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01. Mai 2004

Kein Kaninchen, keine Schlange

Die SPD und die Agenda 2010

Die mit der „Agenda 2010“ verbundenen sozialen Sparmaßnahmen und Einschnitte haben der
SPD ein gleichermaßen schlechtes Abschneiden bei Wahlen und Umfragen beschert. Der ehemalige
niedersächsische Ministerpräsident fordert von seiner Partei mehr Selbstbewusstsein, um
mit dem von ihr betriebenen Umbauprogramm jene Kraft zurückzugewinnen, die Deutschland
braucht, um in die Zukunft zu investieren.

Wer die innerparteiliche Diskussion der SPD um die
Reformvorhaben der letzten 15 Monate beobachtet hat, wird
allenthalben auf die Einschätzung treffen, die Ursache
für das schlechte Abschneiden bei Wahlen und Umfragen sei
letztlich die Agenda 2010 und die in ihr enthaltenen Zumutungen
für nicht unerhebliche Teile der Bevölkerung.
Vergessen wird dabei, dass bereits die Bundestagswahl 2002 nur
ganz knapp gewonnen wurde. Der Wahlerfolg war wohl weniger den
innenpolitischen Leistungen der SPD zu verdanken als der
Entscheidungsfreudigkeit von Bundeskanzler Gerhard
Schröder während der Flutkatastrophe und seiner
Haltung in der aufkommenden Irak-Krise.

Die ersten schweren Wahlniederlagen kassierte die SPD dann
bereits wenige Monate nach der Bundestagswahl in Hessen,
Niedersachsen und Schleswig-Holstein, weil sie auf die
dramatischen Finanzprobleme des Bundeshaushalts und der
sozialen Sicherungssysteme im Wesentlichen Antworten bereit
hielt, die sie vor der Wahl nicht zum Gegenstand der
politischen Auseinandersetzung gemacht hatte. Die
Enttäuschung und Wut vieler Wählerinnen und
Wähler suchte sich dafür ein erstes Ventil.

Mit Blick auf die Bundestagswahlen 2006 und auch im Hinblick
auf die kommenden entscheidenden Landtagswahlen richtet sich in
der SPD nun alle Hoffnung auf das Anspringen der Konjunktur.
Diese Hoffnung aber könnte sich als trügerisch
erweisen: Der hohe Eurokurs vor knapp einem Jahr wirkt sich
– wie immer – mit deutlicher Zeitverzögerung
dämpfend auf die Exportnachfrage aus, und in dieser
„Champions League“ spielen wir hier ohnehin nur
noch im Bereich des Fahrzeug- und Maschinenbaus mit. Auf der
anderen Seite sieht es mit der Binnennachfrage ebenfalls
weiterhin trübe aus, denn die Verunsicherungen der
Verbraucher durch Arbeitslosigkeit und einer mehr als ein Jahr
anhaltenden Reformdebatte sind manifest geworden. Niemand
investiert in dieser Lage schnell und umfangreich in langlebige
Konsumgüter wie Autos oder eine neue Hifi-Anlage. Und die
staatliche Nachfrage bleibt wegen einer durch die
Interventionen von CDU/CSU und FDP im Vermittlungsausschuss
verkorksten Gemeindefinanzreform und des
Drei-Prozent-Kriteriums von Maastricht ebenfalls aus. Die
Auslastungsgrade der Investitions- und
Konsumgüterindustrie steigen nur schwach an, so dass
für viele Unternehmen Investitionen aktuell nicht sinnvoll
erscheinen.

Diese fehlenden Investitionen haben zudem eine sehr
gefährliche Folge, auf die selbst die EU-Kommission
inzwischen hinweist: Die Leistungs- und
Wettbewerbsfähigkeit am Markt nimmt ab. Nur eine
außerordentlich hohe Produktivität der deutschen
Volkswirtschaft sichert das im internationalen Vergleich
relativ hohe Niveau im Wohlstand und in den sozialen
Sicherungssystemen unseres Landes. Nur durch Investitionen in
Forschung und Entwicklung und in Produktion und
Verfahrenstechnik gelingt es Deutschland angesichts hoher
Bruttoarbeitskosten, seit Jahrzehnten wettbewerbsfähig zu
bleiben.

Zudem muss in der traditionell kreditfinanzierten deutschen
Wirtschaft aufgrund anderer Spielregeln am Kapitalmarkt Schritt
für Schritt auf mehr Eigenkapital umgestellt werden, so
dass Entschuldung und nicht Investitionen angesagt sind. Der
Kreislauf, an dessen Ende Konsum und Arbeitsplätze stehen,
kommt nicht oder jedenfalls mit deutlicher Verzögerung in
Gang.

Nun haben wirtschaftliche Prognosen meist keine sehr hohe
Halbwertszeit. Und wenn das oben beschriebene Szenario sich
deutlich besser entwickeln sollte – um so besser. Was
aber, wenn nicht? Dann jedenfalls fehlt dem jetzt
herbeigehofften Motor für sozialdemokratische Wahlerfolge
die Kraft.

Träume von kleinen und großen Schweinen

CDU und CSU begehen diesen Fehler übrigens nicht. Sie
setzen nicht nur auf die inneren Widersprüche der SPD oder
hoffen auf das Image einer scheinbar verbrauchten
Regierungskoalition. Im Gegensatz zu der auch in der SPD in
Mode gekommenen Haltung, Wähler interessierten sich nicht
mehr für Programme, sondern für Personen, entwickeln
sie in den zentralen Feldern der deutschen Politik eigene
Konzepte: Gesundheitsreform, Steuerreform, Arbeitsmarktreform.
Diese Reformvorhaben werden in den kommenden Monaten immer
stärker mit konservativen Wert- und Zielvorstellungen
verbunden werden.

Wir Sozialdemokraten verfallen zur Zeit angesichts dieser
politischen Konzeptionen von CDU und CSU gelegentlich in einen
fatalen Irrtum: Zwar fühlen wir uns angesichts der
sozialen Sparmaßnahmen der Agenda 2010 selbst wie
„kleine Schweinchen“, zeigen aber hektisch auf
„die große Sau“, die auch noch durch das
bundesdeutsche Dorf läuft. Wir übersehen dabei nur,
dass Menschen entweder Schweinefleisch mögen – dann
werden sie die große Sau kaufen – oder sie sind
Vegetarier: dann mögen sie auch das kleine Schweinchen
nicht.

Nun ist die Kritik an den Vorschlägen der CDU nicht nur
erlaubt, sondern auch richtig. Immerhin hat Angela Merkel vor,
im Gesundheitswesen über ihre „Kopfpauschalen“
einer Familie mit zwei Kindern und einem Jahreseinkommen von
30000 Euro rund 1200 Euro mehr an
Krankenversicherungsbeiträgen abzuknöpfen,
während ein Lediger mit einem Jahreseinkommen von 40000
Euro sage und schreibe 1900 Euro gewinnt –
Familienpolitik nach Gutsfrauenart. Und die Steuerpolitik von
Friedrich Merz ist nicht viel besser: Damit der Steuersatz
für den Manager auf 36 Prozent gesenkt werden kann, werden
die Nacht- und Schichtzulagen von Krankenschwestern, Polizisten
und Facharbeitern massiv höher besteuert. Man muss kein
Sozialist sein, um das als unsozial und unfinanzierbar zu
erkennen. Da reicht schon die Mitgliedschaft in der CSU.

Mehr Selbstbewusstsein

Im Gegensatz zu manch einem in meiner Partei bin ich auch in
Zeiten der Globalisierung immer noch der Überzeugung, dass
Politik gestaltbar ist und nichts Fatalistisches an sich hat.
Notwendig sind dafür Mut zur Bewegung statt zum
abwartenden Stillstand, neue Ideen und die Suche nach
Bündnispartnern auch außerhalb der SPD.

Die SPD hat nämlich weiß Gott Grund,
selbstbewusst zu sein: Die Agenda 2010 macht schließlich
Schluss damit, die Lösung aller vorhandenen Probleme immer
nur durch Schulden auf die nächsten Generationen zu
verschieben, die Steuern zu erhöhen oder den Arbeitnehmern
durch Beitragssteigerungen immer weniger von ihrem hart
erarbeiteten Brutto zu lassen.

Die SPD will mit ihrem Umbauprogramm die Kraft zurück
gewinnen, die Deutschland braucht, um sie in die Zukunft zu
investieren. Wenn wir heute 114 Milliarden Euro – also
fast 40 Prozent des Bundeshalts – für ganze zwei
Aufgaben ausgeben, für Renten und Schuldzinsen, und nur
noch zwölf Milliarden Euro für Forschung und
Technologie, dann ist diese Zukunft unseres Landes
gefährdet. Und genau das wollen wir ändern. Wir
machen dabei sicher nicht immer alles richtig oder lassen uns
von CDU/CSU zu unsinnigen Kompromissen nötigen – wie
bei der Zuzahlungsreform im Gesundheitswesen. Aber die Linie
der SPD-Reformpolitik trägt die Überschrift:
Wohlstand nicht nur für uns, sondern auch für unsere
Kinder, Enkel und Urenkel. Und auf diese Linie können wir
durchaus stolz sein.

Allerdings müssen wir nun auch zeigen, dass die
Menschen in Deutschland von uns mehr zu erwarten haben als
Zumutungen. So konkret wie wir Menschen zehn Euro
Praxisgebühr abverlangen, müssen auch die positiven
Veränderungen erfahrbar werden, die wir durch neue
Spielräume erreichen wollen. Wir haben versucht, jetzt
mehr als ein Jahr den Menschen in Deutschland Maßnahmen
zu erklären und all unsere Kraft darin gebunden. Diesen
Kampf haben wir angesichts des dauerhaften Umfragetiefs
offenbar gründlich verloren. Aber den Kampf um die
Interpretation der Ziele unserer Politik haben wir in Wahrheit
noch gar nicht begonnen. Nicht alle, aber sicher mehr als heute
werden bereit sein, auch Zumutungen zu akzeptieren, wenn sie
ebenso konkret erleben, welche Ziele und positiven
Entwicklungen damit verbunden sind.

Die SPD wird in der Bevölkerung nur dann als Partei der
sozialen Gerechtigkeit wahrgenommen, wenn sie in den zentralen
Aufgabenfeldern der Alltagsrealität unserer Gesellschaft
positive Veränderungen herbeiführt. Die
innerparteilichen Debatten um Einzelinstrumente wie
Erbschaftssteuer, zwei oder drei Punkte mehr oder weniger im
Rentenniveau des Jahres 2035 (!) oder die
Ausbildungsplatzabgabe wird außerhalb der SPD weit
weniger wahrgenommen als wir glauben.

Es kommt also jetzt darauf an, die Teile der
Alltagsrealität in unserer Gesellschaft in den Blick zu
nehmen, die vielen Menschen unter den Nägeln brennen. Wir
sollten es schaffen, in den kommenden Monaten dort Ziele und
Projekte zu entwickeln, bei denen Fortschritte genauso konkret
erkennbar werden wie der Zumutungsteil der Agenda 2010. Die
zentralen Themen dafür sind uns doch längst
bekannt.

Kinder und Familien

In kaum einem anderen Feld kann die SPD so glaubhaft an ihre
Leistungen anknüpfen wie im Bereich der Kinder- und
Familienpolitik: Die massive Erhöhung des Kindergelds, die
Senkung des Eingangssteuersatzes oder der Ausbau von
Kinderbetreuung und Ganztagsschulen sind einige der wirklich
zahlreichen Beispiele für unsere engagierte Politik seit
dem Regierungswechsel 1998.

Dynamik, Kraft, wissenschaftliche und technologische
Neugierde und auch die wirtschaftliche Nachfrage nach
Konsumgütern lebt ganz wesentlich von jüngeren
Generationen. Die Megafrage, wie wir Deutschland wieder zu
einem Land für Kinder und Familien machen, wird uns
deshalb in den kommenden Jahren wie kaum eine andere
beschäftigen. Keine andere Partei hat für eine
glaubwürdige und aktive Bevölkerungs- und
Familienpolitik so gute Voraussetzungen wie die SPD.

Natürlich bedarf es dazu mehr als einiger weiterer
Kindergelderhöhungen. Zuerst muss die SPD in Familien
weniger eine Bedrohung des Selbstbestimmungsrechts von Frauen
erkennen als einen wichtigen Raum für Sozialisierung und
Erziehung. Dieser Raum kann und muss gestaltbar werden für
alle Beteiligten: für Ehepaare, Unverheiratete und
Alleinlebende jeweils mit ihren Kindern. Und im Kern
müssen wir die Kombination aus (Teilzeit-)
Beschäftigungschancen und Kinderbetreuung verbessern
helfen, denn Familien leben letztlich nicht von staatlichen
Transferbeihilfen, sondern von eigenen Einkommen. Und wir
sollten Vorschläge entwickeln und umsetzen, damit Kinder
selbst in den Familien mit Arbeitseinkommen nicht immer mehr
zum Sozialhilferisiko in Deutschland werden. Wie wäre es,
wenn die deutsche Sozialdemokratie einmal einen Parteitag lang
ebenso heftig über die Wege zur Abschaffung von
Kindergartengebühren (einschließlich der
Finanzierungsfragen für Länder und Gemeinden)
streiten würde wie über Studiengebühren?
Vielleicht hätten dann mittlere und untere
Einkommensgruppen auch einen Grund mehr, SPD zu
wählen.

Bildung und Innovation

Millionen Menschen in Deutschland wissen, dass sie ihren
persönlichen Berufs- und Bildungsweg in hohem Maße
den Bildungsreformen der SPD zu verdanken haben. An diesem
Vertrauensvorsprung können wir anknüpfen, denn
Konservativen und Liberalen glaubt in diesem Land kaum einer,
dass sie wirklich etwas von besseren und gerechteren
Bildungschancen verstehen als wir.

Dazu gehört sicher auch die Diskussion um Elitebildung.
Kein Zweifel: der Wohlstand unseres Landes hängt ganz
wesentlich davon ab, dass es in Deutschland Exzellenz in
Wissenschaft, Forschung und Spitzentechnologie gibt.

Es gibt aber einen Grund dafür, dass die alten
Ägypter ihre Pyramiden nicht zuerst mit der Spitze in den
Sand gebaut haben. Für die Bildungspolitik der SPD gilt
auch heute noch: Auf das Fundament kommt es an. Am Ende gibt es
– wie bei den Pyramiden – auch eine weithin
sichtbare und schöne Spitze. Wenn 70000 Ingenieure in den
kommenden Jahren aus dem Arbeitsleben ausscheiden und
Deutschland nur 35000 Studentinnen und Studenten der
Ingenieurwissenschaften besitzt, dann liegt hier die
größte Gefahr für die Wettbewerbsfähigkeit
der deutschen Wirtschaft und nicht allein im Fehlen von
Nobelpreisträgern. Und auch die Antwort auf die Frage, ob
die 20 bis 40 Prozent türkischstämmiger Jugendlicher,
denen aktuell nicht einmal ein Hauptschulabschluss winkt, in
zehn Jahren im Labor stehen oder Paletten schleppen, wird
wesentlich über den Wohlstand und die soziale Sicherheit
in Deutschland entscheiden.

Die SPD muss – und zwar unabhängig von
Zuständigkeiten in Bund, Ländern und Gemeinden
– als Partei einen „New Deal“ für
Bildung und Innovation in Deutschland wagen. Im Mittelpunkt
müssen Kindergärten und Schulen stehen, die auf die
Veränderungen in unserer Gesellschaft eingestellt sind.
Das ist heute bei weitem nicht der Fall. Vielfach fehlt es an
der Frühförderung im Kindergarten und der Vorschule,
der Ganztätigkeit im pädagogischen Angebot, einer
angemessenen Lehrerausbildung und an psychologischer und
therapeutischer Kompetenz. Die allseits beklagten Mängel
in der Ausbildungsfähigkeit, im Kommunikationsverhalten
oder bei der Studierfähigkeit haben hier ihren
Ausgang.

Die Bürgerversicherung

Die anhaltende Zurückhaltung im Konsumverhalten der
Menschen in Deutschland hat neben der Angst vor
Arbeitslosigkeit inzwischen auch viel mit der Verunsicherung
aufgrund der – notwendigen – Reformdebatte zu tun.
Allerdings müssen wir Sozialdemokraten wissen: Nur Yuppies
empfinden den Hinweis darauf, dass sich alles ständig
ändert, sexy. Unsere Wählerinnen und Wähler
erwarten von uns Verlässlichkeit und Sicherheit.

Eine der schlimmsten Verunsicherungen hat im
Krankenversicherungssystem in Deutschland stattgefunden. Es war
unvermeidlich, weil die bisherigen Versprechen, alles
könne so weitergehen wie bisher, letztlich zum Kollaps des
Systems und dabei zum Verlust aller Sicherheit geführt
hätte. Allerdings gibt es für Sozialdemokraten so
etwas wie ein Kernversprechen des Sozialstaats. Und das
beinhaltet nicht, ob die Rente in 35 Jahren 45, 46 oder 48
Prozent des letzten Nettogehalts ausmacht und auch nicht, ob
das Arbeitslosengeld 63 oder 60 Prozent beträgt. Das
Kernversprechen lautet: Wenn Du krank wirst, dann bekommst Du
unabhängig von Deinem Einkommen die beste für Dich
notwendige medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt.
Wenn Du krank bist, wirst Du nicht arm; und wenn Du arm bist,
wirst Du nicht krank.

An diesem Kernversprechen haben wir Sozialdemokraten
kräftig gerüttelt. Die Vorschläge zur
Einführung einer Bürgerversicherung ist geeignet,
hier wieder Vertrauen und Sicherheit zu schaffen. Dafür
brauchen wir vor allem den Mut, Hand an das letzte
real-sozialistische Planwirtschaftssystems ohne jeden
Wettbewerb in Qualität und Preisen zu legen: das deutsche
Gesundheitssystem. Und wir müssen offensiv dafür
eintreten, dass die Absicherung im Krankheitsfall für
jeden einzelnen eine Aufgabe aller Menschen in Deutschland ist
– und nicht nur des Teils, der ein bestimmtes Einkommen
nicht erreicht oder einen bestimmten Status nicht besitzt.

Arbeit und Mindesteinkommen

Hunderttausende von industriellen Jobs sind in den letzten
Jahren aus Deutschland ins Ausland verschwunden. Meist waren es
Arbeitsplätze, die zwar nicht besonders angenehm waren,
mit Schicht, Lärm, Hitze und körperlich monotoner und
schwerer Arbeit verbunden waren. Aber sie alle hatten eine
relativ hohe Produktivität gemein, die angemessene
Löhne rechtfertigte.

Was neu entsteht und entstehen kann in Deutschland, sind
hoch qualifizierte Arbeitsplätze, für die wir die
beschriebenen Investitionen in Bildung, Wissenschaft, Forschung
und Technologie benötigen. Aber was wird aus den Menschen,
die der damit einhergehenden Qualifikationsentwicklung nicht
folgen können? Sie waren es, für die im wesentlichen
die oben beschriebenen lohnkostenintensiven Jobs zur
Verfügung standen. Diese Arbeitsplätze sind weg, die
Menschen gibt es immer noch.

Für Menschen mit formal nicht so hohen Qualifikationen
ergeben sich neue Chancen nur im Dienstleistungssektor. Vor
allem personen- und haushaltsbezogene Dienstleistungen nehmen
in einer Gesellschaft mit relativem Reichtum zu. Viele dieser
Arbeitsplätze haben allerdings einen enormen Nachteil:
Ihre Produktivität ist relativ niedrig und die Entlohnung
auch. Um davon leben zu können braucht man gleich drei
Jobs auf einmal – siehe USA – oder den Umweg
über die Schwarzarbeit. Beides können
Sozialdemokraten wohl kaum wollen.

Eine Antwort zur Mobilisierung des Dienstleistungssektors
für den Arbeitsmarkt sind natürlich nach wie vor
Kombilöhne: jede Arbeit wird als zumutbar definiert,
allerdings verbunden mit der Sicherheit, dass von einer
achtstündigen Arbeit auch ein angemessenes Einkommen
erzielt werden kann, das deutlich über der Sozialhilfe
oder dem Arbeitslosengeld II liegt. Zumutbarkeit plus
garantiertes Mindesteinkommen, das sich zusammensetzt aus dem
Entgelt des Arbeitgebers und einer negativen Einkommenssteuer
wie in England.

Wenn es der SPD gelingen könnte, dafür nicht nur
ein glaubwürdiges Konzept zu entwickeln, sondern auch
einen Fünfjahresplan zur schrittweisen Einführung des
Mindesteinkommens mittels einer negativen Einkommenssteuer,
hätten wir erstmals auch denjenigen einen Grund gegeben
SPD zu wählen, die heute keinerlei Perspektive für
ein geregeltes Einkommen besitzen.

Städte und Gemeinden

Bundes- und Landespolitik der SPD müssen einen
Paradigmenwechsel im Umgang mit den Städten, Gemeinden und
Landkreisen vornehmen. Ähnlich wie CDU/CSU und FDP in
ihrer Regierungszeit haben auch wir in den letzten Jahren die
kommunale Ebene nicht mehr als gleichwertigen Partner neben der
Bundes- und Landespolitik gesehen, sondern immer stärker
als zweite Ableitung unter der Bundespolitik. SPD-Parteitage
beschließen vorzugsweise gesellschaftlich dringend vor
Ort zu erledigende Aufgaben, allerdings fast immer ohne zu
sagen, wie unsere Kommunalfraktionen das eigentlich bezahlen
sollen. Bestes Beispiel dafür ist die vorgesehene
Entlastung der Kommunalhaushalte von den Kosten der Sozialhilfe
für Langzeitarbeitslose. Nicht nur, dass die entsprechende
Gesetzgebung vor offenen Fragen nur so strotzt, sondern selbst
wenn das Versprechen eingehalten würde, haben unsere
Parteitage gleich hinterher beschlossen, was die Kommunen mit
den eingesparten Geldern zu tun haben: Kinderkrippen aufbauen.
Kleiner Denkfehler dabei: Die Kommunen haben heute das Geld
nicht für die langzeitarbeitslosen
Sozialhilfeempfänger, sondern bezahlen sie
(widerrechtlich) aus Kassenkrediten für die
Verwaltungshaushalte. Wie bitte sollen sie morgen das Geld
für Kinderkrippen aufbringen?

Die SPD muss die Gemeinden, Städte und Landkreise
wieder als Integrationsorte in unserer Gesellschaft verstehen.
Ob Deutsche und Ausländer oder Jüngere und
Ältere gut miteinander zusammen leben, ob Kinder und
Jugendliche, der Sport und die Kultur ausreichend
gefördert werden oder ob soziale Einrichtungen für
Menschen in Not in ausreichender Zahl zur Verfügung
stehen, das alles entscheidet sich nicht in Bundes- oder
Landesgesetzen, sondern ausschließlich in den
Handlungsspielräumen der Kommunalpolitik. Und eben diese
sind in Deutschland weitgehend ruiniert.

Die deutsche Sozialdemokratie ist in den Städten
entstanden. Die Widersprüche, aber auch die Chancen
unserer Gesellschaften konnten dort immer zuerst und wie unter
einem Brennglas beobachtet werden. Von der
Föderalismusreform bis zur Finanzausstattung: Die SPD
sollte zuerst und vor allem den Kommunen die Vorfahrt
gewähren.

Prüfstein Finanzpolitik

Von der Kinder- und Familienpolitik über Bildung und
Arbeit bis hin zur Gemeindefinanzreform: ohne eine solide
Finanzpolitik bleiben alle programmatischen Ziele unerreichbar
und werden in Wahlaussagen unglaubwürdig. Was also
tun?

Am Ende wird es keine Alternative zu einer Kombination aus
Einsparungen, Steuerpolitik und Subventionsabbau geben. Eine
Verschärfung der sich bereits aus der Agenda 2010
ergebenden Einsparungen scheint mir nur schwer durchhaltbar zu
sein, schon wegen der verheerenden wirtschaftlichen Folgen in
der Binnennachfrage. Die SPD wird deshalb wohl ihre Forderungen
nach einer Verbesserungen für Kinder und Familien, Bildung
und Arbeit sowie der Stärkung der Kommunen verbinden
müssen mit echten Umschichtungen im Haushalt und auch mit
einem eigenen Steuerkonzept. Das ist schwer und wird massiven
Streit mit den betroffenen Interessengruppen geben, ist aber
alternativlos. Wieso ist eigentlich die Diskussion um ein
Mindesteinkommen, das durch einen Kombilohn gestützt wird,
so schwer zu rechtfertigen, wenn doch gleichzeitig 13
Milliarden Euro Landwirtschaftssubventionen in Deutschland
nichts anderes sind als das größte Programm zur
Sicherung von Mindesteinkommen für Bauern?

Wer diesen politischen Streit nicht wagen will, wird weiter
auf die Konjunktur hoffen müssen. Das Risiko dabei
enttäuscht zu werden, scheint mir kleiner zu sein als das
Risiko in einer Auseinandersetzung um Umschichtungen und um
Veränderungen in der Steuerpolitik zu unterliegen.

Wie wäre es, wenn wir auch neue und für die
Öffentlichkeit glaubwürdige staatliche
Finanzierungsverfahren entwickeln würden? Beispiel
gefällig? Jeder (zusätzliche) Euro aus der Reform der
privaten Erbschaftssteuer wird durch einen staatlichen Euro aus
dem Abbau von Subventionen und staatlicher Bürokratie
ergänzt („matching fund“). Die Summe geht in
eine staatliche Stiftung für Bildung und Innovation. Und
am Ende jeden Jahres gibt ein nationaler Bildungsrat ein
Qualitätsgutachten über die Effizienz der
eingesetzten Gelder und die Entwicklung von Bildung und
Wissenschaft in Deutschland ab. Individuen und Staat widmen
sich in einem solchen Modell einem gemeinsamen Ziel: der
Leistungsfähigkeit unseres Bildungssystems. Und die
Öffentlichkeit hat durch eine nicht parteigebundene
Instanz eine transparente Qualitätskontrolle. Drei Dinge,
die Menschen in Deutschland an unserem anonymen Steuer- und
Finanzsystem vermissen: gemeinsame Verantwortung, echte
Teilhabe und Qualitätssicherung.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, Mai 2004, S. 77-84

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