Gestalten, nicht gestaltet werden
Warum sich Deutschland nicht von den Problemen der Welt abschotten kann
Bei der Gedenkveranstaltung für die Chefredakteurin dieser Zeitschrift, Sylke Tempel, sprach der Bundesaußenminister am 11. Dezember 2017 über das transatlantische Verhältnis und aktuelle Entwicklungen in Israel und Nahost. Zugleich forderte Gabriel, Bürgerinnen und Bürger mehr an der Debatte über Fragen deutscher Außenpolitik zu beteiligen.
Im vorigen Jahr hat Sylke Tempel in einem Interview zum Syrien-Krieg gesagt: „Eine Supermacht USA, die sich aus der Welt zurückzieht, hinterlässt ein Vakuum, das von anderen gefüllt wird, die keineswegs besser sind. Im Gegenteil.“ Das war im Februar 2016, als Donald Trumps Wahl zum US-Präsidenten noch eine bizarre Phantasie zu sein schien. Schon damals zeichnete sich ab, dass die USA nicht mehr in allen Regionen der Welt das Maß an Kontrolle ausüben würden, das wir gewöhnt waren. Damals haben vorausschauende Menschen schon geahnt, welche Konsequenzen es haben würde, wenn die USA Schritt für Schritt Abstand von der Idee der „liberal order“ nehmen würden. Denn der Rückzug beschleunigt die Veränderung der globalen Ordnung, und das hat unmittelbare Konsequenzen, auch für uns in Deutschland und in Europa.
Seit der berühmten Rede von George Marshall vor 70 Jahren war Europa immer auch ein amerikanisches Projekt im wohlverstandenen Eigeninteresse. Heute gibt es im Umfeld der US-Regierung eine durchaus distanzierte Wahrnehmung Europas: Man nimmt uns dort als Wettbewerber und manchmal sogar als Gegner wahr. Die Welt wird nicht mehr als globale Gemeinschaft gesehen, sondern wie in dem inzwischen schon berühmten Artikel in der New York Times von Cohen und McMaster, als Arena, als Kampfbahn, in der nicht verbindliche Verabredungen miteinander die Welt regeln sollen, sondern die Auseinandersetzung. Dazu kommt: Die USA haben sich in den vergangenen Jahren verändert – politisch und gesellschaftlich. Sie werden sich mit Blick auf die Welt weiterhin neu justieren – und zwar eher weg von Europa als auf Europa zu. Europa ist in dieser Sicht eine Region unter vielen anderen.
Daher teile ich auch die Hoffnung vieler deutscher Transatlantiker so nicht, dass wir nach einer Ausnahmeperiode der Trump-Präsidentschaft wieder zu unserer alten Partnerschaft zurückkehren werden. Auch, weil der Rückzug der USA unter diesem Präsidenten aus der Rolle des verlässlichen Garanten des westlich geprägten Multilateralismus durchaus neue Fakten schafft, die ein „zurück auf Los“ nicht mehr möglich machen. Die Selbstverständlichkeit, mit der wir die US-amerikanische Rolle – trotz gelegentlicher unterschiedlicher Auffassungen – seit Jahrzehnten als behütend gesehen haben, beginnt also zu bröckeln. Das sieht man schon daran, dass wir bei zentralen Fragen mit den USA über Kreuz liegen – ob beim Abkommen mit dem Iran oder auch zum freien Welthandel. Die Konferenz der Welthandelsorganisation (WTO) in Argentinien zeigt, wie groß die Auffassungsunterschiede inzwischen sind.
Die USA werden sicherlich unser wichtigster globaler Partner bleiben. Wir werden diese Partnerschaft auch in Zukunft brauchen und pflegen. Wir brauchen diese Partnerschaft, aber sie allein wird nicht ausreichen, um unsere Interessen zu wahren in einer Welt, die von neuen politischen und wirtschaftlichen Machtpolen und konkurrierenden Gesellschaftsmodellen geprägt sein wird.
Wir werden in diese Partnerschaft zukünftig weit mehr investieren müssen als bisher. Dazu gehört, konstruktive Partner in Regierung, Kongress, den Bundesstaaten und vor allem der Zivilgesellschaft noch gezielter als bisher anzusprechen. In diesem Sinne werden das Auswärtige Amt, das Goethe-Institut und der Bundesverband der Deutschen Industrie gemeinsam mit zahlreichen Partnern Ende 2018 ein Deutschland-Jahr in den USA beginnen. Zahlreiche Veranstaltungen zu den unterschiedlichsten Themen sind in der Planung, angefangen bei Freiheit, Diversität, Verantwortung; über Digitalisierung und die Zukunft der Arbeit bis hin zur Rolle des „German Heritage“ und zu unserer Kultur und Lebensweise. Wir wollen damit auch über die üblichen Verdächtigen hinaus die Menschen in den Tiefen des amerikanischen Hinterlands erreichen – neue Zielgruppen erschließen, die bisher weniger im Fokus des transatlantischen Austauschs standen.
Das Vakuum im Nahen Osten
Der Wandel der amerikanischen Rolle, der schon vor Trump begann, lässt sich schon heute im Nahen und Mittleren Osten besichtigen. Der regionale Ordnungsrahmen war seit dem Zweiten Weltkrieg weitgehend durch die USA vorgegeben. Heute will und kann Washington nur noch eingeschränkt staatlichen Zerfallstendenzen entgegenwirken. Das Vakuum, das der amerikanische Rückzug dort öffnete, hat sich rasch gefüllt. Russland, aber auch der Iran haben die Dynamik des syrischen Bürgerkriegs Schritt für Schritt zu ihren Gunsten – und zu Gunsten des Regimes in Damaskus – gedreht. Vorläufiger Höhepunkt war das Treffen vor zwei Wochen zwischen den Präsidenten Putin und Assad, gefolgt von den Präsidenten Rohani und Erdogan. „Schwarze Seelen am Schwarzen Meer“ nannte dies eine deutsche Tageszeitung.
Und als wären Syrien, Irak und Jemen nicht schon genug an Krisenherden, droht neues Ungemach in der Region: Die Anerkennung der Trump-Regierung von Jerusalem als die Hauptstadt Israels ist ein außerordentlich riskanter Schritt. Ein Schritt, den Washington übrigens ohne vorherige Abstimmung mit Europa vorgenommen hat. Wir alle wissen, welche weitreichenden Konsequenzen dieser Schritt haben kann. Dass dies eine Rückorientierung der USA zum Nahen Osten einläutet, darf bezweifelt werden. Es geht wohl eher um die Umsetzung eines Wahlkampfversprechens. Dieser Schritt zeigt übrigens auch, dass die Annahme, das Amt und seine etablierten Beraterinnen und Berater würden Präsident Trump schon zähmen, offensichtlich nur sehr bedingt zutrifft.
Die Position der Bundesregierung, wie immer sie in Zukunft aussehen wird, bleibt unverändert: Eine Lösung der Jerusalem-Problematik kann nur durch direkte Verhandlungen zwischen beiden Parteien gefunden werden. Alles, was die Krise verschärft, was die Zwei-Staaten-Lösung erschwert, ist kontraproduktiv. Wir sehen das Schwinden der Chancen für eine Zwei-Staaten-Lösung mit großer Sorge. Über die Folgen der Hauptstadtentscheidung auf die Zwei-Staaten-Lösung und die Sicherheit Israels werden wir diskutieren müssen. Wahrscheinlich werden wir mit vielen anderen zusehen müssen, welches Gewaltpotenzial dort erneut in Erscheinung tritt. Auch mit Blick auf diese schwierigen Fragen gilt für uns: So beschwerlich der Weg zu einer Zwei-Staaten-Lösung auch sein mag, wir werden ihn weiter unterstützen, auch indem wir auf beiden Seiten mit gesellschaftlichen Akteuren zusammenarbeiten, die die Einhaltung der Menschenrechte unter schwierigen Bedingungen überwachen und einfordern.
Sehnsucht nach Abgrenzung
Nicht nur die Veränderungen der Weltlage, sondern auch die bei uns in Deutschland geben Grund zur Sorge. Der Schlachtruf der Brexiteers – „Take Back Control“ – ist ja sozusagen die europäische Variante zu „Make America Great Again“ und das Mantra derjenigen in Europa und darüber hinaus geworden, die mit gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Abgrenzung politisch punkten wollen. Nicht Gemeinsamkeiten und geteilte Werte stehen im Vordergrund, sondern Differenzen und nationale Egoismen.
Herfried Münkler hat in diesem Zusammenhang in der Neuen Zürcher Zeitung von einer „Sehnsucht nach Kleinräumigkeit und einer wachsenden Kontrollfähigkeit der Staaten“ geschrieben. Vielerorts sehen wir eine Rückbesinnung auf Grenzen und die vermeintliche Stärke des Nationalstaats. Vielfalt und Individualität, Gleichstellung und Inklusion werden von den populistischen Parteien als Ausdruck übertriebener „politischer Korrektheit“ diffamiert und infrage gestellt – die Wirkung dieser Kampfansagen reicht bis tief ins bürgerliche Spektrum, auch bei uns in Deutschland.
Die liberalen Eliten der westlichen Demokratien laufen Gefahr, in ihren oft selbstbezogenen Diskursen dieses gesellschaftliche Bedürfnis nach Klarheit und Ordnung zu unterschätzen. Oder, wie man mit Blick auf die USA formulieren könnte: Wer die Interessen des Rust Belt vergisst, dem werden die Hipster in Kalifornien auch nicht mehr helfen können.
Wir müssen diese Herausforderungen annehmen, weil eine Handels- und Mittelmacht wie Deutschland Offenheit und Öffnung braucht wie die Luft zum Atmen. Wir können uns nicht abschotten von den Problemen dieser Welt. Wir stehen vor zweierlei Herausforderungen: Zum einen müssen wir unsere neue Rolle in der Welt klarer definieren. Dazu gehört auch, unsere Interessen zu definieren und sich nicht zufriedenzugeben mit dem wohlfeilen Anspruch, eine wertegebundene Außenpolitik zu betreiben. Ich glaube, dass wir uns zur Formulierung unserer eigenen Interessen und zu einem strategischen Blick auf die Welt bekennen müssen. Zum anderen dürfen wir dabei nicht unsere eigenen Bürger vergessen. Die Herausforderung wird in den jährlichen Umfragen im Auftrag der Körber-Stiftung deutlich: Die außenpolitische Zurückhaltung in Deutschland ist nach wie vor stark – auch wenn sie über die Jahre leicht abgenommen hat. Das entspricht so gar nicht den Erwartungen, die von außerhalb an Deutschland herangetragen werden, ob nun in Europa oder auch darüber hinaus.
Außenpolitik in der öffentlichen Debatte
Wir müssen unseren Bürgerinnen und Bürgern daher mehr erklären, wie wir die Welt sehen und was auf uns zukommt: Dass wir uns nicht raushalten können, dass wir mitgestalten müssen, wenn wir nicht gestaltet werden wollen. Es geht um das Vermitteln – von Inhalten, aber auch von schwierigen Abwägungsprozessen und Zielkonflikten, vor denen die Politik zwangsläufig steht. Und es geht darum, dem Eindruck der „Alternativlosigkeit“ vorzubeugen. Das könnte ein wirksames Gegenmittel gegen die nur scheinbar einfachen Lösungen für komplexe Probleme sein, die uns Populisten und Stimmungsmacher suggerieren.
Dafür sollten nicht nur die Außenpolitiker untereinander über Außenpolitik reden. Das Auswärtige Amt hat deshalb seine Kommunikation zu außenpolitischen Themen in den vergangenen Jahren massiv geändert und wird das weiter tun müssen. Wir werden die Zahl unserer Kanäle in den sozialen Medien erweitern. Wir schicken unsere Diplomatinnen und Diplomaten bereits hinaus ins Land, in die Schulen und Universitäten. Aber auch die Diskussion in Betriebsversammlungen und Lehrwerkstätten, mit Auszubildenden und Handwerksgesellen tut not. Wir müssen Unternehmen und Betriebsräte bitten, auch in ihren Veranstaltungen über das Interesse ihrer Beschäftigten an einem geeinten Europa zu reden, damit das nicht nur in den Leitartikeln der liberalen Medien erscheint, sondern diejenigen erreicht, die heute oftmals den Eindruck haben, dass Europa gegen ihre Interessen gerichtet ist. Wichtig ist dabei, dass unsere Kolleginnen und Kollegen nicht belehren und bloß Vorträge halten, sondern die Bürger fragen und sie in unsere Abwägungsentscheidungen mit einbeziehen. Nur so, davon bin ich überzeugt, erzeugen wir Teilhabe und ein Verständnis für die Anforderungen an die deutsche Außenpolitik.
Internationale Politik 1, Januar/Februar 2018, S. 6-9