Buchkritik

27. Juni 2022

Menetekel Taiwan

Wie der Buchmarkt auf die rasant wachsende chinesische Herausforderung reagiert: drei Analysen und eine Hagiografie.

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Bild: Illustration eines Buches auf einem Seziertisch
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Das Szenario: Ein riesiges Land, in dem Menschenrechte nichts gelten und das dennoch ökonomisch aufs Engste mit dem Westen verbandelt ist, erkennt die Eigenstaatlichkeit seines kleinen demokratischen Nachbarn nicht an und droht unverhohlen mit Eroberung und Krieg. Worauf sich die Frage stellt, wann diese Eskalation stattfinden wird, welche geostrategischen Auswirkungen regional zu befürchten sind – und welche wirtschaftlichen Folgen weltweit.



Nein, hier ist nicht die Rede von der Vorgeschichte des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine. Stattdessen ist es die Volksrepublik China, die im Fokus der hier vorzustellenden Bücher steht – mitsamt ihrem gar nicht weiter kaschierten Plan, sich das demokratische Taiwan gewaltsam einzuverleiben. Darüber hinaus gibt es zahlreiche Detailinformationen über das totalitäre Innenleben des kommunistischen Reiches, über Pekings aggressive Politik im pazifischen Raum und den weltumspannenden Versuch ökonomischer Dominanz, der gerade im Westen zahlreiche Helfershelfer findet.



 All das ist nicht neu, aber in skrupulöser Recherchearbeit auf den aktuellstmöglichen Stand gebracht. Längst hat die China-­Literatur von Experten deutscher Provenienz im internationalen Vergleich aufgeholt. Was indessen noch keine Gewähr dafür bietet, dass nach Eintreffen des hier Prognostizierten von Politikerseite etwas anderes zu hören sein wird, als dass „man“ sich eben in China getäuscht habe, Taiwan „unserer Solidarität“ versichere, „in einer anderen Welt aufgewacht“ sei, in der Wandel durch Handel nichts mehr gelte, aber nun einmal so derartig enge wirtschaftliche Verknüpfungen habe, dass ... Man kennt das.



Christian Geinitz, seit 25 Jahren Wirtschaftsredakteur der FAZ (inklusive langjähriger Korrespondentenerfahrung in China) beschreibt in seinem neuen Buch „Chinas Griff nach dem Westen“ en détail eine geradezu generalstabsmäßig geplante Einkaufs­tour. Es ist jedoch nicht etwa die „chinesische Wirtschaft“, die hier in atemberaubendem Tempo expandiert, sondern die Kommunistische Partei, die – unter ihrem Vorsitzenden Xi stärker als je zuvor – nicht nur die Staatsunternehmen, sondern auch die vermeintlich privaten Firmen und Konzerne dominiert. Womit gleichzeitig eine beliebte Rhetorikfigur hiesiger Schönredner obsolet wird: Nein, es geht hier mitnichten allein um wirtschaftliche Konkurrenz, sondern tatsächlich um den Wettstreit zwischen politischen Systemen, ja radikal differierenden ­Menschenbildern.



So deprimierend die Zahlen und Hintergrundinformationen zu lesen sind, wie und auf welche Weise es China gelungen ist, bis in die Welt deutscher Mittelschichtunternehmen vorzudringen (von strategischen Joint Ventures, etwa bei Volkswagen, ganz zu schweigen) – noch wichtiger scheint die Beschreibung westlicher Abwehrstrategien. Sie kommen spät, womöglich sogar zu spät und tragen rein defensiven Charakter. Bereits die vorherige Bundesregierung hatte die Außenwirtschaftsverordnung verschärft, um chinesische Übernahmepläne zumindest auszubremsen – im Übrigen damals gegen den Widerstand des hiesigen Industrieverbands BDI.



Auch auf EU-Ebene kamen die Obstruktionstaktiken häufig aus den eigenen Mitgliedstaaten, doch ist mittlerweile zumindest ein gewisses Umdenken zu konstatieren. Eine neue Brüsseler „Screening-Verordnung“ wird chinesische Staatsunternehmen und subventionierte private Investoren genauer in den Blick nehmen, und sogar Gegenprojekte zur „Neuen Seidenstraße“ sind geplant, durch die man den von China umworbenen Ländern andere Angebote machen will. Doch nicht nur Christian Geinitz bleibt skeptisch, ob derlei Pläne tatsächlich nachhaltig finanzierbar seien oder nicht eher im Larvenstatus eines „großen Ankündigungs-Tamtams“ verblieben. Immerhin: Institutionen wie das Europa-Parlament und dessen Ausschüsse nehmen kein Blatt vor den Mund, um Chinas totalitäre Innenpolitik und die aggressiven Vorstöße im Auswärtigen konkret zu benennen.



Schuld und Schulterzucken

Dagegen beschreibt der langjährige China-Korrespondent Philipp Mattheis in seinem Buch „Ein Volk verschwindet. Wie wir China beim Völkermord an den Uiguren zuschauen“ das hiesige Schulterzucken angesichts des wohl größten menschenrechtlichen Skandals unserer Zeit. Dabei ist längst bekannt und ausreichend verifiziert, wie in der Provinz Xinjiang die muslimische Bevölkerungsmehrheit durch Zwangssterilisation und forcierte Heiraten mit angesiedelten Han-Chinesen dezimiert wird, wie massenhafte Morde, Zwangsarbeit und ideologische „Umerziehung“ in eigens dafür geschaffenen Lagern geschehen.



„Deutsche Unternehmen wie Siemens, BASF und vor allem Volkswagen hätten lange, bevor die Gräuel begannen, die Reißleine ziehen oder zumindest deutliche Zeichen setzen können. Eine absurde Note erhält das Debakel auch noch dadurch, dass für Volkswagen wirtschaftliche Verluste gar nicht auf dem Spiel standen. Der Aufbau der Werke in Xinjiang war immer Teil eines Deals mit der KPCh gewesen und folgte eben nicht nur der Profitmaximierung: Ihr investiert dort in ein Minusgeschäft, dafür bekommt ihr die Genehmigung für Werke in anderen Landesteilen.“



Zu Recht hält Philipp Mattheis dieses Sich-einspannen-Lassen für genuin politische, in diesem Fall sogar: genozidäre Ziele für unerträglich – „gerade für die deutschen Unternehmen, die eine Historie in Sachen Zwangsarbeit haben“. Freilich arbeiten auch außerhalb der PR-Abteilungen jener Unternehmen zahlreiche Akteure im Westen daran mit, Verantwortlichkeiten zu verwischen und mit Blut befleckte ­Lieferketten quasi reinzuwaschen. Da ist etwa, im vermeintlich unpolitischen Vorfeld, jene Armada westlicher Reise­blogger, die sich – ob bezahlt oder aus purer Naivität – von der chinesischen Regierung in die ansonsten radikal abgeschottete Uiguren-Provinz einladen lassen. Dementsprechend entstehen dann Wohlfühlvideos voll folkloristischer Harmlosigkeit – für „unseren“ Markt und für ein vor allem jüngeres Publikum, dessen Mindset auf diese Weise gekonnt manipuliert werden kann. Statt alter Mao-Parolen gibt es ästhetisch ansprechende Landschaftsaufnahmen, gern auch mit ökologischem Touch und Vorzeige-Einheimischen. Wenn man so will, das Pendant zum staatlichen Dezimierungsprogramm: „Der Genozid des 21. Jahrhunderts ist ein ,smarter Genozid‘. Er geschieht leise und mit Mikrochips, Überwachungskameras, Gesundheitstest und Injektionen.“



Apologie der Gewalttätigkeit

Als mögliche westliche Gegenmaßnahmen setzt auch Mattheis auf ein „Verbot von erzwungenem Technologietransfer, Transparenzauflagen für Subventionen im hiesigen Dienstleistungssektor“ und dergleichen. Zugegeben, ein beinahe belächelnswertes Minimalprogramm – doch gerät selbst dieses unter den rhetorischen Beschuss hiesiger „China-Kenner“ aus dem Dunstkreis der weltweit von Peking finanzierten Konfuzius-Institute und universitären „China-Centren“. Äußerst befremdlich deshalb, dass es einer der Vertreter dieser Schule mit seiner jüngsten Publikation sogar in den renommierten Berliner Verlag Matthes & Seitz geschafft hat, wo vor einigen Jahren noch ein Klassiker der Aufklärung erschienen war: Jean François Billeters luzide Studie „Gegen François Jullien“ war der profunde Einspruch eines renommierten Sinologen gegen jene kulturalistische Tradition, die China als das „große Andere“ definiert, das angeblich mit universellen Menschenrechtsmaßstäben gar nicht zu messen sei. Eben diese Position aber vertritt nun Helwig Schmidt-Glintzer, seines Zeichens Direktor des China Centrums Tübingen, wo er Vorträge zum „Humanismus in chinesischer Tradition“ hält oder ­Peking-affirmativen Referenten wie dem Publizisten Frank Sieren ein Podium verschafft.



These seines Buches „Der Edle und der Ochse“: Das Reich der Mitte habe eine lange und komplexe Tradition der Staatsdiener­schaft, die im Westen lange ignoriert worden sei, sodass es nun an der Zeit sei, „die Stimmen der Eliten Asiens“ zu hören – die Gleichsetzung Chinas mit dem gesamten Kontinent dürfte hier kein Zufall sein. Und dann folgt, wenn auch in vertrackter Diktion, die Apologie der Gewalttätigkeit: „Man wird sich daran gewöhnen müssen, dass ein erstarktes China es sich nicht zumuten lassen wird, auf alte Ansprüche verzichten zu sollen. Dazu gehört, dass das auch als Formosa bezeichnete Taiwan ein integraler Teil Chinas ist, ebenso wie natürlich auch Hong Kong nach weiteren Transformationsschritten seinen Sonderstatus verlieren und dann gänzlich Teil Chinas sein wird.“



Die Nachbarn gefügig machen

Wer sich nicht daran gewöhnen will, was Peking-getreue Sinologen dekretieren, ist der Wissenschaftler Alexander Görlach. Sein Buch „Alarmstufe Rot“ ist allerdings keine moralistische Alarmschrift, sondern die faktensatte Analyse der festlandchinesischen Strategie, sich die Nachbarstaaten gefügig zu machen – durch kalkuliert eskalierende Inselstreitigkeiten mit Südkorea und Japan, durch eine gewollte Verschuldung Sri Lankas oder mittels Unterstützung autoritärer Kräfte auf den Philippinen. Jüngstes Beispiel ist der Wahlsieg des Diktatorensohnes Marcos ­junior, dessen Clan beste Beziehungen zur Volksrepublik unterhält.



Das Dilemma, das Görlach beschreibt, ist das gleiche, das gegenwärtig auch in Bezug auf die Ukraine gilt: „Die USA sind der einzige Akteur, der in der Lage wäre, Taiwan erfolgreich gegen einen Angriff der Volksrepublik China zu verteidigen. Aber wird man sich in Washington auf einen Krieg mit einer Atommacht einlassen, deren politische Führung von nationalistischem Eifer und ideologischer Verbohrtheit geblendet ist? Andererseits: Was geschieht, wenn man Peking nicht in seine Grenzen weist? Der Erfolg in Hongkong und eine etwaige erfolgreiche Invasion Taiwans könnten Peking dazu verleiten, mit den westpazifischen Staaten in einen Krieg einzutreten.“



Aus diesem Grund spreche vieles dafür, dass Washington bereits rechtzeitig in dem sich anbahnenden Konflikt Stellung bezieht – und zwar durch Aus- und Aufrüstung seiner Partner und durch eine Verstärkung seiner Präsenz, zusammen mit den Demokratien in der Region. Dies, so Görlach in seiner ruhigen und alles andere als scharfmacherischen Argumentation, sei die einzige Möglichkeit.



Zuwarten und Schönreden würden Peking lediglich ermutigen und damit das Kriegsrisiko erhöhen: „Nichts deutet darauf hin, dass mit einem gemäßigten Mittelweg China künftig in Schach gehalten und eine militärische Eskalation im Westpazifik verhindert werden kann.“ Angesichts der Überalterung der chinesischen Bevölkerung und des gegenwärtigen Wirtschaftseinbruchs infolge der Covid-Pandemie könnte ansonsten nämlich Präsident Xi einem „übereilten Zeitplan“ folgen, in einem verzweifelten Rundumschlag vorzeitig Fakten schaffen und Taiwan sogar in nächster Zeit angreifen.



Doch hatten die nun als Stabilitätsmacht agierenden Vereinigten Staaten im südostasiatischen Raum zu Zeiten des Kalten Krieges nicht sogar Kriegsverbrechen begangen wie in Vietnam oder Kambodscha und dazu in Taiwan die Chiang-Kai-shek-Diktatur unterstützt? Wohl wahr, argumentiert Görlach – und weist auf die Entwicklung hin, die seitdem folgte. Während nämlich eine trotz allem intakte Öffentlichkeit in den USA dieses Geschehen nicht totschwieg, entwickelte sich Taiwan von einem autoritären System zu einer auch wirtschaftlich prosperierenden Vorzeige­demokratie, in der Menschen- und Minderheitenrechte den gleichen Stellenwert einnehmen wie etwa Umweltthemen. Das einstige, oft nationalistisch-xenophob missbrauchte Narrativ „Wir und die Anderen“ habe damit endgültig seine Plausibilität verloren, gehe es doch mitnichten um Ost versus West, sondern um Demokratie ­gegen Diktatur.



„Parteichef Xi sagt zwar, dass Chinesen aufgrund ihrer konfuzianischen Disposition keine Demokraten sein könnten, aber das ist natürlich Unsinn und reine Propaganda. Das ist nur einer der vielen Belege dafür, dass Diktatoren sich nur mit einer ,Wir gegen sie‘-Ideologie an der Macht halten können. Demgegenüber ist die liberale Weltordnung etwas Neues, nie Dagewesenes. Diese neue Ordnung basiert nicht auf der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Ethnie, Kultur oder Religion.“



So gesehen wird in Taiwan durchaus ein neues Weltethos verteidigt – was Festland­chinas stetig wachsende Aggressivität mit erklärt. Bleibt zu hoffen, dass die westliche Öffentlichkeit genau dies noch stärker wahrzunehmen beginnt – und dass die Sorge um unterbrochene Handelsrouten Peking (zumindest vorerst) davon abhält, Taiwan zu überfallen.

 

Christian Geinitz: Chinas Griff nach dem Westen. Wie sich Peking in unsere Wirtschaft einkauft. München: C.H. Beck 2022. 381 Seiten, 18,00 Euro

Philipp Mattheis: Ein Volk verschwindet. Wie wir China beim Völkermord an den Uiguren zuschauen. Berlin: Christoph Links Verlag 2022. 205 Seiten, 18,00 Euro

Helwig Schmidt-Glintzer: Der Edle und der Ochse. Chinas Eliten und ihr moralischer Kompass. Berlin: Matthes & Seitz 2022. 125 Seiten, 14,00 Euro

Alexander Görlach: Alarmstufe Rot. Wie Chinas aggressive Außenpolitik im Pazifik in einen globalen Krieg führt. Hamburg: Hoffmann und Campe 2022. 240 Seiten, 24,00 Euro

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2022, S. 120-123

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Mehr von den Autoren

Marko Martin lebt als Schriftsteller in Berlin. Zuletzt erschien sein literarisches Tagebuch „Die letzten Tage von Hongkong“ (Tropen Verlag).

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