede nicht kleinredet, idealistisch, weil er den Glauben daran behält, dass Unterschiede ohne Gegnerschaft möglich sind. Dieser Ansatz scheint mir eine gute Ausgangsbasis für eine Welt, in der die Dissonanzen immer lauter werden.
Um Unterschiede miteinander vereinen zu können, ist es in erster Linie wichtig, sie zu verstehen. Das Gefühl von Zugehörigkeit, zu einer Familie, einer Gruppe, einer Nation, ist für Menschen von großer Bedeutung. Jeder hat eine Identität, wie auch immer sie oder er diese definiert. Sie kann Motor für vieles sein – im Guten wie im Schlechten, im Großen wie im Kleinen. Es ist unerlässlich, ihr auf den Grund zu gehen, wenn man nachvollziehen will, was die Menschen und letztlich auch die Politik antreibt. Das gilt insbesondere für das vielschichtige Beziehungsgeflecht zwischen Deutschland, Israel und den USA. Die Verbindungen zwischen diesen Nationen sind einerseits durch geopolitische und wirtschaftliche Überlegungen bestimmt. Auf der anderen Seite stehen Geschichte, Religion, Ethnie und Identität, nicht als naturwüchsige Gründe nationaler Zugehörigkeit, sondern als Faktoren, die die Lebensrealität der Menschen beeinflussen, die auch ihre Stellung zur Politik beeinflussen. Diese Seite ist mindestens ebenso wichtig und sollte nicht durch brachiale politische Entscheidungen ignoriert werden. Sonst wird es immer wieder ungelöste Konflikte geben.
Deutschland und Israel sind für immer durch das Unrecht der nationalsozialistischen Herrschaft und die Gräuel des Holocaust miteinander verbunden. Diese Geschichte bestimmt nicht nur die Beziehungen auf diplomatischer Ebene, sie lebt bis heute in den Erinnerungen und Erzählungen in Familien beider Länder fort, einer Geschichte von Trauer und Wut, Schuld und Verantwortung. Doch es ist nicht nur die Geschichte ab 1933, die eine Rolle spielt: Auch die Identifikation mit und Liebe zu Deutschland und Europa, die viele Juden vor ihrer grausamen Ermordung oder ihrer Flucht empfanden, ist ein Teil des komplizierten Mosaiks von Identität in diesem Verhältnis. Nicht zuletzt gibt es auch die Beziehungen, die heute neu geknüpft werden, von jungen Israelis und Deutschen, die sich – sicher nie ganz unbefangen, aber doch neugierig und aufgeschlossen – einander annähern.
Die Beziehungen Israels zu den Vereinigten Staaten von Amerika sind gekennzeichnet durch enge familiäre Bindungen zwischen den beiden Ländern und durch den Bezug der jüdischen Diaspora in den USA zum Staat Israel. Doch auch die Gruppe der Evangelikalen, die mitunter ein äußerst zwiespältiges Verhältnis zum Judentum hat, beeinflusst das amerikanisch-israelische Verhältnis. Schon während seines ersten Wahlkampfs war Israel ein zentrales Thema für Donald Trump, der die umstrittene Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels und die Verlegung der US-Botschaft dorthin schnell nach seiner Wahl zum Präsidenten in die Tat umsetzte. Im aktuellen Wahljahr spielen die amerikanisch-israelischen Beziehungen wieder eine herausgehobene Rolle. Die Regierung Trump, die internationale Zusammenarbeit ansonsten häufig für überflüssig hält, sieht sich hier in ihrer traditionellen Rolle des erfolgreichen Vermittlers, der im Nahen Osten durch geschickte und vertrauliche Verhandlungen einen Durchbruch erreichen kann. Dass Israel und die Vereinigten Arabischen Emirate diplomatische Beziehungen aufnehmen wollen und nun mit Bahrain ein weiterer arabischer Staat sich ebenfalls dazu bereit erklärt hat, ist unzweifelhaft zu begrüßen. Und doch bleibt ein verlässlicher Weg Israels zum Frieden mit allen seinen Nachbarn nicht vorstellbar, wenn die Palästinenser nicht in diesen Prozess eingebunden sind.
Denn die innenpolitische, konfliktbeladene Lage Israels ist ebenfalls von vielfältigen Identitäten geprägt. Die Kluft, die viele Juden und Muslime zwischen sich sehen, ist eng mit der Geschichte des Staates Israel, mit der prekären Lage der Palästinenser und den Beziehungen Israels zur arabischen Welt verwoben.
Wir müssen uns mit all diesen Wahrnehmungen und Zugehörigkeiten befassen und sie verstehen. Nicht jede Identität ist, wie bereits erwähnt, etwas Positives, Unschuldiges. Die fehlgeleitete Suche nach Identität kann Konflikte, Populismus, Hass auf Fremde befeuern und sehr gefährlich werden. Gleichzeitig kann ein Gefühl von Zugehörigkeit auch dazu führen, dass sich Menschen für die Abschaffung von Unrecht und Diskriminierung einsetzen. Beide Phänomene können wir beobachten, in Europa, in Israel, in den USA. Es ist nur folgerichtig, dass das Sylke-Tempel-Fellowship dieses Jahr dem Thema „Israel und Deutschland im US-Wahljahr: Nationale Narrative, Identitäten und Außenpolitik“ gewidmet hat. Die Medienschaffenden aus Deutschland und Israel, die das Fellowship erhalten haben, beleuchten Aspekte der Beziehungen, die wir nicht ignorieren sollten. Sie befassen sich mit jüdischer Identität, mit dem Umgang mit Minderheiten in Deutschland, Israel und den USA, mit der Annäherung von Juden und Muslimen, mit Populismus, mit der Rolle der jüdischen Diaspora und dem deutschen Erbe jüdischer Israelis. Dass junge Menschen diesen Fragen nachgehen, die Vielschichtigkeit der politischen Realität aufzeigen und damit die Debatte bereichern, darf Hoffnung geben. Ich freue mich, dass mit dem Fellowship solch tiefgehende Arbeiten gefördert werden können. Guter Journalismus ist ein essenzieller Teil unseres demokratischen Lebens.
Sylke Tempel, die viel zu früh verstorben ist, hat stets einen wachen und kritischen Blick auf das Dreiergefüge gehabt, um das es hier geht. Sie ist viel gereist, hat die Länder und die Menschen kennengelernt, ihre Geschichte und Gegenwart. Ihre Kritik war deswegen so bestechend, weil sie nicht nur scharfsinnig war, sondern weil ihr Deutschland, Israel und die USA wirklich am Herzen lagen. Sie hat sich – ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen oder Dinge zu beschönigen – für die Beziehungen zwischen unseren Ländern eingesetzt und gegen Engstirnigkeit. Und was sie so ausgezeichnet hat, war nicht zuletzt ihre Überzeugung, dass man mit fast allen produktiv streiten kann. Genau das müssen wir nämlich tun, wenn wir uns für Demokratie, Frieden und für ein verträgliches Miteinander unterschiedlichster Menschen einsetzen. Und an genau diese Streitkultur mit Hirn und Herz, die Sylke Tempel so unnachahmlich beherrscht hat, scheinen mir die vorliegenden Arbeiten hervorragend anzuknüpfen. Deutschland, Israel und die USA: Das Verhältnis dieser drei Länder ist vielschichtig, und nur, wenn wir uns mit allen Facetten befassen und diese verstehen, können wir Dissonanzen und nationalistische Selbstsucht überwinden – ganz im Sinne von Amos Oz.
Internationale Politik Special 2, November 2020, S. 4-5